Santiago

Beleth

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Keine Zeit lähmt mich, wie diese. Nicht, wie ich es mir erhofft hatte, schnell, ist sie vergangen, sondern einem schweren, samtenen Schleier ähnlich auf mich herabgesunken. Ich winde mich darin und kämpfe mit seiner Schwere; sie lastet auf mir wie ein Fels und droht dennoch nicht, mich zu ersticken. Jetzt, in dieser Sekunde, in der ich mir der Bedrohung gewahr werde, erkenne ich ihre wahre Größe und Macht; wer denn sonst hielte mich am Boden und in trauter Sicherheit vor der Gefahr der Höhe, denn ebendiese Zeit - die mich beruhigt und paralysiert, daß es nur das - eine Rettung - für mich sein kann. Tage auch ist sie wie ein Schwert über meinem Kopf, und ich bin ohne Sorge um mein Leben. Selbst kein Hoffen, es möge fallen und mein Tod sein, umfängt mich - sondern nichts weiter als das Warten darauf, daß ich endlich um seine Existenz vergesse, trägt meine Tage.

Und nach der Wut, die kurz ist und lebendig, die ich genieße und vor mir ausbreite und öffne wie ein Geschenk, das ich erhalte, steht wieder das Fallen, das Gewohnte, und ich empfange es, wie einen wohlbekannten Gast, bereits von weitem. Mit einem sanften Schwenken der Hand in der Luft, oder einem Händedruck, manchmal, setzen wir uns an den Tisch, bleiben nicht selten auch am Fenster stehen, gemeinsam, blicken ein wenig in den Nachthimmel mit den immergleichen Sternen, oder auch ins Blau des Tages durch zerfetzt ziehende Wolken, vielleicht auch ins Grau, das nicht mehr melancholisch macht, viel zu oft schon, viel zu vorhersehbar ist es, als daß es noch in uns wirken könnte.

Kaum zu einer Bewegung fähig. Die dumpfe Ahnung des kommenden Schmerzes in den Gliedern. So viel zu tun, und doch, selbst Mühsal der Versuch, sich der baldigen Träge zu erwehren; nichts getan, keine Kleinigkeiten, nicht das Wichtige, nichts davon. Was soll man tun, alles scheint ein Teil eines Teils des Kreises der alle Kraft gefangennimmt. Wie soll man sich der Schwere erwehren, die Geist und Körper niederhält?

Hier also bin ich angekommen, wie neben den Schienen, eine Station der Reise, und ich fühle mich unbekannt in dieser Stille, die mich umschließt, die sich an mich schmiegt und mich drängt, zu bleiben - ich bin noch unentschlossen, zögerlich, aber eine kleine Weile wohl kann ich hier verweilen, denke ich, mich noch ein wenig länger umsehen, heimisch werden, wenn auch nicht zu sehr - den Abschied, bald, sicher bald, möchte ich mir nicht allzu schwer machen, nichts darf ich liebgewinnen und nach keinem Ding in Sucht geraten - nicht hier, nicht an diesem Ort der doch nur Wegpunkt einer langen Reise ist.

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Es ist bereits später Abend, ich sitze an meinem Tisch mit dem auf den Hinterhof gerichteten Ausblick, mit einer dünnen Linie Stadt zwischen dem dunkelblau gefärbten Himmel und den letzten Fensterlöchern der Häuserwand gegenüber; ich sitze also auf meinem Stuhle, der mir Schmerzen im Genick bereitet mit der Zeit, und zerre schon eine ganze Weile an einer Zeichnung herum, das Blatt wird voller und voller doch es will mir nicht so recht gelingen, die Zeichnung zu beenden, einen letzten Strich finden, als ich, einen Augenblick den Kopf hebend um die kommende Steife meines Genicks zu vertreiben, aus dem Fenster sehe und mit plötzlichem Erstaunen feststelle, daß das Weltenende gekommen scheint. Draußen ist es Hölle geworden, ganz still ist alles und doch regnet es brennenden Schwefel aus den Wolken herunter, er steckt die Stadt in Brand. Ich eile hinunter und vor das Haus mir das Spektakel anzusehn. Mittlerweile hat der Schwefelregen aufgehört, stattdessen schlägt mit gewaltigem Getöse brennendes Gestein vom Himmel herab, gewaltige Zerstörungen hinterläßt es. Es scheint doch nicht ganz so biblisch zu werden, denke ich bei mir. Die Menschen fliehen durch die Straßen, wie ein Bienenschwarm wälzen sie sich in einem wüsten Durcheinander, wohin sie nur fliehen, möchte ich wissen. Einen von ihnen, es ist eine hysterische Frau, greife ich aus der Menge, beinah stürzt sie und verletzt sich, ich packe sie, halte ihr Gesicht vor meines. Ihre Augen rollen hektisch, sie zappelt wie wild. Ich schüttle sie kräftig durch und fauche sie an - ich kann es wirklich nicht verstehn! "Warum flieht ihr? Und wohin; sag es mir doch! Wohin?!" Ein kräftiger Ruck, sie will entfliehen. Noch einmal brülle ich sie an, doch der fiebrige Körper würdigt mich keines Blickes. So wirr, wie sie ist. Was das nur soll? Ich lasse sie fallen und sie kriecht davon, dann rennt sie und verschwindet zwischen all den anderen Irren. Schließlich ist mir kurz, als kenne ich diese Frau doch; aber ich verwerfe den Gedanken schnell wieder, allzu peinlich ist es mir, selbst in dieser Lage, selbst Stunden oder Minuten vor dem Niedergang. - Nun weiß ich es, mir kommt der Gedanke und ich bin ein wenig traurig, so spät erst bin ich über diese peinlich offensichtliche Tatsache gestolpert, aber sie selbst entschuldigt alles - ja, endlich weiß ich es, ich bin wie sie, diese kindische Menge und schlimmer noch als sie, da ich es geleugnet habe; auch ich kann es nicht voneinander trennen, nur Augenblicke vor dem Tod bin ich noch immer sorgenvoll! Die Menge flieht, und ebenso ich, vor ihrer eigenen Dummheit, sie hat es doch auch erkannt, wie gleichgültig jedwedes Tun ist, wird es nur nah genug zum Ende hin vollführt; wählst du den Freitod und gedenkst, dich von einer Brücke stürzen, so tue es nicht nur einfach so - welche Verschwendung! Nimm jede Droge zu dir, die du finden kannst, verbrenne all deine Besitztümer auf offener Straße und tanze nackt um das wohl hübsche Feuerchen und küsse die verwunderte Gafferin, wenn sie dir gefällt, und noch eine, wenn sie von hübschem Ansehn ist, und ihre Bekannte neben ihr, ja, die küßt du auch! Was denn gibt es zu verlieren? Und das ist noch die geringste aller Möglichkeiten. - Neben mir also fällt Vernichtung von Himmel, vom Leben sind nur wenige Jota geblieben und doch, ich zögere, mir noch eines Weiber aus der panischen Menge zu nehmen und mir ihre Lippen und ihre Zunge zu stehlen! - Pah! Es ist wie immer - nur einer der Träume. Ich weiß nicht, ob ich überlebe im kostbar heißen Lavaregen. Ein kurzen Augenblick lang noch Verweilen.

Mit Mühen öffne ich meine Augen und blicke in den bereits angebrochenen Tag. Ein Wind treibt den Schmutz durch die Häuserschluchten, ich höre es doch, oder ahne es zumindest. Ein Schleier liegt noch auf meinen Augen, vom Schlaf, er taucht den Raum in fahles Grau, man mag es nicht glauben, aber es ist doch alles zumindest ein wenig von Farbe, nur die Lider sind noch immer schwer und meine Arme und daran meine Hand, sie heben, den Schleier, das Grau verwischen. So auch alles andere; selbst etwas Einfaches wie das Sicherheben vom Schlaf ist mir zu einer ungeheuerlichen Tortur geworden, daß nicht nur die Schwäche meines Körpers selbst, sondern ebenso die mich überrennende Erkenntnis meines Versagens ans Bett fesseln.

Womöglich aber täusche ich mich auch, und alles ist wie immer; nichts ist schlechter geworden, keine Form hat sich gewandelt, sondern ist nur zu Stein geworden - aber dies bedeutet keinen Unterschied. Ein wenig wälze ich mich noch herum, dann schließlich erhebt sich auch der Stein; mit Mühen, aber stetig; ich setze meine nackten Füße auf das kalte Holz des Bodens, erschaudere und zittere ein wenig vor der Kälte des Zimmers und verfalle beinah wieder der Versuchung, mich in der kostbar gehorteten Wärme meines Bettes zu verkriechen. Wieder kostet es einen im Grunde kümmerlichen Anteil Überwindung, die ich mit ein wenig Mühe schließlich aufzubringen imstande bin. Es mag für die meisten Menschen zu einem Ritual geworden sein, diese Art der morgentlichen Herausforderung, des ersten Kampfes, des ersten Rüstens für den weiteren, noch bevorstehenden andauernden Kampf des Tages; für mich aber ist es das nicht. Womöglich sogar ist es die größte Schlacht bis zum nächsten Morgen, manchmal zumindest, nicht immer, aber seit einiger Zeit eben ist es beinah wie ein Zufall, daß ich mich schließlich doch erhebe, und wie ein Wunder wenn nicht die Muskeln schmerzen und mir bis zum Abend einen grandiosen Kopfschmerz beschert haben werden. Alle diese Dinge sind zu einem Puzzle für mich geworden, welches jeden Morgen, obgleich doch bis zum Abend in wundervoller Meisterschaft zusammengesetzt, doch wieder in Scherben vor mir liegt und ein hohnvolles Lachen verbreitet, es möge wieder gefügt werden, spuckt es mich an, es habe doch noch immer nicht genug und auch das Zerspringen mache ihm Freude; das alles, dies Geschwätz, bereitet mir Mühen und Anstrengung, jedes Große, jedes Kleine, und sei es etwas triviales wie das Recken und Strecken der müden Glieder nach der leidlich geruhten Nacht.

Aber nun da ich mich erhoben habe, kann alles ganz anders werden. Es kann ein Tag sein, der vor Leben nur so strotzt; Zeit, meine große Liebe zu finden, nicht wahr, heute ist die lange Zeit verstrichen, welche es zu ertragen galt; und alles ist vorüber und weggewischt was mich bislang davon zurückgehalten hat zu suchen, anstatt Tage und Tage darauf zu warten, endlich gefunden zu werden, ein Schatz zu sein, ein Teil der Rettung für beide. - Noch leicht im Besitz des Schlafes tappe ich durch meine Wände, auf meinen Fußballen, der Boden ist doch allzu kalt. Es muß beschämend aussehen, ein wenig zumindest, trotzdem bin ich froh, niemand sieht mich in dieser Lage, und ich muß mich nicht verstellen, die Füße womöglich ganz auf die Kälte werfen und versuchen, keine Mine zu verziehen; vielleicht auch ein wenig kauzig wirken für die Frau in meinem Bett, wäre sie da, und lächeln, wenn sie liebevoll schmunzelt, sicherlich, es sind ja wirklich Tänze die ich vollführe!

Tänze, jeden Morgen.

Vor dem Spiegel im Bad, habe versucht, mich zu betrachten.

Wenn nun das Gesicht von der linken zu rechten Grenze streift, der beiden dünnen Linien die es trennen, das Sehen von der grauen Wand dahinter, so ist es wohl ein Leichtes, seinen Kopf in diesem Zug, den man tut, zu wenden, die Augäpfel nicht länger gesenkt zu belassen sondern einen weiteren Schritt zu wagen und zwischen diese Grenzen einzutauchen, die man voll von Feinden wähnte und die es, wie es schließlich offenbar wird, auch sind; und man schlägt und straft sich selbst mit allen Kräften, sie dürfen es nicht sein, die eigenen Feinde, und keine Angst bereiten, keine Flucht - sondern daß es nur Trugbilder sind und Halluzinationen. - Meine Hand, mein Finger berührt die Stirn.

Ich wusch mich.

Von draußen das Geplärr der Straße.

In die Küche; Kaffee, jeden Morgen. Zu behaupten, man könne es 'sich freuen' nennen, ist kindisch; aber vielleicht kommt es diesem Gefühl am nächsten - ich freue mich auf meinen Kaffee, und es ist ein Ritual - heißes Wasser aufsetzen, derweil den Filter auf die Tasse, das Pulver dosieren, noch ein wenig warten, die erste Zigarette des Tages, schließlich den feinen Schaum betrachten, wie er Kreise zieht, der Geruch, die Hitze, wenn ich das kochende Wasser in Dosen darübergieße, so daß der Filter nicht überläuft - ein Ritual, das ich brauche.

Der erste Schluck aus dem Pot verbrüht mir, wie gewöhnlich, beinah Lippen und Zunge. Ich genieße es dennoch, und der Kaffee weckt mich ein wenig weiter auf, auch wenn ich es mir nur einbilde, sicher, es ist vielleicht nur ein Signal für mich, die Trägheit zu vergessen; an meinen Herd gelehnt stehe ich, den dampfenden Pot in der linken und die Zigarette in der rechten Hand, und warte auf den Gedanken, was mit diesem Tage anzufangen sei. Ein Weile wandere ich in meinen Wänden umher, in der Küche, dem engen Flur, der vollgestellt ist und zugepfropft mit Müll und Wertvollem, ich ziehe daran vorbei, bleibe schließlich in dem Raum, der außer Bad und Küche alles für mich ist, am Fenster stehen. Aus dieser Höhe kann ich in den Hinterhof blicken und zwischen dem was der Himmel ist und dem roten Backsteinhaus gegenüber liegt eine dünne Flut Dächer; man sieht es ihnen an, wie sie die Furcht verbergen vor dem Schmutz der Stadt, dem Gestank und dem Lärm, der wie ein Rauschen oder Brummen, wie ein Tinnitus unaufhörlich in den Ohren klingt. Ich nehme einen Zug an der Zigarette und schweife durch das Graublau des Qualmes über ebendiese Dächer, die Stadt, die nun mein Zuhause ist, und ich atme noch immer. Nur die Luft wird dichter und schwerer, ich huste laut, der Entschluß ist kühn und ich ersticke fast an meiner Kühnheit; das Fenster öffne ich trotz allem und lasse den Schweiß der Stadt in meine Räume, inhaliere tief den Sog. Die Kälte und der Wind sind mir edle Gäste. Ich strecke ihnen meine Brust entgegen, meinen Kopf und lasse sie meinen Körper streifen. Die Dächer, wie vom Himmel gefallen, sind die verbrannte Haut und branden durch das Fenster meiner Wände wie eine Horde Berserker und brechen über mich herein, manchmal, wenn ich es wage den Blick auf ihre grimmigen Gesichter zu ertragen, die mich ansehen, die mich auslachen; doch meist ist alles, was sie tun, zu schweigen - sie vermögen es zur Perfektion zu treiben, und selbst ich, der meint, das Schweigen wie sonst kein anderer zu beherrschen, ist ihnen an Beharrlichkeit und Kunst bis zur Lächerlichkeit unterlegen.

Ich wende mich vom Fenster schließlich ab und setze mich darunter auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, die Knie von meinen Armen umschlossen. Den Rauch der Zigarette und die kümmerliche Wärme des Zimmers drückt der schon seit dem Morgen angestrengt wütende Herbstwind nun endlich nach draußen. Ich friere, doch das Fenster lasse ich geöffnet; ich bin bei dem Versuch hängengeblieben, das Rauchen trotz der Kälte und des Beinahe-Sturmes zu genießen; zu Zittern beginne ich als ein Böe das Zimmer durchfegt und eine Zeichnung von der Wand reißt, sie einen Augenblick herumwirbelt und schließlich auf meinem Bette fallen läßt. Jeden Zug den ich an meiner Zigarette tue, ist beharrlich und voll Stolz dem Wind zu trotzen, doch wie beinah alles, was ich tue, nicht ohne meinen eignen Spott und mein Gefühl der Lächerlichkeit die all mein Tun und Lassen umgibt wie eine steinerne Hülle. Es wäre wirklich zu theatralisch, wenn ich lachen würde, obgleich mir tatsächlich danach ist, und ich mir vorstellte, ich sähe auf mich herab, wie ich selbst unter dem Fenster gekauert hocke und meine Heldentaten vollbringe - dem Winde trotzen, welche Großtat!

Und wieder, der Wind flaut ab und es beruhigt sich, kommt mir die Frage in den Sinn, was anfangen mit dem Tage?

Die Zigarette aus dem Fenster.

Nach einigen weiteren Augenblicken stehe ich auf von meiner kümmerlichen Lage. Mich ein wenig wieder den Zeichnungen widmen, auf meinem Tisch liegen sie verstreut, übereinander. Eine ganze Weile lang schon habe ich mich gescheut, auch nur an sie zu denken; es war mir niemals, als warteten auf mich, als wollten sie vollendet werden, manche von ihnen schienen es beinahe zu genießen, die Halbheit, Roheit aufzusaugen, um sie ihrem Wesen einzuverleiben und sich zu dem zu machen, von dem sie glaubten es zu sein. Was soll ich dabei tun? Ich kann sie nur zerstören, die Tusche der Feder in meiner Hand würde wie ein Messer sein das ihren Leib zerreißt, nicht schneidet, das wäre sauber - ich dagegen bin ein wahrlich schlechter Metzger. Also lasse ich ihren Frieden. Ich ziehe einige heraus aus dem Haufen, eine jede noch einmal begutachtend, lege ich sie schließlich in einen Karton den ich verschließe und unter mein Bett schiebe, zu den Anderen.

Aufblickend, das Papier auf dem Laken.

Ein Klischee von Schönheit, man vermag sich nicht davon loszureißen; ein geschwungener Rücken, Ebenmaß und ein Ideal an Gravitation wirkt auf das Haar, es verschmilzt und fließt mit der Haut zum Po und zu den Schenkeln vom Kopfe ab, der, abgewandt, mich dennoch anzusehen scheint; es ist niemand, niemand den ich kenne, im Karton ist noch Platz für dich, denke ich, dort wirst es gut haben, bei den anderen Kranken.

Den Rest der Bögen drehe ich, wieder an meinem Tisch angekommen, zwischen meinen Händen hin und her. Vorn die Linien, hinten Weiße. Ich beneide sie. Einen Strich mehr noch zu den anderen, ein neuer Blick. Nichts ist anders, und die nächste Bewegung meiner Hand zerstört es ganz. Kein Versuch mehr. Nichts vergibt das Papier. - Eine neue Zigarette. - Noch einmal vor meinen Augen gewendet will es sich noch immer nicht bändigen lassen, ein wildes Tier und jedes Ringen mit ihm beginnt von Neuem und endet wie es immer endet; ich bestaune die Kraft der Anderen, pflücke ein wenig ihre Früchte und versuche deren Farbe zu kopieren, auf meinem eigenen Bild, und der Geschmack, dessen Süße, dessen Bitterkeit in Gewürz zu übersetzen und das verborgene Rezept niederzuschreiben. Manchmal gelingt es mir beinahe, das glaube ich, den Bruchteil eines Momentes meine ich ein jedes Rezept zu verstehen, in seiner Blüte und den Sinn und den Mechanismus seiner Konstruktion; doch kaum mache ich den Versuch, auch nur einen Gedanken daran in Linie oder festes Wort zu wandeln, fällt alles in meinem Geiste zusammen wie ein Kartenhaus, als habe es nur auf ebendieses Signal meines ungebührlich Versuches gewartet. - Er schreibt es nieder! Hört ihr, Karten? Fallt zu Asche, fallt zu Trümmern!

Was ist dieser Tag, der an mir klebt wie jeder andere? Fällt er mir nicht in den Schoß, ein Geschenk, eine Gabe, die zu würdigen es meine Pflicht wäre? Doch keinen Stempel trägt er, der ihn von den anderen unterschiede, der ein Zeichen wäre, keinen Wert in seiner Dauer, dem Auf-, dem Untergehen der Sonne und dem Schnattern der Straße. So liegt er vor mir, schon ausgebreitet, immer leer in seiner Fülle, achtlos hingeworfen denke ich nicht im Traum daran, mich seiner anzunehmen. Was daran auch wäre keine Mühe, ihn wieder aufs Neue mit kostbarer Kraft zu füttern, ihm dabei zuzusehen, wie die Kreativitiät, nach der er dürstet, in seinem Schlud verschwindet und vergeht - und sei es ein ganzes Faß! - wie Wein in einem Ozean.

Einem Rahmen gleich legt sich die Form der Bögen um die Stunden, modelliert sie zum Immergleichen, dem Fluß der Stunden, die den Abend bringen, gemächlich. Meine Hand in ihrer Bewegung ist wie die Bahn eines aufgescheuchten Vogelschwarmes.

Ein Bild übersetzt in Worte:

[ 4]Mit einem Lidschlag sinkt die Erde
[ 4]In ihr dunkles Grab hinab
[ 4]Wie Blicke fliegen, fahren auf
[ 4]Und Lieder unter Donnergrollen
[ 4]Auch mir in sanfte Worte reichen

[ 4]Fahl nicht, grau flatternd, ha!
[ 4]Streich' darüber, so bleich zerrinnt
[ 4]Ein jedes Haar in meiner Hand
[ 4]Schon alle Tage, bleckt`s mich aus deinem
[ 4]Kahlen Auge an! Spuck's doch aus!

[ 4]Wie ist Wort aus deinem Munde
[ 4]Mir trautes Heim und Tod zugleich
[ 4]Schauderhaft, die dreigeteilten Lippen
[ 4]Und Zungen derer zwei, umschlingen
[ 4]Ziehen, reißen, führen, küssen mich

[ 4]Hier liegt es sanft, zur Hand bereit
[ 4]Papier, Papier! und keine Finger
[ 4]Keine Haut, nicht von Blut, nur hinunter
[ 4]Nur nicht Geräusch, kein Wind; Gewicht
[ 4]So fällst auch du auf dieses Dach hinab

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Ich sehe auf die Uhr. Neun.

Endlich, nach einer Weile des Ringens, entschließe ich mich, ins »Alte Europa« zu gehen. Ein Hin und Her des Für und Wider, dann die seltene Sucht nach ein wenig Gesellschaft; so wägt man ab und balanciert und hält dem Pro zugute, die Gastwirtschaft sei genau in jener Entfernung gelegen, welche man ohne größeres Murren zu Fuß zu gehen bereit ist, aber auch nicht in allzu geringer Nähe, als daß die Verlockung bestünde, mit dem auf dem Tresen aufgeschlagenen Kopf noch an Ort und Stelle zu übernachten. Für ein Kontra findet man ebenso Gründe, doch argumentiert man richtigerweise, daß es dafür bereits zu spät sei.

Den Mantel werfe ich mir noch über und das Geld stecke ich in eine seiner Taschen, schon bin ich beinahe aus der Wohnung hinaus; ich halte inne, die Hand am Rahmen der Tür. - Mein Bild im Spiegel des Flures.

Die Stufen hinunter, nichts spricht zu mir, die knarrenden, schwarzen Stufen, ihr Kontrast zur blassweißen Wand, und ich versuche, kein Geräusch zu machen, doch jeder Schritt ist Lärm, wie sanft ich auch bin, jede Wohnungstür auf dem Weg nach unten hört das Wage in meinen Füßen, das vergebliche Bemühen um Stille erst macht meine Flucht so offensichtlich. - Die alte Frau Hennig mit ihrem kleinen Köter gegenüber, das laute junge Ehepaar, die ganzen Namen an den Türschildern hören mich wenn sie hinter ihren Türen lauschen. Drei Stockwerke lang ein Spießrutenlauf.

Unten angekommen, wie ein Dieb der ich bin, eile durch den letzten Flur, rechts, die Haustür, Milchglas und dahinter die Lichter der Straße. Mit einem Schnappen fällt sie hinter mir zu. - Stadt. Lichterlärm.

Hier enden die Mauern nicht. Gegenüber, der kleine Laden mit Schreibwaren, der kränkliche Stehimbiß, ein Neonschein taucht ihn in Fahlheit hinter den bunt beklebten Scheiben, wer steht da noch an einem der Tische, mit einem Kaffee, Zigarette und hinter dem Tresen der stämmige Besitzer mit Bart, zu einem lauen Schwätzchen. - Oh, die Kühle! Könnte ich sie immer bei mir haben. Die Straße hinunter, die sperrenden Wände ziehen an mir vorüber, als stünde ich still und nur die Welt bewegte sich. Wind, kühl, durch mein Haar. Und die Fenster in der imperfekten Dunkelheit, die Stadtnacht, sind nur grau, erleuchtet manchmal, triefen ihr Licht auf mich herunter. Man kann keine Sterne sehen. - Dort, doch; Sirius, ein wenig verlassen und nutzlos.

Zweihundert Meter geradeaus, dann rechts noch ein wenig weiter, an den Hinterhöfen vorbei mit den Drahtzäunen und den mannshohen Hecken, eingewachsen, den beiden Toren darin und darauf die Warnung vor dem Hunde. Schon in Sichtweite die kleine Gasse, über die Straße, links hinein und zwischen den engen Häusern durchgeschlichen. Kaum zu denken, daß es noch dunkler werden kann. Wie es sich über mir auftürmt. Fallt doch zusammen; ich bin euer Pharao und ihr das Rote Meer. Und das alles, Schreckgestalten hinter den Mülltonnen lauern, nicht vorn in meiner Sicht, nur im Rücken, und kratzen eine blutige Spur, ganz plötzlich, in meinen Rücken. Es ist doch nicht der Schmerz, nur der Schreck und nur das Ungewisse, das mich fürchten macht. Das wißt ihr wohl, das wißt ihr, natürlich. Ein Kind, das bin ich nicht; und ein später Hund der Hinterhöfe bellt, ich fauche, aufgeschrocken, Still!, und zornig, Köter! Aber weiter, weiter, nur nicht innehalten, hinaus aus der Gasse, eine nächste Straße erwartet mich schon, schräg links, und wieder alle Häuserwände über mir, eingepfercht dazwischen, Bäume, ihren Klecks Erde umrahmen Pflastersteine, wie an einer Linie folgen sie der Straße. Darum, dahinter, man mag es nicht glauben, Menschen auf den Gehwegen, den Straßen, wie hingeworfen, hier und da, womöglich ist es genau so, jemand hat sie tatsächlich hingeworfen, oder ausgesetzt wie Hunde, wer weiß das schon.

Wieder der Wind, wieder das Rauschen der Bäume über mir, um mich zieht Kälte. Den Kragen hochklappen, gleich, wie lächerlich es wirkt. Die Finger klamm, und die Haut um die Knochen zäh und schlaff. Als ich meine Hand in die Manteltasche stecke, finde ich einen Zettel. Im ersten Moment bin ich verdutzt und gespannt, doch noch bevor ich ihn, in das Licht eines beleuchteten Hauseinganges getreten, ganz entfalte, weiß ich, was auf ihm geschrieben steht. Ich hatte ihn vergessen, doch jetzt ist er da. Eine Sekunde noch halte ich ihn halb geöffnet, dann verberge ich ihn wieder im Dunkel der Tasche. Man beäugt mich skeptisch, eine junge Frau tritt aus der Tür heraus, streift an mir vorbei auf die Straße, und ich bleibe starr, noch einen Augenblick länger, was sie wohl glaubt das ich tue, aus dem Augenwinkel sieht sie mich kurz an, flieht weiter währenddessen und auch ich mache mich wieder auf den Weg, einige Sekunden später; hätte ich noch ein wenig länger warten sollen, nur wenige Meter trennen mich von der Unbekannten, wir, ein Stück auf dem selben Weg. Womöglich wird ihr mulmig, denke ich, und bremse meine Schritte, mit mir in ihrem Rücken ist es doch kein schönes Gehen oder vielleicht auch habe nur ich die Angst, vor ihr.

Auf den letzten Metern, immer, schräg durch den kleinen Park, setze ich mich auf die kleine Bank vor den Büschen, neben der jungen Buche, auch dieses mal, und der Weg davor führt beinahe direkt vor das "Alte Europa", ich kann es doch schon sehen, nicht weit, der kleine, leicht gebogene, rotleuchtende Schriftzug über der Eingangstür lächelt mich bereits an und es ist, als wolle ich ihn noch ein wenig necken, ihm spotten indem ich mich niederlasse so kurz vor dem Ziel, doch er bleibt dabei so liebenswürdig und unbändig freundlich, so penetrant und unbeweglich, daß mir sein Anblick für diese kurzen Minuten - eine Zigarette nur - unerträglich ist.

Zuhause, auf meiner Bank.

Ein Bild könnte es sein: Blaudunstschwaden, klägliches Zittern, mit Ellenbogen auf den Knien, krummer Rücken; Hochformat, den Kopf in der Mitte und der Blick von hinten darauf, der Rücken; der Rücken, und ein wenig eben von dem Rauch der Zigarette nach rechts aus dem Bild, und das Aufsteigen der Bankrückenlehne, kommend vom selben Rechts, durchschneidet es den Menschen beinah, bis hinauf zum Drittel der Hälfte; und unscheinbar prangt, nein, schimmert das Rot der Zeichen die die Worte bilden - gerahmt, alles, wie ein Sturm, wie ein Wind und die Luft, die Blätter der Buchen, die Nacht, verschmolzen, wie Schatten und Dunkelheit.

Zeichen, zu einem Wort.

Rückt der letzte Zug näher; ich fasse die Zigarette zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger, noch dieser Zug eben, dann lasse ich den Stummel vor mir fallen. Der Schuh drückt ihn aus, als ich mich, von der eigenen Entschlußkraft entsetzt, erhebe, den Rücken vom Schmutz putze und die letzten Meter nehme wie nichts. Von hier aus ist es doch ein Leichtes, nur jeden Schritt, jeden Windstoß fangen, die letzte Straße überqueren. Kümmerliche Meter nur noch, vor mir, an der Häuserwand entlang, noch ein wenig mehr Bürgersteig flieht unter meinen Füßen davon; hier, und so liegt sie endlich vor mir, die torbogenförmige Pforte und dahinter die Treppe, die wenigen Stufen hinauf ins "Alte Europa", dann rechts noch eine Tür, weit ist es nicht.

Weit ist es nicht; und obgleich jede Stufe nach oben an mir zieht mit einer Last von hundert Menschenkörpern, ist es dennoch leichter mit jedem Schritt, mit jedem Zentimeter Höhe, den ich nehme, und die Tür in die Gaststube öffne ich beinahe ohne Kraft, beinah ohne Scham.

Ich schreite wie durch eine Wand, hinein in die Wärme und die zarte Bläue des Raumes, sehe mich um; übermäßig voll ist es nicht, das ist es niemals, aber dennoch nicht leer genug, als daß man sich allein oder verloren vorkommen müßte, links am großen Tisch, niemand, rechts, ein wenig Gewimmel, Gemurmel in den Nischen. Es ist angenehm, und ruhig wie beinahe immer.

Die Bar ist für mich, Elisabeth dahinter begrüßt mich mit vertrautem Lächeln; mein Mantel gehängt neben der Tür. Was ich als erstes tue, noch bevor ich mich auf einen der allesamt leeren Hocker setze, zurechtgerückt - das Rauchzeug auf den Tresen. Erst jetzt erwidere ich Elisabeths Gruß, und mein Gesicht kommt einem Lächeln ganz nah: "Hallo", sage ich, ein wenig leise und vermummt, meine Hand schon an den Zigaretten. Sie tritt zu mir herüber und wie sie es immer tut, jedesmal ein wenig anders, in hohem Ton, in tiefem Ton, tadelnd oder scherzend, wie heute, feigst sie: "Du rauchst zuviel."

"Weiß ich", antworte ich, immer zu ihrem Tonfall passend, diesmal mit freundlichem Grinsen und einem der Glimmstengel schon zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ihn anzünden, kurzes leises Knistern. Elisabeth bleibt bei mir stehen, unsere Zeremonie ist doch zu Ende, denke ich, was also noch hier, so lang, und neu, was lehnt sie da an der Theke und starrt mich an? Einen Zug nehmen. - Kurz nur gelingt es mir, ihren Blick mich durchstechen zu lassen; ich bin so schwach.

"Was?" pfeife ich ihr entgegen, lege meinen Kopf zur Seite.

"Nicht rasiert heute, was?" deklamiert sie und sagt es so, daß es nicht wie ein Vorwurf klingt. Doch natürlich ist es einer. Es sind immer Vorwürfe. Jedes Wort aus Frauenmund.

"Was ist dabei? - Starr nicht darauf, ich kann es nicht leiden, wenn man mich so anstarrt. Nicht wegen so einem Unsinn." Ich wende mich von ihr ab.

Das erste Bier des Abends; einige Augenblicke später steht es vor mir und Elisabeth sagt nichts mehr, lächelt noch immer, aber es ist, als ob sie die Führung ihrer Lippen neu geschichtet, neu vertont und geordnet habe, alles zusammengefallen und wieder aufgebaut, doch auf eine Weise, daß kein Unterschied bleibt, wie ihr Lächeln zuvor ist es; nur echt nicht mehr, nicht das Original, und dennoch keine Kopie, kein Balsam sondern Säure, identisch in seiner Form, der Dynamik, und doch hat es sich verwandelt und übersetzt und ist nun etwas völlig anderes. "Wenn du mich so ansiehst", sage ich klein, "Könnte ich beinah glauben, das Bier sei vergiftet!"

Was soll sie denn erwidern, außer: "Das ist es doch auch, Fenneck." Sie meint es natürlich nicht ernst, ich weiß das, doch sie sagt es bitter; trotz allem, es bleibt ein fader, ein eben bittrer Geschmack mit jedem Schluck des Bieres, ein jedes Wort aus ihrem Mund brennt auf meiner Zunge, dieses eine Glas lang zumindest, und beim nächsten noch ein wenig - dann ist es verschwunden. Alles scheint wie weggewischt, vergessenswert fern, das ist es doch auch, je länger, je ferner und die Zeit heilt alle Wunden, sagt man.

Sagt man. Und mit jeder Zigarette wird mein Hals stummer und meine Kehle wie von feuchtem Rost verklebt. Ich schiele hinüber zu ihr, das neue, gefüllte Glas in gerader Linie dazwischen.

Ein wenig sieht sie mich wohl an, wie sie die Theke putzt, meinen Aschenbecher leert, er ist schon wieder reichlich gefüllt, und eben auf diese Weise, auch ein wenig plump, da sie glaubt, ich könne es nicht bemerken, beobachtet sie mich von der Seite aus ihren Augenwinkeln und wendet sich doch wieder ab, als ich neckisch zu ihr sage: "Was wühlst du schon wieder hinter der Theke herum! Es ist doch alles beisammen." Sogleich lacht sie, noch mit dem Lappen in der Hand, wieder mit ihrem bravourösen Lächeln auf den Lippen und in den Augenwinkeln ihren entzückenden Blick. Sie legt den Lappen beseite und tritt zu mir heran. "Manches tut sich eben nicht von allein", erwidert sie meinem Sticheln, ein wenig zu mir über die Theke gebeugt, den Kopf so leicht zu Seite geneigt, daß es wie Zufall scheint. Genau das ist es.

Elisabeth geht hinüber zu einen Tisch, links hinter mir, in einer Ecke und von der Garderobe wie vom Rest der Wirtschaft abgetrennt, sie nimmt die leeren Gläser und ist freundlich zu den drei Männern die dort flackern, ein kurzes Plaudern, man hat sich wohl auf eine weitere Runde geeinigt, Gesten sagen es, Elisabeth mit ihrer Freundlichkeit fordert es heraus. Einer der drei verwickelt sie in ein Gespräch, ich kann es sehen, seinen Versuch, einige Sekunden weilt er, bevor Elisabeth sich von ihm reißen kann, dem unrasierten Mann, der älter aussieht, als er womöglich ist, aber dennoch nicht verbraucht sondern gereift und solide. Seine Stimme, ich höre es, ist rauh, als er Elisabeth ein tiefes, herzliches Lachen hinterherschickt.

Eingesperrt am Tresen glaube ich, meine Gedanken fassen zu können. Ich weiß, es ist ein Trugschlug und ein fahles Bild; ein bloßes Gefühl, daß alle Welt, zur Sphäre zusammengesunken, um mich trohne, und jedes Ding dazwischen entbehre seiner Weltlichkeit, da es, zu bloßem Hindernis verkommen, als Staffage hingeworfen in der Hohlheit vorm bunten aber flachen Hinterund der Sphäre sei. Nichts kann größer als die Weite jener Kugel sein. Kein Blick von mir reicht weiter, als bis zu dieser aufgeblähten Schale, dessen Mittelpunkt ich bin.

Mir ist, als fiele ich Schritte zurück, welche ich bereits gegangen war. Die Zigarette zwischen meinen trocken\-en Fingern. Elisabeth zurück hinterm Tresen, geschäftig, füllt drei Gläser mit schäumendem Bier. Dazu drei widerliche Kräuterschnäpse. Ich sehe ihr nach wie sie alles an den Tisch zu den auffahrenden Kerlen ihinter meinem Rücken schafft. Solange man meinen Blick nicht bemerkt. Solange ich mich nicht selbst in ihrer Aufmerksamkeit entdecke. Kaum kehrt Elisabeth von ihrem Abenteuer zurück, stoßen die drei mit ihren Schnäpsen lautstark an und leeren die Gläser in einem Zug. Wer von ihnen verzieht das Gesicht.

Trotz allem Lärmen, trotz allem Rauschen der Gespräche, ist es still um mich.

Hier, im Magen dieses Hauses, liegt meine Nacht begraben. Wie könnte ich mich dagegen erwehren, ein jedes meiner zukünftigen Worte scheint wie in Stein geschlagen, jede Bewegung, die ich tun werde, ist in Zeichen transkribiert und die Semantik jeder Geste vorbestimmt. Abzuweichen von der gezeichneten Richtung ließe mich zittern, am Rande des Weges würden mir die Beine zerbrechen und die Arme in Trümmer fallen, nichts brächte mich zurück in meine Bahnen; nur sterben würde ich nicht, nicht verhungern, nicht verdursten, aber ein Lodern wäre die Sehnsucht und ein dumpfes Rasen brächte mir ein Heimweh, das mich nicht zu Tode ließe.

Die Hand an meiner Stirn und der Ellenbogen gestützt auf dem Tresen. Es muß aussehen, als sei ich in Gedanken versunken, und das bin ich; aber nicht genug für diese Geste, alles ist geplant, daß man mich sehe und glaube, ich sei in mir vergraben, ein Wort an mich erhaschen, ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig flüchtig, so mag es sein, meinetwegen, aber doch ein Tropfen der Zeit und Mühen der Andern für mich zu trinken; vielleicht lebe ich ein wenig länger. Elisabeth fragt mich. Meine Hand geschwind herunter von der Stirn. "Das Letzte heute, sollte ich wohl sagen. Ich habe doch schon mehr als gewöhnlich getrunken, sicherlich bekommt es mir nicht gut." Bald schon steht das nächste Glas vor meiner Nase und ich danke Elisabeth recht freundlich. So beinahe betrunken wie ich bin. Ich vertrage doch wohl kaum etwas davon, nicht so wie die Männer hinter mir, die noch lachen, auf ihre Weise noch immer geistreich sind, was kann ich hören von den Wortfetzen, die zu mir herüberschallen, besoffenes Geschwätz, Geschwafel - sprich für dich selbst, traurig kollert es doch auch in deinem Kopf, Fenneck! Entdecke dich selbst, eine Zigarette noch, und die Minuten später habe ich nichts gelernt.

Eine ganze Weile lang noch sitze ich hier, und wie eine Mauer um mich ist die Luft, die mich schützt, mich von den anderen trennt, der blaue Nebel, von meinem Arm, meiner Hand, den Fingern und der Zigarette dazwischen steigt er auf und formt eine vertarute Hülle um mich. Mein Blick sucht nach neuen Dingen, an die er sich haften kann, als ob er ebenso durstig sei wie ich, doch es findet sich nichts neues, nicht der Blick aus dem Fenster, dessen Lichter von der einen auf die andere Seite reisen, nur nicht stehenbleiben, die Augen nach oben, die Augen nach links, und wieder, hinter mir noch die drei Männer, rauchen wie ich, und ebenso ein Glas vor ihnen aufgebart. Ich sehe sie einen Moment lang an, als zwei von ihnen sich erheben und dem dritten auf die Schultern schlagen, lachen, ihre Zigaretten ausdrücken und sich mit vielen Worten verabschieden, die gurgelnden Stimmen erfüllen den Raum und auch Elisabeth schickt mit einem Nicken ihres Kopfes noch vor dem lauten Zufallen der Tür den Beiden ein Gruß an die Rücken, kommt wieder zu ihrer Arbeit zurück, trocknet die Gläser mit einem Tuch, und auch ich wende mich wieder zum Tresen. "Wer waren die beiden", frage ich sie, obwohl es mir gleich ist. Meine Stimme klingt trocken und neu.

"Was weiß ich", antwortet sie ohne mich anzusehn. "Man kann doch nicht jeden kennen, der hier zu Tür hinausgeht."

Diese Beiden haben den Dritten also hier zurückgelassen. Und das erste Mal an diesem Abend kommt mir der Gedanke, daß es Zeit sein könnte, zu gehen, vielleicht sollten sie meine Inspiration sein, meine Muse, mein Sicherheben illustrieren. Elisabeth sieht mich nicht an, geschäftig ist sie aber, und ich muß vermuten, selbst wenn sie es nicht wäre, würde sie mich mit Nichtbeachtung strafen; ich kann es kaum raten, welches meiner kargen Worte - womöglich gar die Kargheit selbst - sie verärgert hat. Also tue ich mich genüßlich an meiner Zigarette, drehe und wende sie zwischen meinen Fingern, vollführe einige meiner Kunststückchen damit, lasse sie tanzen. Und springen mit der Glut. Wie ein Schlag durchzuckt es mich! Meine Hand, flüchtet, stößt den Aschenbecker zu Boden der aufschlägt mit Lärm, aber nicht zerbricht. "Verdammt", zische ich, noch bevor die Asche nach unten gefallen ist. Das dumpfe Klirren, und keine Scherben.

Elisabeth erschrickt, zuckt zusammen, ihre Hand fährt an den Stoff über der Haut die ihrem Herzen Schutz ist, ihre tiefbrauen Augen starren auf mich und ich sehe meine Scham darin.

Alle Augen auf mich gerichtet. - Wie ich es hasse. - Wie ich es hasse, mich gefangen zu sehen hinter ihren Netzhäuten, mit Fäusten dagegenschlagend, um Hilfe rufend, flehend, wie möchte ich mich daraus befreien, meinen Teil, meine Freiheit, doch sie ist fern und unerreichbar, nichts was mein ist könnte sie erreichen. Auch nicht meine Hand, die sich mit mir bückt, das Unglück aufzulesen.

"Lass nur", meint Elisabeth, die hinter der Theke hervorgeeilt ist, einen Besen in ihrer Hand.

Ich gehorche; soll sie auch noch betteln und mich abwimmeln, sie wird es doch sowieso wegkehren, ganz gleich, wie sehr ich ihr zur Hand gehen möchte. Allmählich kehrt das Gemurmel zwischen die Wände zurück, und die belustigten Gesichter sind wieder fremd. Was bleibt ist ein wenig der Scham für eine Weile.

Elisabeth, sie hat sich vor mir aufgerichtet und stellt den Aschenbecher wieder an ihren Platz. "Das nächste Mal", sagt sie, "Bist du vorsichtiger mit deinen Zigaretten", und lacht.

Soll ich auch lachen? Obwohl ich mir dessen nicht sicher bin, versuche ich, zumindest eines dieser Lachen zu imitieren. Elisabeths Haut schimmert ein wenig, die feuchte Hand, vom Lappen den sie behende über die Reste der Asche am Boden gezogen hat. Sie legt ihn, zurück hinter ihrer Theke, beiseite und trocknet sich.

"Das ist mir auch schon passiert", sagt sie zu mir, "Gerade letzte Woche, den ganzen Boden hatte ich gewischt und alles sauber, doch den Aschenbecher hier, deinen, den hatte ich noch voll. Nur eine Unachtsamkeit, nur kurz nicht hingesehen, schon lag er unten, gerade als ich ihn ausleeren wollte, ja gerade weil ich ihn ausleeren wollte, hat er sich aus meiner Hand gestürzt."

Das Knarren der Dielen, der Dritte von hinten. Ich habe sein Erheben nicht bemerkt, nun steht er hinter mir, berührt mich beinahe, läßt seine schwere Hand vor mir auf das Holz des Tresens fallen. "Zahlen" gurgelt er, freundlich und bestimmt. Mein Versuch, so unauffällig wie möglich zu sein, neben seinem Arm zu verschwinden, zur unbeachteten Selbstverständlichkeit zu werden, ist bereits vergiftet, wie geschickt, wie trickreich auch immer ich mich nun anstellen möge. Die Aschewolke hat mich aus dem Inventar gezeichnet. Noch während Elisabeth an seiner Zeche rechnet, spricht er mit mir.

"Da haben sie ja eine ganz schöne Wolke gezaubert!"

Der Aschenbecher, ich verstehe. "Das habe ich wohl", antworte ich ihm und versuche, schon jetzt eine kostbare, weil unscheinbare Feindseligkeit in meine Stimme zu legen; obwohl ich noch in gleichen Augenblick bezweifle, daß etwas derartiges bis zu ihm durchdringen wird, er steht wohl fest auf den Füßen, aber seine Stimme trägt den Alkohol schon ganz in ihrer Farbe.

Er reicht mir seine Hand und stellt sich vor. Ein wenig träge ergreife ich sie, schon schüttelt er sie heftig.

"Reinecke", pfeift er mir entgegen und fährt gleich fort. "Sie sind wohl öfter hier?"

Unmerklich neige ich meinen Kopf zur Seite.

"Nun ja", meint er, "Sie scheinen sich ja mit der Dame hinter der Theke ganz gut zu verstehen!"

Ich bin von meiner schnellen Antwort selbst ein wenig überrascht: "Nunja, sicherlich öfter, als es gut für mich wäre."

Nun, da er wieder herzhaft lacht und ich mich, von scheinheiliger Höflichkeit zum Einstimmen genötigt, wiederum in Gefahr sehe, von Reinecke kameradschaftlich auf den Rücken geschlagen zu werden, bugsiere ich eine Zigarette zwischen uns - vielleicht ja wird der Rauch eine Trennwand sein, und arglos abwenden kann ich mich unter solch einer Konstruktion auch - eine, zwei Sekunden lang ausruhen, den Blick aus seiner Richtung lösen, wenn ich die Asche der Zigarette entsorge. Elisabeth sieht mich jedesmal dabei an. Ein wenig Schadenfreude über meinen unverhofften Freund ist wohl auch dabei, ich will es ihr nicht verübeln. - Die Zigarette, ein Fehler, der uns - wohl nur aus seiner Sicht - näher bringt; er gibt mir Feuer, hat wohl damit gespielt, die ganze Zeit, mit seinen Händen in der Hosentasche und ein gedämpftes "Danke" aus meinen halbgeschlossenen Lippen läßt ihn schließlich doch nur für einen kurzen Augenblick seine Rede vergessen. Ich ziehe und bin die Sekunde ganz bei mir.

"Wissen sie", beginnt er, "Eine ganze Weile lang bin ich schon nicht mehr hier gewesen, habe mich ein wenig in der Welt herumgetrieben, hiervon ein wenig und davon, Brasilien, Venezuela und noch ein paar mehr. Wie die Welt eben so ist, groß und dreckig und beinahe rund!" Betrunken ist er und fröhlich, seine Zunge locker, offensichtlich. Die kurze Zeit, seit ihn seine Kumpanen hier zurückgelassen haben, scheint ihn wieder mit Worten angefüllt zu haben, so scheint es mir, und aus einem Loch in seinem Kopf, presst er sie heraus. Ein tiefes, vergnügtes Lachen schallt aus seiner Kehle, er klopft mir auf die Schulter und ich zucke zusammen. Noch bevor ich mich winden kann, nimmt er sie zurück, beugt sich, noch immer mit seinem fliegenden Grinsen im Gesicht, zu mir herüber und erzählt weiter seine Worte.

"Sehen sie die Narbe an meiner Hand?"

Tatsächlich, seine rechte Handfläche ziert eine längliche Narbe, von beinahe dem Fingeransatz bis hinunter zum Gelenk.

"Sie ist wie eine Trophäe für mich, eine Belohnung und ein Andenken für alle Reisen, die ich gemacht habe. - Wissen Sie, woher ich sie habe? - Von Buenos Aires mit dem Zug nach Santiago. Kleiner Teil der Reise. Ich setzte mich gegenüber einer jungen Frau ans Fenster. Nicht, daß nicht noch andere Plätze frei gewesen wären, in die ich mich hätte niederlassen können, aber mir gefiel ihr Gesicht, eigentlich der Ausdruck darin, ein wenig traurig und versunken, aber stolz; als sei sie der einzige Mensch im Zug, und die Welt da draußen nur Kulisse; eine Strähne ihreres schwarzen Haares fiel ihr ins Gesicht und über das linke Auge, das fand ich irgendwie auch keck - nein, das ist das falsche Wort - es war fremd, und wirkte wie ein Gitterstab vor ihrer blassen Haut. Sie hatte mehrere große Taschen bei sich, recht schmal waren sie und lehnten zwischen den Sitzen. Was wohl darin sei, habe ich mich gefragt. - Wie auch immer, wir saßen uns eine ganze Weile lang gegenüber und sie muß es wohl mit der Zeit bemerkt haben, daß ich sie angesehen habe, nur ganz leicht, ohne meinen Kopf vom Fenster zu wenden, zumeist habe ich ja tatsächlich die vorbeiziehende Landschaft betrachtet. Sie dreht sich also zu mir und lächelt fest und sagt: 'A beautiful view, isn't it?' Ein wenig überrascht war ich, von ihrer Initiative, aber auch erfreut, auf einer so langen Zugfahrt mit jemandem, besonders einem hübschen Mädchen, ins Gespräch zu kommen; der Landschaft bei der Flucht zuschauen ist eine Weile lang ganz angenehm, ermüdet aber auf Dauer doch die Augen, zumindest meine. Nun, wissen sie was? Ihr Akzent kam mir doch sehr vertraut vor, und auch auf das Risiko hin, nur einen fragenden Blick von ihr zu ernten, antwortete ich: 'Ja. Das ist er in der Tat.' Jetzt verwandelten sich ihre etwas streng dreinblickenden Lippen in ein echtes Lächeln. 'Sie sprechen deutsch?' sagte sie erfreut. - Das ist schon ein schöner Zufall, nicht wahr?"

Ich nicke.

"Wir haben uns also ein wenig unterhalten. Wie sich herausstellte, war sie eine Fotographin, auf dem Weg zu ihrer ersten Ausstellung nach Santiago. Bewundernswert, wie ich finde, und ein bischen neidisch bin ich auch gewesen. Das ganze Abenteuer noch vor sich zu haben! Jetzt war es auch klar, was in den Taschen befand; ihre Fotographien nämlich, und, wie sie mir sagte, in der größten von ihnen befände sich ihre liebste. 'Sie ist noch in ihrem Rahmen, nicht lose wie die anderen. Ich habe sie direkt von der Wand genommen und bin ehrlich gesagt etwas besorgt, irgendwie zumindest, weil es mir von allen meinen Fotos das Teuerste ist.' Ihr Kopf war zur Seite geneigt. 'Möchten sie es sehen?' Natürlich wollte ich. Sie öffnete die Tasche an beiden Seiten und legte das flache, in Glaß gefaßte Etwas frei. 'Herausholen müssen sie es selbst, das gehört dazu; aber seien sie vorsichtig und lassen sie es nicht fallen.' Sie sah mich erwartend an, an die Wand des Zuges gelehnt, das Gesicht noch immer geneigt, spielte sie, den Ellenbogen weit von sich gespreizt, mit den hinter ihrem Kopf zusammengebundenen Haaren. 'Na los, keine Furcht!' Begierig darauf, das Foto zu sehen war ich, sicherlich, aber sie hatte mein Zögeren bemerkt, das sich in meine Bewegungen geschlichen hatte; Zögern, warum, fragen sie sich - aber was, sagen sie mir, wie hätte ich mich verhalten müssen, was getan, wenn ich dies Bild gesehen und nicht von ihm begeistert gewesen wäre? Auch ein geringes Heucheln hätte jeder Ignorant bemerkt; wenn man Erwartungen schürt, ist es leicht, tief zu fallen, nicht wahr? - Ach! Binsenweisheiten sind leider viel zu häufig wahr, öfter als man es ertragen möchte!"

"Das sind sie wohl, denke ich."

"Ich wischte jedes Innehalten weg - doch gerade als ich meine Hand auf das Bild legte um es aus der Tasche zu ziehen, bremst der Zug heftig, wie ein Blitz durchzuckt es mich. Das Glas hätte nicht scharf sein dürfen, doch das war es, wie ein Messer."

Im Augenwinkel sehe ich die Narbe wieder, betrachte sie verstohlen, ein fast gerader Schnitt, beinahe schön ist sie.

"Der Zug mußte bremsen weil wohl etwas, wie ich später erfahren habe, auf den Gleisen lag; ich habe den Schaffner gefragt, und das in meinem gebrochenen Spanisch. - Nun, das Mädchen ist erschrocken und verbindet mir, unter einigen Entschuldigungen, die Wunde mit einem Taschentuch, das sie aus ihrer Tasche gezogen hat. Mich hat ihre Fürsorglichkeit berührt und den Schmerz vergessen lassen; ein wenig hat es mir auch gefallen, von ihr umsorgt zu werden. Es hat sich doch also fast gelohnt, würde ich sagen!"

Er lacht, und ich beneide ihn.

"Schließlich ziehe ich das Bild doch noch aus der Tasche und sehe es mir an. Und Heucheln, das mußte ich wirklich nicht. Sie sagt zu mir - wir beide lachen schon wieder, das war so schön - daß sie das Blut, falls ich nicht dagegen haben sollte, auf dem Glas belassen möchte." Er sieht mein verdutztes Gesicht. "Das überrascht sie?" fragt er mich.

"Auf gewisse Weise."

"Nun, vielleicht haben sie mit ihrem Erstaunen recht. Aber ich sage ihnen, warum sie das getan hat."

"Warum also?"

"Weil es das Bild echt gemacht hat. Also ob - wie soll ich das sagen? - als ob diese Fotografie wieder zu dem werden würde, was sie vor ihrer Verwandlung gewesen ist. Wieder zu Fleisch, und eben wieder zu Blut - mit meinem Blut, verstehen sie?"

"Was ist auf dem Foto gewesen?"

"Können sie sich das nicht ausmalen?"

"Sagen sie es mir trotzdem."

Er sieht mich zunächst ein wenig mitliedig an, doch dann sagt er still, als habe er das Bild lebendig vor Augen: "Ein Akt von exquister Schönheit; in Ebenmaß von Körper und Symmetrie. - Nun war es so, als habe man ihm das Leben zurückgegeben."

Obwohl ich von seiner offensichtlichen Überspitzung wenig halte, finde ich mich dennoch geneigt, etwas Wahres darin zu finden; die Essenz seiner Worte ist unzweifelhaft echt und ich entdecke ich mich bei dem Wunsch, die Leibhaftigkeit dieser Erfahrung ebenso in mir zu spüren, wie er es offensichtlich getan hatte; und erneut vor einem Augenblick, als er nur davon sprach.

"Die Worte mit ihr sind mir bis heute teuer geblieben, die fruchtbaren Stunden bis Santiago, wo wir gemeinsam den Zug verlassen haben und schließlich jeder seiner Wege gegangen ist; ihre Ausstellung zu sehen blieb mir keine Zeit, aber es war nichts verloren daran, schließlich hatte ich ihr Meisterwerk bereits erblickt und alles andere wäre doch nur wenig mehr als eine Ermahnung an ihr wirkliches Können gewesen. Natürlich habe ich sie niemals wieder gesehen, aber solche Begegnungen behalten ihre Würze eben nur, wenn sie einmalig bleiben; sie zu strecken oder ihren Zauber wiederholen zu wollen, läßt sie in der Erinnerung nur schrumpfen und in ihrer Bedeutung verwässern."

Seine Hand behutsam wendend, als sei sie ein Spiegel und man könne alles darin sehen, wonach man nur begehre, wenn das Licht nur im rechten Winkel darauf schiene, sagt er: "Im Grunde ist es nichts Besonderes für eine Narbe. Aber es erinnert mich an diese Reise. Und daran, wie frei ich war, wie ich immer wieder darum kämpfen muß, aber auch wie wichtig das Bewahren ist. - Aber auch an den angenehmen Zufall, den man Glück nennt."

Er lächelt. Überhaupt scheint Lächeln mir, in diesem Moment, wie etwas, das man zu inflationär gebraucht.

"Ich nehme an", fährt er fort, doch sagt es, als spräche er nicht zu mir, sondern nur zu sich selbst, "Die Ferne hat für mich immer den größeren Reiz gehabt. Gegenüber allem, was um mich war, meine ich. Als habe man das Nahe, ein jedes, das einem beinahe penetrant auf den Augen klebt, so daß man es nur unscharf sehen kann, gerade deshalb, gerade wegen seiner geringen Distanz, nicht im Blick. Man bemerkt es nicht. - Und wissen sie warum? Weil es tatsächlich kaum etwas ist! Aus der Ferne ergießt sich so viel mehr auf uns. Was alles zu entdecken und was alles zu erfahren ist, wie viel mehr davon muß es geben - und das tut es, das tut es fürwahr - als nur das Wenige, das fast an unseren Schädel stößt! Was bleibt einem anderes übrig, als zu flüchten und zu entdecken, zu forschen und zu sehen. Alle Länder möchte man bereisen; wie schade nur, daß er gar so viele sind! Aber ein paar zumindest, vielleicht auch einige mehr, möchte man sicht doch nicht entgehen lassen."

Stille einen Augenblick.

"Und?" Er sieht mich an und fischt dabei eine Zigarette aus der Schachtel. "Ist es bei ihnen nicht so?"

Ich schüttle langsam den Kopf. "Ich glaube nicht."

Was denn gibt es zu entdecken in der Ferne? Sie scheint so verlockend zu sein, sie mag rufen wie das Echo, das zu uns zurückfindet, aber es ist ein falsches Wort, eine Lüge die uns Neues verspricht, Unbekanntes enthüllen, Unentdecktes erforschen, für uns, die eigene Hand, die nur vertrautes greift; und doch muß die Ferne augenblicklich verschwinden, wenn man sich ihr nähert, und alles, was man hinter ihr zurückgelassen hat, muß zur neuen Fremde, zur neuen Ferne werden. Wie könnte man aus einem Kreis ausbrechen, wie seine Dimensionen übertreten? Nur nach oben oder unten; doch diesen Weg kann ich nicht gehen, ohne den Keis zuvor in etwas anderes zu wandeln.

"Das tut mir leid für sie", erwidert er und zündet die Zigarette an.

Reinecke, und ich hasse es, seinen Namen nennen, erzählt mir noch eine Weile lang von seinen Reisen, ausufernd, detailverliebt, und ironischerweise blüht in mir jetzt ein eigener Drang zu fliehen auf; nach Hause, das nun das Neue ist, das wieder Unbekannte unter der wohlvertrauten Farbe des Tresens und dem furchigen Gesicht des Fremden, der mir, nach all seinen Ausführungen, so widerlich vertraut vorkommt. Mit jedem Satz den er sagt und jedem Nicken, das er von mir zu erwarten scheint, versuche ich, desinteressierter zu wirken und ihn nicht, durch eine Frage vielleicht, oder einen fragenden Blick bereits, zu einem neuerlichen Ausbruch zu ermuntern. Und ich wundere mich, wie außerordentlich gut es mir gelingt, trotz allem höflich zu bleiben; denn wenn schon er den Anstand nicht hat, meinen Widerwillen zu bemerken, so will doch wenigstens ich mir meine Integrität bewahren, und nicht, durch eine schroffe Bemerkung vielleicht oder eine allzu offensichtliche Geste, ihn vor den Kopf zu stoßen und meinen Widerwillen in den Schädel zu schlagen. - Wie eine Ausrede klingt das, und nichts mehr als das ist es auch. An Mut hat es mir immer gefehlt.

Irgendwann schließlich entschließt er sich, daß es Zeit sei zu gehen. Er klopft mir ein letztes Mal auf die Schulter, als seien wir alte Freunde. Mein gequältes Lächeln sieht er schon nicht mehr, er geht Richtung Tür und ist so schnell verschwunden, daß nun beinahe eine Leere neben mir klafft. Elisabeth und ich sehen uns mit verstehenden Blicken an. Vielleicht hat sich, denke ich, das ganze Ertragen doch gelohnt, für so einen Blick.

Am Ende ist alles so einfach. Verwischt, als sei seine Schwere ein Lächeln gewesen. Ich trinke meinen letzten Schluck aus dem Glas. Wenn der Trinker gegangen ist, so will auch ich nicht länger bleiben! Wer bin ich denn, ihm seinen Platz im Leben streitig machen zu wollen?

Das Geld lege ich auf den Tresen und stehe auf. Ich schwanke nicht, nein, ich schwanke nicht.

"Sei vorsichtig", sagt Elisabeth und klingt dabei ein wenig zerbrechlich, "Dir scheint es heute nicht so prächtig zu gehen."

Ich nicke ihr zu und bin dankbar. Erst der Blick, dann die Sorge und sie hat recht, ich schwanke ein wenig und versuche, schließlich zur Tür hinaus, die laut hinter mir zufällt, mich von der Wand die Treppen hinuntergeleiten zu lassen. Schritt auf Schritt, nicht mühsam, aber unbeholfen. Meine Hand auf der Tür zur Straße, ich trete hinaus.

Wie angenehm die Kühle der Nacht mir wieder um die Nase schlägt und der leichte Wind mir frohe Kunde des Tropfens Freiheit ist, die Wände hinter mir, und Türen und Fremde, und das erhabene Gefühl, zumindest einen bekannten Menschen, Elisabeth, hinter mir zu lassen, sie meiner Ferne auszuliefern; was sicher keine Strafe ist, doch der Gedanke daran bereits versüßt mir die Reise und auch das bißchen Stille der nächtlichen Stadt auf meinem Weg nach Hause. - Ich schwanke nicht.

Meine Bank zieht an mir vorrüber.

Ein schlafendes Raubtier ist die Stadt, dessen Ohren sich, trotz allem, bei jedem Geräusch argwöhnisch in jene Richung wenden, aus der die Störung zu ihnen dringt; es ist ein leichter Schlaf und Stille herrscht doch nie für sie, es bleibt immer ein Rauschen, ein Oberton der Häusermasse übrig, der sich sich niemals überdecken ließe.

Meine Bahnen, mühevoll um diese Zeit, und langsam wie ich es sonst nicht von mir kenne; doch weit ist es nun nicht mehr, schon biege ich in die schmale Gasse ein, die Enge zwischen den hohen Häuserklötzen scheint mich wie mit großen Klauen gegen ihr schmales Ende hin hineinzuziehen. Hier kann man jeden meiner Schritt hören.

Die Dunkelheit beschreiben. Die besondere Struktur der Farbe des Nachtblaues zu Worten destillieren - wie es, einem gefräßigen Untier gleich, das Licht zu sich seiner Gewalt entgegenstemmenden Punkten zusammenhetzt, die wir Sterne nennen. Ich sehe nach oben, bleibe nicht stehen. Ein Streifen dieser Sterne in den Häuserschluchten. Trotz aller unverrückter Schwärze der Dächer über mir, bewegen sie sich doch vorm nachtblauen Hintergrund des Firmamentes. Mir kommt der Gedanke, daß, könnte ich tief genug in die klaffende Weite blicken, sähe ich am Ende nur das eine, mich selbst; mit erhobenem Kopf in die Sterne schauend.

Plötzlich falle ich.

Noch während des Fallens werde ich mir meines Schrecks gewahr, betrachte ihn, bemitleide ihn; und der schwarze Asphalt dringt wie ein Blitz in meine Augen. - Ein Reflex hat sie geschlossen. Ein Schlag. Ich liege am Boden.

Hat man mich heruntergestoßen? Ich sehe auf mich herab, auf meinen Rücken, wie er vor mir liegt, und fauche, pah!, ein Mensch, die Hunde, sie bellen.

Ihr Lachen schallt aus den Hinterhöfen, ich habe sie aufgeschreckt, wie ein dissonanter Chor schallt ihr Spott zu mir herüber.

Ein Schmerz.

Als ich meine Augen öffne, den Kopf mühsam hebe, sehe ich einen blutenden Stein vor mir liegen. Ich richte mich ein wenig auf, betrachte ihn, bewundere seine Stärke, seinen Mut. Wie gemeißelt liegt er, scheinbar unverrückt.

Ein kitzeldes Etwas an meinem Kopf. Die Hand, meine Finger fahren zitternd über meine Stirn. Rechts ist die Haut aufgeschlagen, ich fühle es, das Blut, die Wunde.

Die Hände aufgeschürft in feinen roten Linien.

Mir ist, als habe ich Stunden so gelegen, meine Glieder sind fest, ich erhebe mich, es ist schwer und mühsam meinen Körper zu stellen, zurück auf die Beine. Noch immer lärmen heiser die Hunde und auch ich zittere. "Köter!" belle ich ihnen zu, "Seid doch still!"

Worüber bin ich gefallen? Über meine eigenen Beine? Am Boden kann ich nichts entdecken. Keinen Grund, keinen Abgrund, nichts. Wie eine glatte tote Schlangenhaut liegt die Gasse vor mir, schmutzig, naß, aber makellos. Ich finde doch an allem Grund zu scheitern, und sei es nur der Weg nach hause. Jeder Schritt, jeder Schnitt im Fleisch ist Camouflage.

Ich putze mir dem Schmutz von den Kleidern, doch Medizin ist es nicht.

Einige Minuten lang höre ich meinem unruhigen Atmen zu, jedem Ein, jedem Aus - das Blut als Rinnsal über meiner Schläfe scheint nur langsam zu trocknen.

Ich muß hier weg; doch der Stein - den Stein nehme ich mit. Noch einmal kehre ich mich zur Erde zurück, hebe ihn auf, lasse ihn wie einen Edelstein in meine Tasche gleiten, als sei er lupenrein, kostbar, niemand sieht ihn, ich, sein Bewahrer und Beschützer.

So schreite ich die letzten Meter, jedem meiner Schritte achtend, nach Hause. Es sind die selben Häuser, dieselben Straßen und dennoch scheint mir jede Mauer, jeder Stein wie ausgewechselt. Wie eine lächelnde Maske, auf den Kopf gestellt. Ein Taschentuch aus dem Mantel gekramt, halte ich mir auf die Wunde. Daß mich nur niemand sieht, noch mehr Spott möchte ich nicht kennen, wie sehe ich aus? Ein kümmerliches Bild. - Aber wer kann den Sand halten, der durch seine Finger rinnt.

Beinah angekommen. Und niemand scheint mich bemerkt zu haben, ein wenig froh bin ich, wie Galgenhumor ist es wohl, denke ich, und hebe schon die linke Hand, die Eingangstür zum Haus zu öffnen, als ein Unbekannter es als erster tut, er tritt eilig aus dem Haus, ich stocke, lasse ihn passieren, er streift mich nicht. Durch die zufallende Tür schlüpfe ich in das schwarze Loch nach innen.

Wie Stiche mit Nadeln ist das Echo meiner Schritte durch den Flur zum Treppenhaus. Leise muß ich sein. Wer mich hört, der kennt mich auch.

Jeder Schritt die knarrenden, schwarzen Stufen der Treppe hinauf ist wie ein Wagnis und mit jedem Zentimeter der mich weiter hinaufführt zu den Mauern meiner Wohnung, lastet eine immer größer werdende, irre Schwere auf mir. Innehalten, das möchte ich jetzt wie nichts anderes, mich niederlassen auf einer dieser Stufen, ruhen, schlafen; und wenn morgen in der Früh die ersten Hausbewohner aus ihren Türen durch das Treppenhaus eilen, werde ich, wenn ich Glück habe, noch immer schlafend, bereits verschwunden sein.

Ich öffne die Tür und trete hinein. Nur den Geruch empfange ich mit Gunst. Es ist dunkel, still, wie eingefroren. Jetzt erst bemerke ich die Stille der Nacht, das Sinken des Lärmes, jetzt erst bin ich allein. Um so vieles lauter scheint mein Atmen zu sein. Licht; grell ist es und durchscheindet die Stille ein wenig, ist auch grausam in seiner Wärme, die spärlich ist, daß man nach mehr verlangt, durstig wird wie in der Wüste.

Nicht nur den Mantel werfe ich ab, ich entkleide mich ganz, lasse alle Sachen auf den selben Haufen neben der Tür fallen und trete, nun ganz nackt, in mein kleines Badezimmer neben der Küche. Im Flur lösche ich das Licht wieder, kurz ist es wieder leer; dann erhellt mir die kleine Birne am Spiegel über dem Waschbecken das Gesicht, so plötzlich, ich erschrecke; ein Geist sticht hervor, möchte mir Angst einjagen, mich vertreiben, bleich, blutrot, doch ich bin es selbst, natürlich, blicke, starre mich an, noch immer das Taschentuch an die Stirn, auf die Wunde gepresst.

Vor mir die Gasse, der Blick auf die stolzen Hinterhöfe.

Vorsichtig nehme ich das Tuch herunter, löse es behutsam von dem bereits verkrusteten Blut. Nichts bricht wieder auf. Jetzt erst sehe ich sie richtig, in ihrer ganzen Pracht, dunkles Rot, von eigenartiger Struktur.

Meine Finger über der rauhen Wunde.

Ein Bild, wieder, in Worten.

Meine Trophäe fühlt sich an wie etwas Fremdes, das sich auf meiner Haut niedergelassen hat, ein Parasit, eine Zeichnung. Ich lösche das Licht, die Wohnung fällt wieder in Dunkelheit. Als müsse ich leise sein, als könne ich jemanden wecken, schleiche ich in mein Bett. Niemanden kann ich aufschrecken, mit keinem meiner Schritte. Ich lasse mich in die Kissen fallen und sinke nach wenigen Minuten bereits in einen unruhigen Schlaf. Ich denke an Santiago und den Zug, an die Anden und an rohe, ungeschliffene Berge.

Und plötzlich auch, denke ich wieder an Livia.

Es ist so einfach. Es ist gewöhnlich, ganz und gar. - Ich vermisse sie. Ich treibe den Fluß hinab, weiter und weiter weg von ihrer Nähe, sinke tiefer, jeden Tag tiefer und vermag mich nicht zu halten, nicht zu schwimmen, also sinke ich, unaufhörlich, schweigsam auf den Grund.
 



 
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