Ji Rina
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Moment Mal, irgendetwas stimmt hier nicht, denkt die Wahrsagerin und horcht. Entschlossen greift sie nach ihrem Stock, humpelt aus der Küche und begibt sich in ihr Arbeitszimmer.
Die Wände zittern. Schlagläden springen auf, Schränke und Vitrinen wackeln an den Wänden. Die Wahrsagerin versucht zu verstehen, was dort vor sich geht. Im Haus spukt es. Ein kalter Windzug zieht durch den Raum. Brennende Kerzen flackern auf und erlöschen. Sie hört ein seltsames Geräusch, wie ein Hämmern auf Eisen oder schleifende Ketten. Plötzlich sackt das Haus mit einem Ruck fünf Zentimeter in die Tiefe. Die Alte hält sich fest, blickt verstört auf die schief stehenden Schränke, sieht Dinge, die aus den Regalen rutschen: Bücher, Pendel und Fläschchen voller Essenzen. Glaskugeln fallen und zersplittern. Die Alte starrt an die Decke, sieht Risse, die sich wie Blitze durch die Wände ziehen, das Dach hängt schief. Weißer Rauch drängt durch Fugen, windet sich durch jede Ritze, strömt wie dichter Nebel ins Haus. Die Wahrsagerin – sie ist gerade fünfundachtzig geworden – rümpft die Nase und schnüffelt: Es riecht nach Opium und Lavendel.
»Was ist denn hier los?«, krächzt sie und wird umzingelt von einer Gruppe lachender Geister, die nach und nach sichtbar werden. Sie halten sich an den Händen, tanzen eine Tarantella und werden wieder zu Luft.
Die Wahrsagerin schüttelt den Kopf, sie humpelt zur Tür und verlässt das Zimmer. Verwirrt scheint sie, jedoch nicht überrascht. Sie stützt sich an den Wänden ab und blickt müde auf den Flur, der ihr jetzt wie ein endloser Tunnel vorkommt. Dunkle, noch nie gesehene Wendeltreppen führen in die Tiefe. Es riecht nach feuchter Erde und Vergangenheit. Knarrende Türen springen auf, geben Einblick in dunkle Kellerräume, aus denen chorähnliche Stimmen erklingen. Die Alte bleibt stehen, schiebt das Kinn vor und erblickt ein Mädchen in einem weißen Kleid.
Sie strahlt die Alte freudig an, hüpft dabei von einem Fuß auf den anderen und fragt mit lebhafter Stimme: »Sind Sie auch schon lange hier?«
Die Alte blickt an ihr vorbei; ihre Augen sind zwei schmale Schlitze, die Mundwinkel tiefe Gräben; sie sieht den endlosen Flur, dunkel, feucht und unheimlich. Das Mädchen ist plötzlich verschwunden, die fröhliche Stimme aber hallt noch immer in ihren Ohren. Sie humpelt langsam weiter, bleibt neben geöffneten Türen stehen und sieht Hunderte von Menschen, die dort im Gewölbe hocken. Einige drehen die Köpfe und blicken sie fragend an, andere tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, stehen sie auf, und kommen langsam auf sie zu.
Die Alte macht kehrt, humpelt so schnell sie kann zurück Richtung Küche und öffnet die Tür zur Veranda.
Draußen tobt ein Sturm.
Der Wind reißt ihr die Tür aus den Händen.
An jenem Abend gehen in Süditalien zahlreiche Liebespaare auseinander. Sie steigen aus ihren Betten, würdigen sich keines Blickes und fliehen in die Dunkelheit. Geheilte Menschen werden plötzlich wieder krank: Wunden beginnen zu eitern, Nähte platzen auf, komplizierte Eingriffe erzeugen keine Wirkung. Fido, der verloren gegangene Hund des Don Scalabrini, macht nach zweihundert Kilometern plötzlich wieder kehrt. Kurz vor seinem Haus rennt er zurück in die Berge. Der Künstler auf der Bühne blickt verloren in die Menge. Mitten im Text hält er inne und weiß nicht weiter. Zehntausend Zuschauer starren ihn verwundert an. Ihm fällt auf, dass er seinen Talisman verloren hat. Er sucht nach Worten, stottert irgendein unverständliches Zeug und pinkelt sich dabei in die Hose. Jupiter ist sauer auf Neptun. Uranus steht auf zweiundzwanzig Grad in der Waage. Der Mond will endlich zur Sonne. Engel haben die Nase gestrichen voll und wollen auch mal böse sein.
Die Alte kraxelt mühsam die Treppe der Veranda herunter und humpelt bis zum Strand. Unter ihrem Arm trägt sie den fünfzig Jahre alten Klappstuhl, der bereits ihren Vorfahren aus Cefalú gehörte. Verwundert bleibt sie stehen und blickt aufs Meer. Der Sturm hat sich gelegt, das Wasser ist jetzt aus schwarzgrünem Samt. Hier und da taucht plätschernd ein Fisch in die Höhe und lächelt. Der Mond ist eine überdimensionale Sichel, so groß wie die gesamte Bucht, er hängt tief über den Klippen und droht herunterzukrachen. Am Horizont blitzt ein roter Stern. Die Alte klappt mühsam den Stuhl auf und setzt sich hinein. Sie faltet die Hände auf dem Schoß und schließt die Augen.
Sie wartet … und zählt … neun, acht, sieben, sechs, fünf …
Auf den Abruf.
Auf den Tod.
Auf das Nichts.
Ihre Gesichtshaut beginnt sich zu straffen. Von der Nasenwurzel über die Stirn, von den Lippen bis zum Kinn und dann seitlich hinauf zu den Ohren. Ihre Gesichtshaut ist so straff, dass sie keine einzige Falte, ja, nicht mal mehr ein Fältchen hat. Doch dann platzt die Haut plötzlich auf … Pfft … Pfft … Pfft … Es entstehen kleine Risse, wie auf einem ausgetrockneten Wüstenboden.
Das Glas ihrer Augen zerspringt, und das Geräusch, das es dabei erzeugt, erinnert an eine Hand voller Murmeln: Klick, Klick, Klick. Kleine, grüne, splitterige Glasstückchen stecken fest in ihren Augenhöhlen.
Glastränen rutschen auf ihre Brust und plumpsen auf den Schoß. Aus ihren Mundwinkeln fließt Sand, feiner staubiger Sand. Langsam, wie in einer Sanduhr, rieselt er hinab auf ihr Kleid und von dort auf ihre Schuhe. Ihre Haare lösen sich langsam von der Kopfhaut. Eins nach dem anderen segeln sie herab, dann wieder hinauf, verfangen sich im Wind und fliegen davon.
Ihr Kopf knickt ein. Das Gesicht, wie ein Luftballon, dem die Luft entweicht, neigt sich sanft zur Seite.
Am Horizont wechselt ein Schiff seine Richtung.
Der rote Stern fällt ins Meer.
Der Körper der Alten beginnt zu brechen. Ruckweise und mit einem seltsamen Geräusch: krack, krack, krack. Ganz sanft, Zentimeter um Zentimeter. Zuerst der Brustkorb, dann die Arme und dann die Beine. Schneeweiße Knöchelchen brechen auseinander und fallen in sich zusammen. Ihr Kleid schrumpft, so als habe es Feuer gefangen. Und schließlich fliegt auch ihre Seele davon, mit der Eleganz eines Vogels, wie ein beschriebenes Blatt, auf dem nur eine einzige Zeile steht:
Bald komme ich wieder …
Die Zeile verschwimmt, doch das Blatt segelt weiter, verfängt sich in der Gischt.
Und zurück bleibt Nichts.
Nur die Ewigkeit …
Unter dem Klappstuhl: ein kleines Häufchen Sand.
Die Wände zittern. Schlagläden springen auf, Schränke und Vitrinen wackeln an den Wänden. Die Wahrsagerin versucht zu verstehen, was dort vor sich geht. Im Haus spukt es. Ein kalter Windzug zieht durch den Raum. Brennende Kerzen flackern auf und erlöschen. Sie hört ein seltsames Geräusch, wie ein Hämmern auf Eisen oder schleifende Ketten. Plötzlich sackt das Haus mit einem Ruck fünf Zentimeter in die Tiefe. Die Alte hält sich fest, blickt verstört auf die schief stehenden Schränke, sieht Dinge, die aus den Regalen rutschen: Bücher, Pendel und Fläschchen voller Essenzen. Glaskugeln fallen und zersplittern. Die Alte starrt an die Decke, sieht Risse, die sich wie Blitze durch die Wände ziehen, das Dach hängt schief. Weißer Rauch drängt durch Fugen, windet sich durch jede Ritze, strömt wie dichter Nebel ins Haus. Die Wahrsagerin – sie ist gerade fünfundachtzig geworden – rümpft die Nase und schnüffelt: Es riecht nach Opium und Lavendel.
»Was ist denn hier los?«, krächzt sie und wird umzingelt von einer Gruppe lachender Geister, die nach und nach sichtbar werden. Sie halten sich an den Händen, tanzen eine Tarantella und werden wieder zu Luft.
Die Wahrsagerin schüttelt den Kopf, sie humpelt zur Tür und verlässt das Zimmer. Verwirrt scheint sie, jedoch nicht überrascht. Sie stützt sich an den Wänden ab und blickt müde auf den Flur, der ihr jetzt wie ein endloser Tunnel vorkommt. Dunkle, noch nie gesehene Wendeltreppen führen in die Tiefe. Es riecht nach feuchter Erde und Vergangenheit. Knarrende Türen springen auf, geben Einblick in dunkle Kellerräume, aus denen chorähnliche Stimmen erklingen. Die Alte bleibt stehen, schiebt das Kinn vor und erblickt ein Mädchen in einem weißen Kleid.
Sie strahlt die Alte freudig an, hüpft dabei von einem Fuß auf den anderen und fragt mit lebhafter Stimme: »Sind Sie auch schon lange hier?«
Die Alte blickt an ihr vorbei; ihre Augen sind zwei schmale Schlitze, die Mundwinkel tiefe Gräben; sie sieht den endlosen Flur, dunkel, feucht und unheimlich. Das Mädchen ist plötzlich verschwunden, die fröhliche Stimme aber hallt noch immer in ihren Ohren. Sie humpelt langsam weiter, bleibt neben geöffneten Türen stehen und sieht Hunderte von Menschen, die dort im Gewölbe hocken. Einige drehen die Köpfe und blicken sie fragend an, andere tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, stehen sie auf, und kommen langsam auf sie zu.
Die Alte macht kehrt, humpelt so schnell sie kann zurück Richtung Küche und öffnet die Tür zur Veranda.
Draußen tobt ein Sturm.
Der Wind reißt ihr die Tür aus den Händen.
An jenem Abend gehen in Süditalien zahlreiche Liebespaare auseinander. Sie steigen aus ihren Betten, würdigen sich keines Blickes und fliehen in die Dunkelheit. Geheilte Menschen werden plötzlich wieder krank: Wunden beginnen zu eitern, Nähte platzen auf, komplizierte Eingriffe erzeugen keine Wirkung. Fido, der verloren gegangene Hund des Don Scalabrini, macht nach zweihundert Kilometern plötzlich wieder kehrt. Kurz vor seinem Haus rennt er zurück in die Berge. Der Künstler auf der Bühne blickt verloren in die Menge. Mitten im Text hält er inne und weiß nicht weiter. Zehntausend Zuschauer starren ihn verwundert an. Ihm fällt auf, dass er seinen Talisman verloren hat. Er sucht nach Worten, stottert irgendein unverständliches Zeug und pinkelt sich dabei in die Hose. Jupiter ist sauer auf Neptun. Uranus steht auf zweiundzwanzig Grad in der Waage. Der Mond will endlich zur Sonne. Engel haben die Nase gestrichen voll und wollen auch mal böse sein.
Die Alte kraxelt mühsam die Treppe der Veranda herunter und humpelt bis zum Strand. Unter ihrem Arm trägt sie den fünfzig Jahre alten Klappstuhl, der bereits ihren Vorfahren aus Cefalú gehörte. Verwundert bleibt sie stehen und blickt aufs Meer. Der Sturm hat sich gelegt, das Wasser ist jetzt aus schwarzgrünem Samt. Hier und da taucht plätschernd ein Fisch in die Höhe und lächelt. Der Mond ist eine überdimensionale Sichel, so groß wie die gesamte Bucht, er hängt tief über den Klippen und droht herunterzukrachen. Am Horizont blitzt ein roter Stern. Die Alte klappt mühsam den Stuhl auf und setzt sich hinein. Sie faltet die Hände auf dem Schoß und schließt die Augen.
Sie wartet … und zählt … neun, acht, sieben, sechs, fünf …
Auf den Abruf.
Auf den Tod.
Auf das Nichts.
Ihre Gesichtshaut beginnt sich zu straffen. Von der Nasenwurzel über die Stirn, von den Lippen bis zum Kinn und dann seitlich hinauf zu den Ohren. Ihre Gesichtshaut ist so straff, dass sie keine einzige Falte, ja, nicht mal mehr ein Fältchen hat. Doch dann platzt die Haut plötzlich auf … Pfft … Pfft … Pfft … Es entstehen kleine Risse, wie auf einem ausgetrockneten Wüstenboden.
Das Glas ihrer Augen zerspringt, und das Geräusch, das es dabei erzeugt, erinnert an eine Hand voller Murmeln: Klick, Klick, Klick. Kleine, grüne, splitterige Glasstückchen stecken fest in ihren Augenhöhlen.
Glastränen rutschen auf ihre Brust und plumpsen auf den Schoß. Aus ihren Mundwinkeln fließt Sand, feiner staubiger Sand. Langsam, wie in einer Sanduhr, rieselt er hinab auf ihr Kleid und von dort auf ihre Schuhe. Ihre Haare lösen sich langsam von der Kopfhaut. Eins nach dem anderen segeln sie herab, dann wieder hinauf, verfangen sich im Wind und fliegen davon.
Ihr Kopf knickt ein. Das Gesicht, wie ein Luftballon, dem die Luft entweicht, neigt sich sanft zur Seite.
Am Horizont wechselt ein Schiff seine Richtung.
Der rote Stern fällt ins Meer.
Der Körper der Alten beginnt zu brechen. Ruckweise und mit einem seltsamen Geräusch: krack, krack, krack. Ganz sanft, Zentimeter um Zentimeter. Zuerst der Brustkorb, dann die Arme und dann die Beine. Schneeweiße Knöchelchen brechen auseinander und fallen in sich zusammen. Ihr Kleid schrumpft, so als habe es Feuer gefangen. Und schließlich fliegt auch ihre Seele davon, mit der Eleganz eines Vogels, wie ein beschriebenes Blatt, auf dem nur eine einzige Zeile steht:
Bald komme ich wieder …
Die Zeile verschwimmt, doch das Blatt segelt weiter, verfängt sich in der Gischt.
Und zurück bleibt Nichts.
Nur die Ewigkeit …
Unter dem Klappstuhl: ein kleines Häufchen Sand.