Sand

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Sand



Es war zehn Uhr früh.
Früh, um an einem Samstag wach zu sein wach zu sein.
Jedenfalls für Kais Verhältnisse.
Trotzdem war er jetzt hell wach, mit weit aufgerissenen Augen und atmete schwer.
Er hatte sich mit einem Freund getroffen um zu laufen.
Naja, einem Freund ist so nicht richtig. Er hatte sich mit Lucas getroffen, den er schon sehr lange kannte.
Eigentlich schon immer.
Jetzt aber standen sie beide perplex vor einem großen Tor und waren komplett umhüllt von Nebel.
\"Was ist das?\", fragte Kai, und kam sich bei der Frage ziemlich dumm vor.
\"Wirklich...Keine Ahnung. Der Weg den wir laufen wollten führt einfach geradeaus über Schotterweg.
Jetzt stehen wir plötzlich auf Wiese und man kann keinen Meter weit sehen. Wir haben uns vermutlich irgendwo verlaufen.\"
Der Nebel war ziemlich plötzlich heraufgezogen, so, dass sie ihn erst bemerkten, als sie bereits keine Zehn Meter weit mehr
Und gesprochen hatten sie erst, als es wegen dem Tor offensichtlich war, das sie vom Weg abgekommen waren.
Ihr Hindernis war nicht wirklich prunkvoll, aber es wirkte wichtig. Schwer, massiv.
steinernd, mit Verzierungen an den Rändern.
Ironischerweise war es aber wirklich nur ein Tor, keine Mauern drum herum und kein Graben, sodass man ohne weitere außen herum
gehen konnte.
Als Kai selbiges Tat um es zu inspizieren, merkte er, dass es aus dem Blickfeld verschwand, sobald man daran vorbeiging.
Man konnte es nur sehen, wenn man direkt davor stand.
\"Wow.....Das ist.....wow.\"
\"Was ist hier los?\"
\"Meinst du...wir sollen es öffnen?\", fragte Lucas zaghaft.
\"Weiß nicht, vielleicht? Wir kommen hier sowieso erstmal nicht mehr weg bei diesem Nebel.
Ich hab keine Ahnung wo wir sind. Mein Handy hat keine Verbindung zu irgendwas, das kann nicht sein.\"
\"Normalerweise hat man auf der Laufstrecke Verbindung... Aber gut....Dann...Mach ich es mal auf.\"

Lucas ging ein paar Schritte auf das Tor zu, hielt aber inne, als seine Hand aber nur noch ein paar Centimeter entfernt war.
\"Alter...Es vibriert. Ich spüre was, wenn ich dem Ding nahe komme. Fast so als würde es unter Strom stehen.\"
\"Wir sollten einfach abhauen. Seien wir mal ganz rational jetzt, das hier ist ziemlich beunruhigend und seltsam.
Aber wenn wir in die andere Richtung laufen, dann kommen wir nach spätestens einem Kilometer irgendwo raus, sei es in der Stadt oder
an der Hauptstraße oder sonstwo. Wer weiß was das Teil ist, vielleicht hast du recht, und es steht wirklich unter Strom.\"
Lucas musterte das Tor.
\"Ich will hier nicht einfach weggehen. Ich will wissen was das ist und ich will wissen, was dahinter ist.\"
\"Naaa ... dann....mach es auf.\"

Kai war ebenfalls interessiert, was sich hinter dem Tor befindet. Aber er war vorsichtig.
Er selbst hätte es nicht geöffnet, aber wenn Lucas unbedingt wollte.....
Als er sah, wie sein bester Freund vor Angst zitterte, immer wieder tief einatmete und sich dem Tor im Zeitlupentempo nährte, sah er sich allerdings in der Pflicht.
\"Hey. Warte. Wir machen das zusammen.\"
Kai brauchte sich weit weniger zu überwinden um in die Nähe des Tors zu kommen.
Er spürte ein Kribbeln, aber das Ding war aus Stein. Was sollte schon passieren?
Sie berührten zeitgleich die beiden Flügel des Tores.
Kai begann Dinge zu sehen.
Dinge, die er nicht verstand, die ihm Angst machten, die so seltsam waren, dass er sie nicht einmal beschreiben konnte.
Es liebte es, bis er jäh aus dieser Extase zurückgeworfen und auf den Boden geschleudert wurde, mit samt seinem Freund.

\"Oh mein Gott, was war das?\", rief Kai. \"Wir hätten wirklich gehen...\"
Als er sich aufrappelt hatte, verstummte er erstaunt.
Das Tor war geöffnet, und man konnte nicht hindurch sehen.
Es war lediglich Finsternis dahinter. Absolutes schwarz.
Obwohl man eigentlich ein Stück des Weges oder wenigstens das nebelige Weiß ihrer Umgebung hätte sehen sollen.
\"Das ist so abgespaced...Hast du.....Das auch gesehen?\"
\"Lucas, lass uns gehen.\", bat Kai, der jetzt langsam in Panik geriet.
Bevor Lucas allerdings antworten konnte, hörten sie plötzlich ein lautes Summen, und danach Stille.
Eigentlich war es schon vorher still gewesen, jetzt wo Kai darüber nachdachte.
Man hörte keine Vögel, keine Autos, nichts, keine Geräusche außer die, die sie selbst machten.
Etwas hatte sich aber verändert. In der Finsternis des Tores standen Schriftzeichen, schimmernd in allen Farben.

\"DIESES TOR FÜHRT INS CHAOS. SEID IHR BEREIT?\"

Sie schwiegen für einen Moment.
Es gab jetzt keinen Zweifel mehr.
Keine Gameshow, keine rationale Erklärung, keine Ausflucht.
Das Ding war echt und es war etwas, was sie beide nicht verstanden.
Kai begann langsam.
\"Das weiß nicht, was das ist. Aber ...wir können da nicht durchgehen.\"
Lucas schwieg, sein Freund schaute ihn entsetzt an.
\"Das willst du nicht wirklich machen? Du hast keine Ahnung, was das für ein Ding ist.\"
\"Nein. Aber wie sollen wir hier anders rauskommen? Ich weiß nicht, wo wir sind, aber ich weiß, dass wir
nicht mehr so einfach hier wegkommen.\"
Das Summen ertönte wieder, dann standen neue Buchstaben in der Finsternis.

\"IHR KÖNNT JEDERZEIT GEHEN. LASST DAS TOR HINTER EUCH UND DER NEBEL VERSCHWINDET.\"

\"Lass uns weitergehen.\"
\"Willst du nicht wissen, was dieses Ding ist?\"
\"Doch, aber nicht mit diesem Risiko.\"
\"Warum? Was hast du zu verlieren?\"
\"Ich kann nicht einfach abhauen. Wenn dieses Ding wirklich ein Tor...wohinauchimmer ist, wie soll ich wieder zurückkommen?\"
\"Willst du das denn?\"
\"Was ist das für eine Frage? Meinst du ich kann hier einfach abhauen? Wortlos verschwinden, ohne dass irgendwer weiß, wo ich bin?
Das kann ich nicht machen. Und was ist mit dir? Du bist derjeniege von uns, der dauernd früh morgens aufsteht um zu laufen.
Du stellst dir immer vor, was für Karriere du machen willst und willst den Weltverbesserer spielen. Und jetzt
willst du die ganze Welt hinwerfen?\"
\"......Ja.\"

Kai wurde wütend.
\"Ich fass einfach nicht wie egoistisch du sein kannst.\"
Lucas schaute ihn entrüstet an.
\"Warum bin ich egoistisch?\"
\"Du weißt genau, dass ich nicht gehen kann. Du weißt, dass ich Verpflichtungen hab, ich kann nicht einfach weglaufen.
Und du willst mich allein lassen?\"
\"Nein...\"
\"Was ist mit \'Oh, ich bin so politisch und sozialkritisch und mir ist Freundschaft so wichtig\' ?
Alles Fassade dafür, dass du eigentlich aus deinem Leben raus willst, weil du damit nicht klar kommst? Komm schon!\"

Lucas dachte nach, und setzte sich.
\"Weißt du, ja. Ich glaube schon. Diese Welt ist beschissen.
Ich mein, ich hätte mich darauf eingelassen. Ich wollte was erreichen und alles, aber... Jetzt habe ich vielleicht die Chance, irgendwohin zu kommen.
Irgendwo, wo ich eher zu Hause bin.\"
\"Tja, und ich darf mich dann um alles kümmern. Wie immer.
Allen erklären wo du abgeblieben bist, mein Leben leben, mich um alles kümmern, arbeiten. Toll\"
\"Nein.....Komm mit mir mit.\"
\"Jetzt hör mal! Ich hab dir gesagt ich kann es nicht und DU WEIßT ES!\"
\"Achja? Dann sag mir nicht ich soll ehrlich zu mir selbst sein.
Du redest dir doch gerade selber ein, dass du nicht kannst.
Du willst mehr durch dieses Ding da durchgehen als ich.
Dich kotzt das ganze hier doch noch viel mehr an als mich.
Als hättest du je irgendwelche Verpflichtungen wahrgenommen.
Du hängst bis morgens rum und guckst dir irgendwelche Filme an und pennst dann bis abends anstatt...IRGENDWAS zu tun.
Dann bist du halt nicht mehr da, klar ist das schwer für ein paar Leute, aber für dich ist es gut, und alle anderen werden sich dran gewöhnen...\"

Lucas macht eine kurze Pause, dann fuhrt er fort: \"Tut mir Leid, sowas darf ich nicht sagen.
Natürlich werden sich deine Eltern nicht einfach daran gewöhnen...
Aber tu einfach nicht so, als würdest du mich nicht verstehen können!\"
Jetzt war es Kai, der nachdachte und sich hinsetzte.
\"Okay, alles klar. Ich geb\'s zu, ich verstehe dich.
Ich verstehe, dass du deine Freundin, deine Eltern und alles andere hinschmeisst um da durch zu gehen.
Kein Sarkasmus, das verstehe ich wirklich.
Aber sei auch du ehrlich. Du willst, dass ich mitkomme, weil du Angst hast.
So war das schon immer, oder?
Früher dachte ich immer, ich wäre dir nur hinterhergedackelt.
Aber du hast mich andersrum genauso gebraucht, oder? Einen, der mitkommt.\"

\"Lass uns bitte nicht streiten. Du bist mein bester Freund. Du bist wie ein Bruder für mich, Kai.\"
Kais Ärger war verflogen, jetzt war er traurig.
\".....Sag doch nicht sowas kitschiges... Du auch.\"

\"Bitte komm mit. Ich brauch dich jetzt. Du hast ja Recht.\"
\"Ich kann nicht.\"
\"BITTE. Komm mit.\"
Eine Träne rollte von seinem Gesicht.
Wie schnell sich Gefühle ändern können, dachte Kai, vor ein paar Minuten waren sie beide ruhig, wenn auch etwas verwirrt.
Jetzt heulte Lucas, und er hatte verdammt viel Angst.
Denn so hatte Kai ihn noch nie gesehen.
Lucas war immer die extrovertierte Frohnatur, und er war immer der schüchterne Junge im Hintergrund.
Daran hat sich auch nicht viel geändert, seit sie erwachsen sind.
Sie hatten trotzdem immer aneinander gehangen.
Lucas hatte mit irgendwas angefangen, Kai hatte sich darum gekümmert, dass alles funktionierte.
Kai hatte immer irgendwie zu ihm aufgeblickt, weil Lucas einfach alles besser zu können schien als er.
Er hatte Erfolg bei Frauen, ohne ein Macho zu sein.
Er kam immer irgendwie durch\'s Leben, ohne den Spaß zu vernachlässigen.
Er war immer kompetent bei den Sachen die er gemacht hat, ohne pedantisch oder herablassend zu sein.

Jetzt sah Kai seinen besten Freund gebrochen vor sich und um Hilfe bettelnd, weil er vor seinem Leben davonlaufen wollte und allein dafür zu feige war.
\"Lucas. Das ist eine Entscheidung die du ganz alleine treffen musst. Und wenn du sie getroffen hast, dann wirst du diesen Weg auch alleine gehen müssen.
Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich bin nicht besonders gut in meinem Leben, aber ich werde nicht davor weglaufen.\"
Sein Freund schluchzte, und auch Kai merkte, wie ihm die Tränen kamen.
Wird das ein Abschied?

\"Ich...Ich kann das nicht allein...Bitte...\"
\"Hey, jetzt hör mir zu.\"
Wo kam das jetzt her? Kai wusste nichtmal, was er sagen wollte. Er fühlte nur, dass er jetzt etwas sagen musste, also sprach er einfach drauf los.
\"Willst du wirklich hier weg? Wünschst du dir wirklich woanders zu sein, auch wenn du nicht weißt, wo das ist?\"
Er rutschte näher an Lucas heran, und beide schauten in die Finsternis des Tores hinein, auf dem jetzt nur noch \'BIST DU BEREIT?\' zu lesen war.
Minuten lang Stille, kein Geräusch, außer gelegentlichem Schluchzen.
\"Ja.\"
\"Dann hast du auch deine Entscheidung getroffen.\"
Kai fasste ihn an der Schulter und lächelte.
\"Wenn du das wirklich willst, dann musst du gehen.
Ich verspreche dir, ich werde mich um alles kümmern, um deine Freundin, deine Eltern und so.
Keine Ahnung was ich denen sage, aber ich lass mir irgendwas einfallen.\"
\"Aber...\"
\"Doch das kannst du. Du hast die Energie dazu. Du hast immer die Sachen gemacht, die du machen wolltest.
Und ich will, dass du glücklich bist. Wenn du das willst, lass dich durch nichts davon abhalten.
Dann mach es, mit mir oder ohne mich.\"
Es gab noch Sachen, die sie sagen wollten.
Eine ganze Menge sogar.
\"Verzeihst du mir, dass ich gehe?\"
\"Verzeihst du mir, dass ich bleibe?\"
Sie wollten noch ein paar Geschichten von früher erzählen, ihre Freundschaft im Zeitraffer durchlaufen lassen.
Aber sie wussten beide, dass sie das nicht tun konnten.
Hätten sie es getan, dann hätte weder Lucas gehen noch Kai bleiben können.
Es sollte passieren, was passieren musste, und das musste jetzt sein.
Deswegen standen sie beide auf mit Tränen in den Augen und umarmten sich.
\"Du schaffst das. Mach mir keine Schande da drüben.\"
\"Du auch......Und danke. Wenn ich kann, dann......Meld ich mich.\"
\"Das werden wir sehen.......Pass auf dich auf, okay?\"
\"Ja....Du auch.\"
Zum Abschluss gaben sich beide die Faust.
Einerseits vielleicht unangemessen für die Situation, andererseits haben sie das immer so gemacht,
und dieses mal könnte es das letzte mal sein.
Beide wurden sich dem bewusst, und schauten sich an, bis sie beide die Reissleine zogen, zusammen etwas riefen,
was ein Gemisch aus \"Viel Glück\" und \"Bis dann\" wurde, und in unterschiedliche Richtungen sprinteten.


Kai rannte, bis er nicht mehr konnte, ohne auch nur einmal zurückzublicken.
Erst als er sich auf den Boden fallen ließ und auf dem Rücken liegen blieb, wurde ihm klar, dass der Nebel verschwunden war und
er sich wieder auf der Laufstrecke befand. Jetzt war es aber bereits später Nachmittag.
Hin und hergerissen zwischen Schuldgefühlen, Selbstmitleid und Angst blieb er eine lange Zeit einfach liegen und scherte sich nicht um all
die anderen Läufer, die Vorbeikamen.
Durfte er ihn einfach so gehen lassen? Verdammt, er wusste nicht einmal, was das für ein Ding war.
Vielleicht war es eine Falle? Was er gesehen hatte...würde Lucas damit fertig werden?
Würde es einsam sein ohne Lucas?
Was sollte er denn nun seiner Freundin und seinen Eltern sagen?

Er blieb reglos liegen.
Läufer kamen nicht mehr, erst wurde es kälter, dann wurde es dunkel
Und dann lächelte er.
Er musste darauf vertrauen, dass Lucas es schaffen wird. Lucas tat, ihn glücklich machte. Wenigstens in dem Moment,
als er durch das Tor ging.
Und er selbst würde sein Leben schon auf die Reihe bekommen.
Er hat sich dafür entschieden.
 



 
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