Ji Rina
Mitglied
Es war Samstagabend, irgendwann mitten im Sommer, und ich ging gerade über unseren Dorfplatz, als mir sofort zwei Typen auffielen, die dort neben ihren Rucksäcken auf einer Bank saßen. Mein Gott, wie sahen sie aus –, zerlumpte Kleider, Dreitagebart, lange, filzige Haare bis auf die Schultern. Sie sahen aus, als seien sie um die halbe Welt getrampt. Ich hatte an dem Abend nichts Besonderes vor, es war einer dieser Abende, an denen man sich einfach irgendwo hintreiben ließ, weil die Überraschungen sowieso an jeder Ecke warteten. Was ich tat, tut heute kein Mensch mehr, aber damals … Das waren die achtziger Jahre, und da tat es jeder: Ich ging also schnurstracks auf sie zu, setzte mich einfach neben sie und fragte, woher sie kämen. Einer von ihnen war der Sprecher und ergriff sofort das Wort, sagte, dass sie aus Paris kämen und sie hier irgendwie durch Zufall gelandet seien. Und der andere –, oh Gott, der andere –, wie sah er aus: ganz warme sanfte Augen, braune schulterlange Locken und dieser Blick … Wie ein Reh sah er aus, scheu und zart, er sagte nichts, sondern lächelte mich nur an.
Mir fiel auf, dass der Sprecher einen verbundenen Fuß hatte, mit Gips und so, einen ganzen Klumpen trug er da mit sich herum, und als ich danach fragte, gab er mir eine endlose Erklärung, von der ich kaum etwas verstand, weil ich nicht genug Französisch spreche. Dieser Klumpfuß hatte wohl etwas mit einem Unfall zu tun, irgendetwas mit einem Auto und einem Motorrad an einer Kreuzung im Zentrum von Paris. Ich hörte ihm aufmerksam zu, während mein Blick sich jedoch immer wieder auf den anderen richtete, auf dieses zarte Reh, der nur lächelte, mich ansah und stumm blieb. Einmal gab er mir Feuer, und allein das Erspüren seiner Hand in der Nähe meiner Hand ließ ganze Bildbände in meinem Kopf entstehen, von wilden Nächten und Leidenschaft und Romantik. Er hatte so schöne Augen, und an seinem Handgelenk hingen viele kleine Bändchen aus Leder. Er war durch und durch ein Hippie. Oh, mir war so schwach ums Herz …
Der Sprecher fragte, ob ich denn nicht wüsste, wo sie übernachten könnten. Ich sah ihn grinsend an. Na klar wusste ich es. In so einem Dorf wie diesem, und dann noch in den achtziger Jahren, da teilte man alles mit jedem. Die Leute teilten ihre Wohnungen, ihre Autos, ihre Freundinnen, ihre Männer, die Betten, die Kleidung, die Joints; hauptsächlich Schlafplätze wurden gern rumgereicht, sie waren sehr gefragt, und man gab sie gern. Ich überlegte kurz, zu wem ich wohl gehen könnte, und sagte, dass sie einen Augenblick auf mich warten sollten. Dann lief ich zu Anna, um mir den Schlüssel dieser Wohnung in der Nähe des Hafens zu holen. Ich erinnerte mich, dass diese Wohnung direkt zwischen zwei Kneipen vor der Hafenhalle lag und dass die meisten von uns diese Wohnungsschlüssel schon einmal besessen hatten. An jenem Abend konnte ich mich nicht mehr genau erinnern, ob auch ich diese Schlüssel schon einmal besessen hatte, aber das war ja auch nicht wichtig. Ich hatte auch keine Ahnung, wer der Besitzer dieser Wohnung war, aber Anna besaß die Schlüssel, und das wusste jeder.
»Sind die auch okay?«, fragte sie mich, nachdem ich ihr meine Geschichte erzählte: Arme Franzosen aus Paris, mit ‘nem Gipsfuß und so, schlimmer Unfall, gute Kumpel, mit nix in der Tasche …»Ich hab da nämlich ’n ziemlich teuren Mantel im Eingang hängen, nicht dass der dann futsch ist?«
Ich beruhigte sie und klopfte ihr auf die Schulter, sei doch nur für eine Nacht, sagte ich, nahm daraufhin die Schlüssel und lief zurück.
Die beiden Typen saßen noch genau an derselben Stelle, ich lachte schon von Weitem und klimperte mit den Schlüsseln in der Luft herum, wobei sie beide verlegen wirkten, sich aber auch freuten. Dann machten wir uns auf den Weg. Der mit dem Gipsfuß ging am Stock; er humpelte so stark, dass wir sehr langsam gehen mussten.
Er redete ständig auf mich ein, und ich denke, dass er sich für meine Mühe bedanken wollte, denn er schüttelte immerzu den Kopf, und sagte: »Incredible … c’est incredible …« Wobei er dann mit einem breiten Lächeln hinzufügte: »Merci! Merci beaucup!«
Alles, was ich dazu sagte, war: »C’est normal!« Auf jeden Satz, den er sagte, antwortete ich: »Eh bien oui, c’est normal!«
Diesen Satz hatte ich bereits tausendmal unter den französischen Touristen gehört, und er klang unheimlich gut, halt sehr französisch.
Als wir in der Wohnung ankamen, ich das Licht anknipste und auf die zwei armseligen Laken und deckenlosen Matratzen blickte, hatte ich meinen Kopf schon längst voller Pläne. Ich würde die beiden am nächsten Morgen zum Frühstück einladen; sie dann aufs Land, bis zu Corkis Haus schleppen, wo wir eine Session Blues spielen würden – wir könnten das ganze in Corkis Garten unter dem Feigenbaum durchziehen und da dann auch zu Mittag essen. Corki hatte sein Haus immer voller Leute. Irgendwelche Freunde, die kochten, andere, die zusammensaßen und Musik machten und wiederum andere, die ihre Geschichten erzählten –, da langweilte man sich nie. Und der Zarte, das Reh … Oh, ich hatte ihn keineswegs vergessen. Ihm würde ich irgendein ganz besonderes Lied widmen, irgendwas wie »You’ve got a friend« von James Taylor oder so, und ihm dabei ganz tief in die Augen blicken, so tief und so lange, bis er verstehen würde, wie der Hase läuft.
Ich versuchte also, mich mit Händen und Füßen verständlich zu machen, und sagte: »Demain, moi ici, a le dix au matin. Petit dijeuner. Croissant. Cafe. Vous compris?«
Und da beide mich mit strahlenden Augen anlachten und mit dem Kopf nickten, wusste ich, dass sie mich verstanden hatten. Ganz besonders der Zarte, das stumme Reh, lächelte mich in einer so verflucht unwiderstehlichen Art an, wie es nur Komplizen tun.
Am nächsten Morgen konnte ich nicht schnell genug am Hafen sein. Als ich ankam, stand die Wohnungstür weit offen. Ich ging rein und war nicht einmal überrascht: Natürlich waren sie nicht mehr da. Keine Rucksäcke, kein Zettel, kein Zeichen. Der Mantel war natürlich weg, so auch ein elektrischer Wecker, ein Kassettenrekorder und sämtliche Kassetten. Sogar die Papierbecher aus der Küche hatten sie mitgenommen. Ein paar Minuten stand ich einfach nur da und blickte auf die herumfliegenden Zigarettenstummel und leeren Bierdosen.
Dann schloss ich die Tür wieder sorgfältig zu, und machte mich auf den Weg zu Anna. Und dabei wurde mir klar, was sie alles verpasst hatten: ein üppiges Frühstück im Café, eine Blues-Session auf dem Land, ein Mittagessen unter Corkis Feigenbaum und wer weiß, was noch alles gekommen wäre. Mit dem stummen Reh jedenfalls hatte ich die Liebe meines Lebens verpasst.
Mir fiel auf, dass der Sprecher einen verbundenen Fuß hatte, mit Gips und so, einen ganzen Klumpen trug er da mit sich herum, und als ich danach fragte, gab er mir eine endlose Erklärung, von der ich kaum etwas verstand, weil ich nicht genug Französisch spreche. Dieser Klumpfuß hatte wohl etwas mit einem Unfall zu tun, irgendetwas mit einem Auto und einem Motorrad an einer Kreuzung im Zentrum von Paris. Ich hörte ihm aufmerksam zu, während mein Blick sich jedoch immer wieder auf den anderen richtete, auf dieses zarte Reh, der nur lächelte, mich ansah und stumm blieb. Einmal gab er mir Feuer, und allein das Erspüren seiner Hand in der Nähe meiner Hand ließ ganze Bildbände in meinem Kopf entstehen, von wilden Nächten und Leidenschaft und Romantik. Er hatte so schöne Augen, und an seinem Handgelenk hingen viele kleine Bändchen aus Leder. Er war durch und durch ein Hippie. Oh, mir war so schwach ums Herz …
Der Sprecher fragte, ob ich denn nicht wüsste, wo sie übernachten könnten. Ich sah ihn grinsend an. Na klar wusste ich es. In so einem Dorf wie diesem, und dann noch in den achtziger Jahren, da teilte man alles mit jedem. Die Leute teilten ihre Wohnungen, ihre Autos, ihre Freundinnen, ihre Männer, die Betten, die Kleidung, die Joints; hauptsächlich Schlafplätze wurden gern rumgereicht, sie waren sehr gefragt, und man gab sie gern. Ich überlegte kurz, zu wem ich wohl gehen könnte, und sagte, dass sie einen Augenblick auf mich warten sollten. Dann lief ich zu Anna, um mir den Schlüssel dieser Wohnung in der Nähe des Hafens zu holen. Ich erinnerte mich, dass diese Wohnung direkt zwischen zwei Kneipen vor der Hafenhalle lag und dass die meisten von uns diese Wohnungsschlüssel schon einmal besessen hatten. An jenem Abend konnte ich mich nicht mehr genau erinnern, ob auch ich diese Schlüssel schon einmal besessen hatte, aber das war ja auch nicht wichtig. Ich hatte auch keine Ahnung, wer der Besitzer dieser Wohnung war, aber Anna besaß die Schlüssel, und das wusste jeder.
»Sind die auch okay?«, fragte sie mich, nachdem ich ihr meine Geschichte erzählte: Arme Franzosen aus Paris, mit ‘nem Gipsfuß und so, schlimmer Unfall, gute Kumpel, mit nix in der Tasche …»Ich hab da nämlich ’n ziemlich teuren Mantel im Eingang hängen, nicht dass der dann futsch ist?«
Ich beruhigte sie und klopfte ihr auf die Schulter, sei doch nur für eine Nacht, sagte ich, nahm daraufhin die Schlüssel und lief zurück.
Die beiden Typen saßen noch genau an derselben Stelle, ich lachte schon von Weitem und klimperte mit den Schlüsseln in der Luft herum, wobei sie beide verlegen wirkten, sich aber auch freuten. Dann machten wir uns auf den Weg. Der mit dem Gipsfuß ging am Stock; er humpelte so stark, dass wir sehr langsam gehen mussten.
Er redete ständig auf mich ein, und ich denke, dass er sich für meine Mühe bedanken wollte, denn er schüttelte immerzu den Kopf, und sagte: »Incredible … c’est incredible …« Wobei er dann mit einem breiten Lächeln hinzufügte: »Merci! Merci beaucup!«
Alles, was ich dazu sagte, war: »C’est normal!« Auf jeden Satz, den er sagte, antwortete ich: »Eh bien oui, c’est normal!«
Diesen Satz hatte ich bereits tausendmal unter den französischen Touristen gehört, und er klang unheimlich gut, halt sehr französisch.
Als wir in der Wohnung ankamen, ich das Licht anknipste und auf die zwei armseligen Laken und deckenlosen Matratzen blickte, hatte ich meinen Kopf schon längst voller Pläne. Ich würde die beiden am nächsten Morgen zum Frühstück einladen; sie dann aufs Land, bis zu Corkis Haus schleppen, wo wir eine Session Blues spielen würden – wir könnten das ganze in Corkis Garten unter dem Feigenbaum durchziehen und da dann auch zu Mittag essen. Corki hatte sein Haus immer voller Leute. Irgendwelche Freunde, die kochten, andere, die zusammensaßen und Musik machten und wiederum andere, die ihre Geschichten erzählten –, da langweilte man sich nie. Und der Zarte, das Reh … Oh, ich hatte ihn keineswegs vergessen. Ihm würde ich irgendein ganz besonderes Lied widmen, irgendwas wie »You’ve got a friend« von James Taylor oder so, und ihm dabei ganz tief in die Augen blicken, so tief und so lange, bis er verstehen würde, wie der Hase läuft.
Ich versuchte also, mich mit Händen und Füßen verständlich zu machen, und sagte: »Demain, moi ici, a le dix au matin. Petit dijeuner. Croissant. Cafe. Vous compris?«
Und da beide mich mit strahlenden Augen anlachten und mit dem Kopf nickten, wusste ich, dass sie mich verstanden hatten. Ganz besonders der Zarte, das stumme Reh, lächelte mich in einer so verflucht unwiderstehlichen Art an, wie es nur Komplizen tun.
Am nächsten Morgen konnte ich nicht schnell genug am Hafen sein. Als ich ankam, stand die Wohnungstür weit offen. Ich ging rein und war nicht einmal überrascht: Natürlich waren sie nicht mehr da. Keine Rucksäcke, kein Zettel, kein Zeichen. Der Mantel war natürlich weg, so auch ein elektrischer Wecker, ein Kassettenrekorder und sämtliche Kassetten. Sogar die Papierbecher aus der Küche hatten sie mitgenommen. Ein paar Minuten stand ich einfach nur da und blickte auf die herumfliegenden Zigarettenstummel und leeren Bierdosen.
Dann schloss ich die Tür wieder sorgfältig zu, und machte mich auf den Weg zu Anna. Und dabei wurde mir klar, was sie alles verpasst hatten: ein üppiges Frühstück im Café, eine Blues-Session auf dem Land, ein Mittagessen unter Corkis Feigenbaum und wer weiß, was noch alles gekommen wäre. Mit dem stummen Reh jedenfalls hatte ich die Liebe meines Lebens verpasst.