Sand in den Augen

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Mazirian

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Zur Schreibaufgabe "Intelligenz"

Sand in den Augen

Die Beine des Käfers wirbelten wie kleine Rotoren über den Sand, trieben das Insekt über einen Strom gleitender Sandkörner langsam aber unbeirrbar nach oben. Manchmal bohrte sich der Körper in den nachrutschenden Sand, kam wieder frei, wurde zurückgeworfen, wechselte die Richtung, fand erneut Halt, und wieder begannen die Beinchen maschinenhaft zu wirbeln...

Esther Nagana musste die Augen schließen und wieder öffnen, um das Bild aus ihrer Erinnerung loszuwerden und die "Käfer" wieder als das zu sehen, was sie waren: Kolonnen kleiner Raupenfahrzeuge, die sich über die flachen Hänge der rechten Wange nach oben voranarbeiteten.
Das Camp lag in der Region Cydonia, direkt unter den Augen des großen Marsgesichts. Genauer gesagt, einige hundert Meter vor seinem rechten Ohr, im schützenden Ring eines kleinen Meteoritenkraters.
Ja, es war tatsächlich ein Gesicht. Zwar hatten die letzten Aufnahmen der unbemannten Sonden den Eindruck vermittelt, es handle sich um eine Laune der Natur, und man hatte dies den Grenzwissenschaftlern genüsslich aufs Brot geschmiert. Aber nachdem zwei der Teams seismologische Messungen angestellt hatten, sah die Sache wieder anders aus. Der Anschein des natürlichen Ursprungs kam lediglich durch eine meterdicke Sandschicht zustande und durch tiefe Sandauffüllungen im Profil des Gesichts. Unter diesem Sand aber lagen die bemerkenswert scharf gezeichneten Züge eines menschlichen Antlitzes.
Zweidellos war es die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, unbestritten. Aber einen frustrierenden Beigeschmack hatte die Sache dennoch: das Gesicht war ein Solitär. Die Pyramiden, Mauern, Gräben und Straßen, die man auf den ersten Fotos ebenfalls zu erkennen geglaubt hatte - es gab sie nicht. Sie waren tatsächlich Launen der Natur, optische Täuschungen, hervorgerufen durch die Unzulänglichkeit des Bildmaterials und der zur Auswertung eingesetzten Software.
Auch andere Artefakte hatte man bislang nicht gefunden. Nicht einen Stein, der auch nur entfernt Spuren von Bearbeitung aufwies. Nicht einen Knochen, der einen Hinweis auf die Gestalt der Erbauer gegeben hätte. Keine Metalltafeln, keine Steinritzungen - nichts. Das Gesicht lag so einsam und erratisch in der Cydonia-Ebene, als sei jemand hergekommen, habe es erbaut und sei wieder weggegangen.
Die einzigen greifbaren Ergebnisse, die man bisher vorweisen konnte, waren die exakten Abmessungen des Monuments. Selbst sein Alter war vorerst unbestimmbar, da die Eichskalen der Geologie in der fast wasserfreien Welt des Mars, in der nur Winderosion die Felsen formte, nicht ohne weiteres anwendbar waren. Dennoch zogen die Teams jeden Morgen wieder aus, um weiter zu suchen. Mit der frischen Hoffnung und den neuen Ideen einer durchgrübelten Nacht erkletterten sie die Hänge, siebten den Sand und schickten Sonden in den Boden.
Esther gehörte nicht zu diesen Teams. Eigentlich gehörte sie zu überhaupt keinem Team. Sie hatte ihre eigene kleine Entdeckung gemacht: so genannte "wandernde Steine". Faust- bis kopfgroße Felsbrocken, welche am Ende einer Spur lagen, die ganz so aussah, als seien diese Steine über lange Zeit hinweg und unendlich langsam dort entlang gerollt.
Auf der Erde kannte man ähnliche Erscheinungen. Im Tal des Todes etwa gab es eine Ebene, auf der man solche Steine entdeckt hatte. Freilich hatte man sie noch nie beim Wandern beobachtet. Aber dass sie sich bewegten ließ sich beweisen. Wenn man sich die Position eines Steins merkte und in einem Jahr wieder kam, war er unverkennbar ein paar Zentimeter weiter gewandert. Geologen hatten nach Erklärungen gesucht und vorgeschlagen, dass der oft sehr stürmische Wind für das Phänomen verantwortlich sei. Aber angesichts der Tatsache, dass in anderen Gegenden weit stärkere Stürme wüteten und die Steine dennoch brav liegen blieben, konnte von einer wirklichen Erklärung keine Rede sein.
Eigentlich hätte sie sich um die Untersuchung von Erosionsphänomenen kümmern sollen. Aber sie hatte Schermuly, den wissenschaftlichen Leiter davon überzeugen können, dass die Steine es verdienten, zwei oder drei Wochen der kostbaren Zeit für sie abzuzwacken - auch wenn er eigentlich den Verdacht hatte, dass jemand sich nur einen blöden Scherz erlaubt hatte.
Esther wusste es bereits besser. Sie war die erste, die die Senke entdeckt hatte, in der die Steine lagen. Und da waren schon Spuren vorhanden gewesen. Allerdings, das musste sie eingestehen, seit sie den Platz regelmäßig besuchte, schienen die Spuren schneller zu entstehen. Fast jeden Morgen fand sie ein paar frische. Die Bewegung der Steine selbst hatte sie allerdings noch nicht beobachten können. Über Nacht draußen bleiben konnte sie nicht - es war zu kalt und der Luftvorrat reichte nicht so lange. Und die automatische Kamera, die sie beantragt hatte, war noch nicht bewilligt worden.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung. Sie schaute hin und erkannte Seaforth, der neben sie getreten war. Unter den Reflexionen seines Helmvisiers erahnte sie sein breites schmallippiges Lächeln, das sie jeden Morgen begrüßte, wenn sie so unvorsichtig war, zu lange draußen stehenzubleiben. Sie hasste dieses Lächeln. Oh, es war nicht unattraktiv, eigentlich sogar unwiderstehlich, aber sie wusste, dass er das wusste, und dass er es einsetzte, wie er einen Schraubenzieher benutzen würde um Schrauben einzudrehen. Es war ihr nachgerade unerträglich, dass er sie für die Dauer der Expedition als "Schraube" ausersehen hatte. Und sie ließ es ihn spüren.
"Guten Morgen Prinzessin!" Auch das hasste sie und nicht nur, weil der Helmfunk seine Stimme verzerrte.
"Hallo", antwortete sie lasch. "Sollten Sie nicht bei den anderen auf dem 'Gesicht' sein?" die Frage war obsolet, aber sie stellte sie schon allein deswegen, um ihm eine zusätzliche Dosis abweisenden Tonfall zu verpassen.
Das Grinsen blieb wie eingraviert stehen.
"Ich habe frei heute, meine Sandraupe ist defekt", erklärte er. "Ich dachte, ich schau mal nach, ob ich Ihnen was helfen kann. Sie arbeiten doch hier in der Nähe und ich wollte mir Ihre Steine schon die ganze Zeit mal ansehen."
Esther verzog das Gesicht. Verbieten konnte sie es ihm schlecht. Und mit einem "Das würde Sie doch nur langweilen" würde sie auch nicht weiter kommen. Seaforth war wie sie Geologe, und er hatte auf einer renommierteren Universität promoviert. Wahrscheinlich war er sogar viel besser als sie.
Sie zuckte mit den Schultern
"Von mir aus". Sie griff nach ihrem Laborkoffer aber Seaforth war einen Tick schneller.
"Den nehm ich schon", sagte er fröhlich.
Es waren nur ein paar hundert Meter bis zu der kleinen Senke, in der Esther die Steine entdeckt hatte, aber wenn es ihm Spaß machte, sollte er in Gottes Namen den Koffer tragen und weiter Minuspunkte sammeln.
"Die Steine bewegen sich also?", fragte er, während sie nebeneinander her stapften.
"Ja, so ist es wohl."
"Und? Haben Sie schon eine Vermutung, woran es liegen könnte?"
"Nicht wirklich. Alle Vermutungen die ich hatte haben sich in Luft aufgelöst. Ich fürchte fast, unsere Zeit auf dem Mars wird nicht ausreichen, es herauszufinden."
"Das täte mir leid für Sie. Aber vielleicht vermuten Sie nur in die falsche Richtung, Esther."
Sag nicht meinen Namen, wenn es nicht notwendig ist, dachte sie und antwortete:
"In welche Richtung würden Sie denn vermuten?"
"Vielleicht sind es nicht einfach nur Steine".
"Was denn sonst?"
"Na, vielleicht sind sie in irgendeiner Form... belebt".
Sie lachte rauh.
"Leben auf Siliziumbasis, was? Also Steven...".
"Warum nicht? Hey, wir sind keine Biologen, Esther. Wir dürfen solche schrägen Ideen haben", scherzte er.
"Vergessen Sie's. Wenn Sie sie sehen, werden Sie mir zustimmen, dass es einfach nur Steine sind. Was machen eigentlich Ihre Untersuchungen? Schon was gefunden vom legendären Wasser des Mars?"
Er lachte gequält.
"Keinen Tropfen. Aber irgendwo muss es natürlich abgeblieben sein. Die Flussbetten, die Ozeanbecken... mein Gott, der Mars muss einmal getrieft haben vor Wasser".
"Vielleicht suchen sie nur in der falschen Richtung".
Seaforth wusste, das jetzt ein Witz auf seine Kosten kommen würde, aber er fragte brav zurück:
"In welcher Richtung würden Sie denn suchen, Esther?"
"Na, vielleicht hat es irgend jemand ausgetrunken...".
"Oooch...".
Sie hatten den Rand der Senke erreicht. Es war ein alter Einbruchstrichter. Ein unteririscher Hohlraum war hier eingestürzt und hatte sich im Lauf der Zeit mit feinem Sand gefüllt. Esther schaute hinein und erstarrte miiten in der Bewegung.
"Das ist nicht... ist nicht wahr!", stammelte sie.
"Was ist nicht wahr?" fragte Seaforth, der ein paar Schritte zurückgeblieben war. Dann schaute auch er in die Senke und brachte nur noch ein leise gehauchtes "Oh" zustande.
Sechs der Steine waren zu einem perfekt regelmäßigen Sechseck angeordnet, und gleich daneben bildete eine weitere Gruppe eine geometrische Darstellung des goldenen Schnitts.
Seaforth räusperte sich.
"Also das Sechseck könnte man ja noch als Zufall durchgehen lassen. Aber der Goldene Schnitt ist schon ziemlich eindeutig."
"Da versucht jemand, mich zu verarschen", sagte sie grob.
Seaforth war in weitem Bogen um die seltsamen Steine herumgegangen.
"Da sind keine weiteren Spuren, außer denen der Steine - jedenfalls keine, die so frisch sind, dass sie von heute Nacht sein könnten.", wandte er ein.
"Spuren kann man verwischen."
"Dann wären auch Ihre alten Spuren verwischt worden. Esther. Sind sie aber nicht."
Esther musste einsehen, dass er recht hatte. Es war offensichtlich, dass die Steine sich aus eigener Kraft in ihre Positionen begeben hatten.
"Na gut, aber welchen Sinn soll das Ganze machen?"
"Hm, wenn die Steine hier nicht irgendeinen rituellen Tanz aufführen, was ich nicht glaube, dann bleibt nur eine Möglichkeit..."
"Und die wäre?"
"Ein Kontaktversuch. Unternommen in der einfachsten und universellsten Sprache der Welt - der Mathematik. Esther, ich glaube, wir sollten einen dieser Steine mit ins Labor nehmen und ihn gründlich untersuchen. Es bringt nichts, hier draußen immer und immer wieder die Spuren zu vermessen und..."
"Ich habe schon mal einen im Labor gehabt. Es war nur ein Stein!"
"Vielleicht können sie ihren Zustand ändern. Vielleicht sind sie nur zu bestimmten Zeiten oder unter bestimmten Umständen mehr als nur normale Steine. Jedenfalls, wenn es ein Kontaktversuch ist, dann müssen wir herausfinden, wie wir ihn beantworten können."
Esther gab sich geschlagen.
"Also schön", nachdem sie die Stelle sorgfltig fotografiert hatte nahm sie einen kleineren Stein aus dem Diagramm des goldenen Schnitts und verstaute ihn in einer Plastiktüte. Seaforth bestand darauf, bei den Untersuchungen dabei zu sein und diesmal war Esther sogar froh darüber.

"Wieder nichts, keine Anomalien. Es ist nur ein verdammter toter Stein.", Esther warf die Spektrographendiagramme lustlos in einen Ablagekasten. Vor ihr lag der kleine, fausgroße Felsbrocken und weigerte sich standhaft, sein Geheimnis preiszugeben. Weigerte sich, auch nur einen Milimeter zu wandern oder seine Struktur zu irgendetwas ungewöhnlichem zu verändern.
Seaforth nippte nachdenklich an seinem Glas Mineralwasser.
"Irgendetwas machen wir falsch", sagte er. "Entweder methodisch oder theoretisch. Sie kriechen, das ist Fakt und es muss einen Grund dafür geben."
"Vielleicht finden wir es auf der Erde heraus. Vielleicht kann ich irgendwo Gelder für eine Expedition ins Tal des Todes loseisen und mir die Sache in aller Ruhe und unter einfacheren Bedingungen ansehen. Na immerhin", fuhr sie fort. "Der Sand scheint ganz interessant zu sein." Sie ließ etwas von dem feinen hellen Sand durch die Finger rieseln, der mit in die Plastiktüte geraten war und griff nach einigen weiteren Ausdrucken.
"Interessant? Inwiefern?"
"Es ist eine Form von Sand, wie ich sie auf der Erde noch nie gesehen habe. Ich würde es fast als Silikatschnee bezeichnen - oder als Lehmflocken. Er besteht aus winzigen filigran verästelten Kristallen - eben wie Schneeflocken. Und alle sind vielfach und dreidimensionsl miteinander vernetzt. Es erinnert mich ein wenig an pyrogene Kieselsäure, aber die Struktur ist großräumiger, komplexer und bleibt auch ohne wässriges Medium stabil."
"Silikatflocken, hm - und wie sollen die entsanden sein? Sand verdampft schließlich nicht, um dann als Silikatflocken wieder herunter zu schneien."
"Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ist es... naja, Silikate sind zwar in Wasser extrem schwer löslich, aber eben nicht ganz unlöslich. Vielleicht genügt das Bisschen Luftfeuchtigkeit... der niedrige Atmosphärendruck, die extrem tiefen Temperaturen und ganze Äonen an Zeit. Es könnte eine völlig neue Klasse von Silikatverbindungen sein." Sie lachte rauh. "Das Zeug könnte ein ideales Thixotropiermittel sein. Wir könnten stinkreich werden wenn wir es synthetisch herstellen und verkaufen könnten."
"Thixotropiermittel? Was ist das?"
"Nun, ein Verdickungsmittel sozusagen. Sie kennen doch den Ketchupeffekt? Wenn sie Ketchup aus dem Kühlschrank holen und aus der Flasche schütten wollen, dann fließt er nicht richtig, sie müssen ihn zuerst schütteln. Etwas im Ketchup bildet stabile Strukturen aus, die den Ketchup dickflüssig machen. Durch das Schütteln führen sie kinetische Energie zu, die diese Strukturen zerstört, so dass der Ketchup dünnflüssig wird und sie ihn aus der Flasche schütten können. Wenn er eine Weile stehen bleibt, bilden sich diese Strukturen erneut und er wird wieder dickflüssig.
Manchmal ist dieser Effekt gewollt und dazu benutzt man eben Thixotropiermittel. Pyrogene Kieselsäure ist das gebräuchlichste. Die Dickflüssigkeit von Lackfarben wird damit eingstellt." Sie kicherte und fuhr fort: "Und die katholische Kirche benutzt den Effekt gern, um sogenanntes Heiligenblut zu bestimmten Feiertagen wieder flüssig werden zu lassen. Naja, und dieses Zeug hier hat anscheinend alle Eigenschaften, die es zu einem guten Thixotropiermittel machen könnten."
"Das erste brauchbare Geschenk des Mars an die Erde" grinste Seaforth. "Lassen Sie mich mal anfassen". Er langte hinüber zu dem kleinen Sandhäufchen auf dem Labortisch und stieß dabei das Wasserglas um. Zum Glück war es fast leer, aber ein kleiner Rest lief heraus, schlängelte sich über den Tisch und vereinigte sich mit dem Häufchen Sand.
Ein Dampfwölkchen stieg mit leisem Zischeln empor. Der Sand kam in zuckende, brodelnde Bewegung, so als ob er zu kochen anfinge. Wölbungen und Spitzen wuchsen daraus hervor, schienen sich suchend hin und her zu bewegen.
"Mein Gott Steven, sehen sie sich das an!" keuchte Esther. "Es scheint mit dem Wasser zu reagieren."
Seaforth antwortete nicht. Wie gebannt schaute er auf den pulsierenden, sich aufblähenden Sand. Dann war alles Wasser aufgesogen und die Erscheinung kam ebenso plötzlich zum Stillstand wie sie eingesetzt hatte.
Mit leisem Knacken blätterten kleine Schuppen von der weißlichen Masse ab, zu der sich der Sand verformt hatte und zerfielen auf der Tischplatte zu feinem weißen Puder. Seaforth berührte den größten Brocken vorsichtig mit dem Zeigefinger.
"Es fühlt sich warm an", sagte er. "Warm und pulvertrocken. Es muss das gesamte Wasser chemisch gebunden haben."
"Aber die Proben zeigten keine alkalische Reaktion", sagte Esther. "Es kann keine so einfache Reaktion, wie das Löschen von Kalk sein".
Seaforth rieb sich nachdenklich das Kinn.
"Ich glaube wir haben die Lösung vor uns, Esther."
"Der Sand?"
"Ja doch. Wann bewegen sich die Steine?"
"Nur Nachts."
"Eben. Nachts, wenn aus dem Hauch von Wasser, den die Atmosphäre des Mars noch enthält, ein noch kleinerer Hauch kondensiert und den Sand aktiv werden lässt. Es muss gerade reichen, damit er um die Steine Strukturen bilden kann, die in der Lage sind, sie unmerklich anzuheben und zu verschieben. Die kleinen Schurken müssen in den letzten Nächten alles gegeben haben, um uns auf sich aufmerksam zu machen."
"Aber dann wäre der Sand..."
"...möglicherweise in irgendeiner Form intelligent", ergänzte Seaforth. "Sie haben selber festgestellt, wie komplex sein chemischer Aufbau ist. Jedenfalls ist er in der Lage, gezielt Strukturen zu bilden und wie es aussieht sogar zur Kommunikation einzusetzen ."
Er fügte noch ein paar Tropfen Waaser hinzu. Der Vorgang wiederholte sich in kleinerem Maßstab und wieder blieben trockene weißliche Krümel zurück.
"Es muss in der Lage sein, ein Vielfaches seiner Masse an Wasser zu binden", sagte er leise. "Vielleicht vermehrt es sich sogar auf diese Weise."
Esther sprang auf.
"Kommen Sie Steven", sie nahm ihren Druckanzug vom Haken und kletterte hastig hinein.
"Wohin wollen wir denn?"
"Sie sagten, der Sand will mit uns Kontakt aufnehmen? Geben wir ihm doch einen Schluck Wasser, dann redet es sich leichter!" Sie nahm einen Wasserkanister vom Regal. "Nehmen Sie sich auch einen, Steven. Es könnte ein langes Gespräch werden."
Die Sonne stand schon dicht über dem Marshorizont, als sie die Senke erreichten. Das Sechseck und der Goldene Schnitt lagen noch immer unverändert da. Esther schraubte ihren Wasserkanister auf.
"Kommen Sie, beide zugleich", sagte sie fröhlich und ließ das Wasser über die Steine fließen. Der Sand reagierte augenblicklich. Blasen stiegen stoßartig auf und wellenförmige Bewegungen gingen durch die Masse, wie durch den Körper eines sich windenden Weichtiers. Die Steine wurden zur Seite geschleudert und inmitten des chaotischen Pulsierens schraubte sich eine säulenförmige Struktur empor, bis sie etwa Mannshöhe erreicht hatte. Dann begann sie sich zu verformen, bildete Ausbuchtungen und Abschnürungen und nahm seltsam vertraute Formen an. Es war, als sähe man einem unsichtbaren Bildhauer beim Modellieren eines Bildnisses zu.
"Nein!" krächzte Esther und trat ein paar Schritte zurück, als der Sand endlich wieder zur Ruhe kam und sie erkannte, was sich da geformt hatte. "Nein!"
Vor ihr stand, wie aus weißem Marmor geschnitten - sie selbst. Nackt und mit einem so freundlichen, lieblichen Lächeln, wie sie es selbst nie zustande gebracht hätte. Viel zu freundlich! Und geradezu widerwärtig lieblich.
"Ich glaub das nicht!" stammelte Seaforth, als er sicher sein konnte, dass die Vorstellung vorbei war. "Wenn der Sand uns beeindrucken wollte, ist ihm das geglückt. Es ist... wunderschön...". Er trat näher und legte seine Hand sacht auf die Schulter des Bildnisses. Unter der Berührung seines Handschuhs zerfiel die Masse zu Staub und kleinen Schuppen und hinterließ eine hässliche Narbe auf der ebenmäßigen Oberfläche. Nachdenklich zerrieb er sie zwischen seinen Fingern.
"Pulvertrocken", stellte er fest und starrte hinaus in die rote Wüste.
"Sie geben sich Mühe", flüsterte Esther. "Entweder sie mögen uns furchtbar gern oder sie wollen etwas Großes von uns haben."
Seaforth entfernte sich plötzlich mit hastigen Schritten von dem Esther-Abbild und zog die echte Esther ein Stück weit mit sich.
"Ich glaube, wir sollten dieses Zeug auf keinen Fall zur Erde bringen", keuchte er. " Wissen Sie, wo das Wasser des Mars geblieben ist?", er hielt ihr das Häufchen trockenen Staubs vor das Helmvisier. "Hier! Hier ist es. Gebunden und verloren für alle Ewigkeit! Wenn es je organisches Leben auf dem Mars gegeben hat, dann hat dieses Teufelszeug es vernichtet - erstickt und vertrocknet!"
Esther schaute ihn mit großen, bangen Augen an.
"Und wir sollten es versiegeln", flüsterte sie. "Zubetonieren oder irgendwie sonst."
"Versiegeln? Was versiegeln?"
"Das Tal des Todes."



© 2004 Achim Hildebrand
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Statt ausführlicher Lobeshymne:

Achim, ich will ein Buch von dir…

Details:

"Sollten Sie nicht bei den anderen auf dem 'Gesicht' sein?" die Frage war obsolet,…
Wieso ist die Frage (Duden: ) „nicht mehr üblich“?

„Vielleicht genügt das Bisschen Luftfeuchtigkeit... der niedrige Atmosphärendruck, die extrem tiefen Temperaturen und ganze Äonen an Zeit.“
Meines Wissens erleichtern HOHE Temperaturen Lösungsvorgänge…

„Wir könnten stinkreich werden wenn wir es synthetisch herstellen und verkaufen könnten.“
…oder es einfach auf dem Mars abbauen…?

…über
"Aber die Proben zeigten keine alkalische Reaktion", sagte Esther. "Es kann keine so einfache Reaktion, wie das Löschen von Kalk sein".
muss ich noch nachdenken. Irgendwas stört mich daran. So aus dem Stegreif würde ich sagen: „Löschkalk“ reagiert nicht alkalisch, erst „gelöschter Kalk“ ist eine starke Base… Aber ich schau noch mal in meine alten Chemiebüchern nach.
 

Mazirian

Mitglied
Statt Danksagungskarten

Hi Ulrike,

du bist nicht nur eine gestandene SF-Autorin, du schreibst auch ans Herz gehende Komplimente. Sei allerliebst bedankt und... okay dann, ich mach dir ein Buch. Muss mich ja irgendwann mal weiterentwickeln. Aber nur, wenn du ein bisschen mit aufpasst, dass es was wird ;)

zu den Anmerkungen:

obsolet: hey, da hast du mich beim Bildungvortäuschen erwischt. Ich hab's immer als das Gegenteil von "obligat" benutzt (und verstanden *schäm*), also im Sinne von "überflüssig". Werd's im Original in "überflüssig" ändern.

einfach auf dem Mars abbauen? Bei den Transportkosten? Selbst auf der Erde baut kein Mensch Zeolithe ab, wenn er Molekularsiebe produzieren will (um bei den komplexen Silikaten zu bleiben). Synthetisch ist das Zeug einfach viel billiger - und besser.

Über die chemischen Fragen später mehr.

liebe Grüße

Achim
 

poppins

Mitglied
Au ja, Achim, da hau ich mal in die gleiche Kerbe wir jon:
Mach’ uns ein Buch!!

Tolle Geschichte, und sehr überraschende Pointe – ich hatte erst vermutet, du hättest den GANZEN Planeten zum intelligenten Organismus gemacht (klar, der hat nur ein Gesicht ;)) – einem sehr durstigen Organismus ...

Ein paar kleine Fehlerchen habe sich eingeschlichen:

„Zweidellos war es die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, unbestritten.“
:D:D

„Esther schaute hinein und erstarrte miiten in der Bewegung.“

Das „obsolet“ hatte ich auch auf meiner Liste :D...*kleiner Klugschiß meinerseits*:D
 

Darwin

Mitglied
Super Story, vorallem das Ende hat mich gefesselt.

Zu:
"Was machen eigentlich Ihre Untersuchungen? Schon was gefunden vom legendären Wasser des Mars?"

Tja, blöd wenn die Wissenschaft die Fiction einholt ;)
 

Mazirian

Mitglied
hallo zusammen,

danke, dass ihr mir das nochmal habt durchgehen lassen ("...oooch, schon wieder ne Sandgeschichte..."). Kommt auch nie wieder vor. Das Buch wird übrigens den Titel "Der Sandplanet" tragen :D

@poppins:

der ganze Planet als Organismus.... hm, Mars als kleiner Bruder von Gaia, der schon früh auf die schiefe Bahn geriet und sich zu Tode soff? Und Vatter Jupiter - übergewichtig und Kettenraucher, während Saturn so brav und bieder ist, dass ihm ein Heiligenschein gewachsen ist.... das ist Stoff für ganze Romane.

@ darwin

naja, die kleine Pfütze gilt nicht ;).

schönen Gruß

Achim
 

Buffy

Mitglied
Einsame Spitze

Ich gratuliere dir zu dieser gelungen Story.
Fesselnd, nachvollziehbar und flüssig geschrieben.
Bin tief beeindruckt.
Gruß Buffy
 
M

Mara K.

Gast
Hallo ...

ich verirre mich nicht oft hierher zu SF,
aber dieses Mal bin ich begeistert.
Es hat mir Freude gemacht zu lesen und danke sehr.
Herzlich Mara K.
 

Mazirian

Mitglied
Danke Buffy und danke Mara,

na, dann will ich mir Mühe geben, euch beide auch künftig bei der (SF-) Stange zu halten. :)

lieben Gruß

Achim
 

Amadis

Mitglied
hallo,

ich kann mich meinen "vorschreibern" nur anschließen. die geschichte ist klasse!

eine sache ist mir aber aufgefallen, die ich in meiner naivität für einen logischen fehler halte: die beiden gehen mit kanistern von wasser hinaus und schütten das wasser in den sand. das ganze auf dem mars und bei den dort üblichen temperaturen? sollte da das wasser nicht gefroren sein? (ohne kleinlich sein zu wollen, sorry).

ansonsten wirklich klasse. eine frage habe ich noch? für die unwissenden: was ist ein "goldener schnitt"?

gruß und kompliment

amadis
 

Mazirian

Mitglied
Hallo Amadis,

vielen Dank für dein scharfes Auge. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich mir um die Temperatur keinen Kopf gemacht habe. Ich hab aber Glück gehabt: da der Mars nur so eine dünne Atmosphäre hat, schwankt seine Temperatur zwischen -170 und +22° C, je nach Tageszeit, Abstand zur Sonne und der jeweiligen Gegend. Wenn wir wohlwollend annehmen, dass es ein heißer Tag in einer warmen Gegend ist, geht's also;).

Zum "Goldenen Schnitt":
Hier ist eine Link, wo ganz gut erklärt wird, was gemeint ist und welche Bedeutung es in MAthematik und Kulturgeschichte hat:
http://www.janaszek.de/t/goldenerschnitt.htm

schönen Gruß

Achim
 



 
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