Satya Yuga

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Hale-Bopp

Mitglied
Kumari, Rivkah und Lakshmi standen Hand in Hand im Eingang ihres Klassenraumes und ließen ihre Blicke durch die Hallen der Schule streifen. In ihren Augen stand ein unaussprechlicher Zauber, ein süßer, reiner Hauch der Unschuld und des Lichts. Sie hatten das Blau der ewigen Ozeane und das Schwarz der ewigen Nacht des Raumes. Jeder flüchtige Blick eines anderen Augenpaares, welcher diese funkelnden Sterne strich, wurde für einen Moment gefangen, sah sich für einen Moment- bewusst oder unbewusst- dieser wortlosen Verbindung gegenüber, in der der Ozean, das Weltall und das Atmen der Götter in klaren, unverfälschten Blicken aus den Augen dieser drei Mädchen in die Schule, welche eigentlich eine Pflanze war, strahlte, Wände, Tische und Menschen wahrnahm und diese so für einen winzigen Moment in dem großen Licht aufgehen ließ.
Dann ertönte schräg über ihren Köpfen das dumpfe Gluckern der Schulglocke und rief sie somit in ihren Klassenraum zurück. Alle drei drehten sich gleichzeitig auf der Türschwelle um und kehrten ins Klassenzimmer zurück. Das Licht, welches in warmen Orange durch das Raster der Jalousie fiel, ließ die Möbel ihres Klassenraumes in einem sonnengelben Schimmer aufleuchten, geradeso als gäbe sie einen Wink und einen leisen Hauch, von dem kosmische Lichte, welches in den Seelen der drei Mädchen wohnte. Demgegenüber wirkten die sonnengelben Strahlen fast wie ein Abstieg in rein physische Ebenen, doch mit sanftem Geiste betrachtet, war es trotzdem ein Leuchten von profaner Schönheit.
Die drei Mädchen setzten sich auf ihre Plätze. Rivkah stützte ihren Kopf in die Hände und blickte melancholisch auf die schmierigen Kreidespuren, welche sich über die Schultafel zogen. Und während ihre Augen diese Kreidelinien verfolgten, versuchte sie festzustellen, was sie nun von dieser Schule halten sollte. „Einerseits“ dachte sie“, kann man hier eine Menge Spaß mit seinen Freundinnen haben, die Lehrer sind größtenteils nett und freundlich und an der Schulkantine kann man immer Süßes kaufen. Doch irgendetwas ist auch komisch an der Schule, irgendendwie sind die Flure, Gänge und großen Räume fast wie etwas, dass man mal geträumt, aber dann wieder vergessen hat. Ich weiß noch, wie mich meine Eltern damals in die Stadthalle mitgenommen haben, als ich kleiner war und wie ich ganz beeindruckt von all dem Gold und den Verzierungen war, die auf der Decke und all den Wänden war. Diese Schule hat nichts davon, aber irgendwie wirkt sie trotzdem viel beeindruckender und fremdartiger, als es die Stadthalle je könnte.“ Kumari stieß Rivkah kichernd in die Seite, deutete auf eine herumalbernde Mitschülerin, und unterbrach jäh den Gedankenstrom. Rivkahs Mund verzog sich zu einem sanften Grinsen.

Auch die Unendlichkeit hat Facetten, wie uns die ewige Bewegtheit des Ozeans, die mannigfaltigen Spiele des Lichts und die Explosionen des Raumes erahnen lassen. Dementsprechend waren auch die drei Mädchen nicht der Geist einer Welle, sondern drei Blüten eines wundersamen Baumes.
Rivkah war verträumt und still, sanft wie der Schlaf und stets mitfühlend gegenüber ihren Mitmenschen. Kumari war frech und gewitzt, mit einem alterstypischen Hang zur Albernheit, aufgrund all dessen aber auch stets ein Antrieb für die anderen. Lakshmi war anständig und bedacht, still, aber aufmerksam und somit ein ordnender Geist innerhalb des Gespanns.

Wenn wir den Ozean betrachten und uns nur für einen Moment sein Wesen vorzustellen vermögen, so schlagen unsere Gedanken unweigerlich einen Weg ein, der an den Wahnsinn gemahnt. Halten wir nur für eine Sekunde inne und nehmen seine Weite, seine Leere, seine Ewigkeit, seine Farben, Gerüche und Strömungen in uns auf. Der Ozean ist wie eine riesige, leuchtende Sonne, die man über das Land entrollt hat.
Nehmen wir diesen Ozean als Gleichnis für ein Geheimnis für eine Ebene, in der Gott mit einem spricht. Dann trugen diese drei Mädchen den Ozean in sich, in jeden ihrer Gedanken und Handlungen. Wie ein gewaltiger Ozean rollten Welle für Welle unsichtbar und von den meisten unbemerkt durch die Schule. Sie belebten die Wüste und ließen heilige Früchte wachsen.

Plaudernd standen Lakshmi, Kumari und Rikah in der Essenschlange der Schulkantine und wurden Stück für Stück vorwärts geschoben. Der Ozean lag sanft und ruhig da und nur die leisen Kräusel auf seiner Oberfläche ließen erahnen, welche Tiefen ihm innewohnten. Der gräuliche Plastikboden der Mensa glänzte matt in dem unbarmherzigen Licht der künstlichen Beleuchtung. Neugierig wagte Kumari einen Blick nach vorne und beobachtete, wie Kinder ihre Teller mit einer grünlichen Masse an Essen gefüllt bekamen. Wie eine Welle brandete sie zurück und schüttelte angeekelt den Kopf.
Nach und nach lichtete sich die Schlange und brachte die drei Mädchen nach vorne. Die eierschalenfarbenen Teller landeten mit kratzenden Geräuschen auf den gelblichen Tabletts und wanderten quietschend über die Metallschienen, welche vor dem Tresen hingen.
Als sich die drei mit ihren gefüllten Tellern wieder umdrehten, empfanden sie auf eine ebenso wortlose, wie eindringliche Weise alle dasselbe. Sie sahen die Kringel und Strahlen aus Licht, die durch die milchigen Scheiben in die Mensa fluteten, sie sahen die amorphe Masse an Kindern, die sich lärmend durch die Halle bewegten und sie empfanden eine Mischung aus Schrecken und Schönheit, eine Mischung aus Faszination und Abscheu vor dem, was aus diesem bewegten Bild herauszuglänzen schien, eine flüchtige Ahnung nur, dass dieses Kaleidoskop an Sinneneindrücken nicht allzu verschieden von dem war, was sie erahnten, wenn sie ihre Augen schlossen: Den glitzernden, ewigen, wogenden Ozean. Schweigend gingen sie zu einem leeren Tisch und aßen.

Rivkah träumte von ihrer Schule und soweit sie sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass das geschah. Obwohl sie sich, wenn sie durch die Schule wanderte, oftmals fühlte, wie in einem Traum, hatte dieser Traum bisher nur tagsüber, inmitten allem anderen stattgefunden, was man Alltag nannte, doch nun wuchs die Schule wie ein Traum in einem Traum in ihrer kindlichen Phantasie empor und Rivkah träumte von der Schule, während sie schlief. Sie sah sich selbst auf dem Schulhof stehen, während Schmetterlinge den Himmelsraum bevölkerten, Lichtstrahlen ihren Weg durch die Luft bahnten und Boden, Blumen und die gläsernen Außenmauern der Schule benetzten. Rivkah folgte den glitzernden Bahnen der Lichtstrahlen, reiste auf ihnen zu den Sternen und spazierte schließlich zu dem großen Baum hin, der den Schulhof mit seinen ausladenden, mächtigen Ästen in Schatten hüllte. Seine mächtige Gestalt flößte Rivkah Ehrfurcht ein und ließ ihre Augen groß und staunend werden. Und dann sprach er zu ihr, ließ aus der tiefen knarzenden Dunkelheit seiner Wurzeln eine Stimme ertönen. Doch diese bestand nicht rein aus Wörtern, es war vielmehr ein fließendes Rieseln aus Bildern, Tönen, und Worten, der zu ihr drang. Es erzählte von der Schule, davon, dass sie einst ein Hort strahlendes Lichts gewesen war. Es erzählte von leuchtenden Regenbogen, die einst an unbekanntes Plätzen auf unbekannten Ebenen dieser Schule gestrahlt haben sollen.
Rivkah lauschte, fühlte und schaute aufmerksam hin, ganz hingezogen zu der eigenartigen, klaren Süße, die von diesem Rinnsal ausging, wie eine laue Brise, die übers Meer weht. Als der Ozean wieder glatt dalag, legte Rivkah ihre sanften, kleinen Arme um den Baum und versprach ihm, die Schule wieder zu einem Tempel zu machen.
Die Lichtstrahlen gingen noch weiter, doch was Rivkah auf ihrem Weg noch erahnen konnte, entbehrt aller Worte und lässt sich nicht darstellen. Als sie aus den Tiefen des Ozeans erwachte, fand sie sich jedenfalls in ihrem Bett vor, verwirrt und durcheinander, aber dennoch von einem seltsamen Gefühl tiefen Glücks erfüllt. Nachdem sie eine Weile ratlos in der Dunkelheit gelegen und versucht hatte, sich über den Inhalt ihres Traumes im klaren zu sein, stieg plötzlich die Schule in ihren Gedanken empor. Von Millionen Lichtern angestrahlt, schwebte sie wie ein Palast des Himmels über dem Ozean. Ohne den Grund dafür zu kennen, merkte Rivkah plötzlich, dass sie Tränen in den Augen hatte.

Es war ein seltsames Gefühl die Schule nun wieder zu betreten, nachdem man sie erst in der Nacht zuvor in seinen Träumen heimgesucht hatte. Das Licht der Wirklichkeit wirkte blass und schmächtig gegenüber den Lichtwelten, die Rivkah zuvor im Traum gesehen hatte. Der Baum auf dem Schulhof war höchstens ein Abglanz des turmhohen Monolithen, den sie im Traum gesehen hatte. „Ich frage mich, was denn nun in Wahrheit die Schule darstellt: Meinen Traum, der so echt wirkt, oder das, was ich gerade vor mir sehe, was aber nun gar nicht echt wirkt“, dachte Rivkah und kratzte sich am Kopf.
Zu Beginn des Schultages war Rivkah schlicht zu verwirrt gewesen, um ihren Freundinnen von ihren seltsamen Träumen zu berichten, doch als der Unterricht Stunde für Stunde seine verlorenen Gesänge anstimmte und sich nach und nach vor Rivkahs Augen das zusammensetzte, was wir Alltag nennen, spürte sie die ungenannte Notwendigkeit, den anderen von ihrem Traum zu erzählen.
Als die Mittagspause näher rückte, kannten Lakshmi und Kumari die Geschichte vom sprechenden Baum. Obwohl beide hauptsächlich vorgaben belustigt zu sein, ließ sich unmöglich verleugnen, wie viel Ähnlichkeit ihre eigenen Empfindungen mit denen aus Rivkahs Traum hatten. Kumari, die sonst zu jedem Sachverhalt eine patzige Antwort geben konnte, zog nach der Beendigung von Rivkahs Bericht bloß eine Schnute und nickte schwach. Lakshmi schwieg ebenfalls und nestelte an ihrem Zopf herum. „Warum sehen wir uns den Baum nicht einfach an?“, sprach sie nach einer Weile mit ihrer glockenhellen Stimme und marschierte in Richtung Schulhof.
Sie hatten nicht erwartet, dass der Baum wieder zu sprechen anfangen würde, dennoch hatten sie zumindest irgendeine Reaktion in ihrem inneren auf den Anblick des Baumes erwartet. Doch es war einfach nur ein Gewächs, dasselbe, was hier schon immer gestanden hatte. Die Rinde des Baumes war zerkrustet und rau, die Sonne spielte in den Zweigen, und der Boden, durch den die Wurzeln ragten, roch betäubend nach Erde. Doch wollte sich all dies nicht zu einem Eindruck zusammen dichten. Enttäuscht kehrten die drei zum Ende der Pause in ihren Klassenraum zurück.
Die Zeit quälte und kroch die Unterrichtsstunden entlang, löschte jeden Gedanken aus und ließ nicht mehr als einige Fetzen kleiner, wirrer Träume zurück. Die Mädchen wähnten sich in einem giftigen Dickicht aus Schlingpflanzen der Langeweile gefangen. „Wie kommt es“, fragte sich Rivkah insgeheim, „dass die Zeit hier ganz anders verläuft, als zuhause? Wenn dort der große Zeiger fünf Minuten vor 12 steht, dann kann man ohne weiteres sagen: „In fünf Minuten wird es 12 sein“ und wenn es dann 12 geworden ist, dann man ohne weiteres sagen: „Jetzt sind fünf Minuten vergangen“, aber hier in der Schule ist es so, als ob man die Minuten und Stunden ganz komisch durcheinander geworfen hätte. Der Zeiger steht jetzt ungefähr fünf nach 12, aber ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich fünf Minuten her ist, dass wir 12 hatten. Aber nein, anders ist es doch gar nicht möglich.“ Verwirrt schüttelte sie ihren Kopf.
Schließlich schellte es doch zur Pause und die drei standen erleichtert auf.

Es war Lakshmi, welche schließlich jene absurde Entdeckung machte, welche den Sturm auf dem Ozean entfachen sollte. Nachdem die Minuten der Pause zunächst von den Diskussionen der Mädchen über Rivkahs Traum erfüllt gewesen waren, schwieg Lakshmi plötzlich unvermittelt und starrte mit ungläubigen, weit aufgerissenen Augen auf die steinerne Seite einer Treppe. Bevor die anderen ihre Überraschung überhaupt richtig registriert hatten, drängte sie Lakshmi mit aufgeregter, piepsender Stimme darauf, zu der Treppe hinzugehen.
Dort angekommen entdeckten sie die Ungeheuerlichkeit, deren Tiefe und Schönheit sich zuvor nur in Lakshmis Überraschung gespiegelt hatten: aus dem grauen Stein der Treppe wuchsen bunte, leuchtende Blumen, von bizarrer Schönheit beseelt und mit starken, durchdringenden Düften versehen. Sie waren wie glitzernde Diamanten in der undurchdringlichen Dunkelheit einer Tropfsteinhöhle und die sie umgebende Dunkelheit verlieh ihrem farbigen Strahlen eine fast sakral zu nennende Perfektion, einen Schein, wie aus dem Raum der Unendlichkeit kommend. Andächtig schwiegen die Mädchen und wunderten sich.
Kumari war es schließlich, die ihrer angeborenen Neugierde nachgab, die Hand tief durch den Ozean tauchte und einen der zarten Blütenstängel umschloss, um eine der Blumen zu pflücken.
„Was tust du da, wenn ich fragen darf?“, erschallte plötzlich ein scharfes Zischen hinter den Mädchen und ließ sie sich erstaunt umdrehen. Vor ihren Augen stand ein älterer Lehrer, der ihnen zwar vom sehen, nicht jedoch durch alltäglichen Umgang vertraut war. Keines der Mädchen war sich ganz sicher, ob es an der seltsamen Situation, oder schlicht an der Erscheinung des Lehrers selbst lag, aber im selben Augenblick, in dem sie sich umgedreht und den Lehrer erblickt hatten, schien es, als ob ihnen der Boden unter den Beinen weggerissen worden wäre.
Die Erscheinung des Lehrers war bizarr. Seine dicke, knollige Nase wackelte bei jedem seiner Sätze auf und ab, sein Kinn vollführte im passenden Takt einen blasphemischen Tanz und seine von speckigen Wangen gesäumten kleinen, schwarzen Augen wirkten kalt und boshaft.
Rivkah schwand alle Farbe aus ihrem Gesicht, ihr Mund verzog sich und ihre Augen eilten zu Boden, als wollte sie sich vergewissern, auf festem Grunde zu stehen. Lakshmi starrte den Lehrer mit großen, erschrockenen Augen an und suchte in ihren Gedanken nach beschwichtigenden Worten. Erneut war es Kumari, die zuerst Mut fasste: „Ich wollte diese Blumen pflücken!“.
Die Augen des Lehrers unterlegten jegliche seiner Bewegungen mit einem derart bösartigem Funkeln, dass es selbst die kleinste Regung und Veränderung seiner Mimik in etwas obszönes und krankhaftes verwandelte. Langsam öffnete er seinen Mund und keifte ihnen eine Erwiderung entgegen:“ Das ist Schuleigentum, da wird nichts gepflückt! Ich denke, es wäre jetzt besser, dass sie gehen.“
Keine der Mädchen wagte es zu widersprechen, oder nach dem Ursprung der wundersamen Blumen zu fragen. Zu düster und gefahrvoll erschien ihnen der Abgrund, der sich vor ihnen aufgetan zu haben schien. Rivkah war es, als habe dieser Mann persönlich ihren Traum von letzter Nacht zerstört. Als sie mit ihren Freundinnen schon fast an der Türe angelangt war, welche hinaus auf den Pausenhof führte, wandte sie sich noch einmal für einen letzten Blick um. Doch statt der traumerfüllten Schönheit der Blumen erblickte sie nur den düsteren Mann mit Schlingpflanzen in den Augen.
In niedergedrückter Stimmung wanderten die drei Mädchen über den Pausenhof und verloren sich in den düsteren Strudeln des Ozeans. Als würde ein trüber, grauer Regen die Ewigkeit rau und kalt werden lassen, fingen sie an zu frieren und sich durch die Schule bedroht zu fühlen. Die Luft wurde klamm und unheimlich, der Baum, der ihnen zuvor Erstaunen eingeflößt hatte, wirkte starr, grotesk und geisterhaft.
Schließlich erwachte Kumari aus der seltsamen ewigen Nacht, durch sie geirrt war und bemerkte zwei ältere Schüler, welche sich in der Nähe des Schuleingangs aufhielten und in sie in regelmäßigen Abständen beäugten. Erstaunt über diese Merkwürdigkeit, machte sie auch die anderen beiden darauf aufmerksam, welche, trotz der Merkwürdigkeit dieser Neuigkeit, doch erfreut waren, sich vom Regen der Nacht abzulenken.
Parallel zu dem, regelmäßigen, wie zugleich betont unauffälligen Beobachten der beiden älteren Schüler, warfen die Mädchen ihnen nun ihrerseits misstrauische Blicke zu und berieten, was sie mit dieser Merkwürdigkeit anfangen sollten. Lakshmi entschied sich heftig gegen Kumaris Vorschlag, die beiden einfach nach dem Grund der Beobachtung zu fragen und schlug vor, einen Lehrer, („einen, von dem wir wissen, dass er nett ist!“, wie sie hastig hinzufügte) um Rat zu fragen. Rivkah schwieg größtenteils und konnte sich auf keinen Entschluss festlegen, reagierte auf Kumaris Vorschlag aber mit einem angstvollen Blick und einem heftigen Kopfschütteln. Schließlich zog Kumari alleine in Richtung Schule und ließ Lakshmi und Rivkah unsicher wartend zurück.
Kumari hatte schon den Anfang der Steintreppen erreicht, auf denen die beiden Fremden saßen, als einer von ihnen wieder seine Blicke in ihre Richtung schob. Er und sein Gefährte tauschten Blicke und stießen ein amüsiertes Gelächter aus. Bevor Kumari ihre Stimme erheben konnte, hatte ihr der andere der beiden ein Blatt Papier zugeworfen und sich daraufhin erhoben. „Wo wollt ihr denn hin?“ fragte Kumari irritiert und warf einen Blick auf das Papier, ohne genau zu erkennen, um was es sich handelte. Die beiden Jugendlichen gaben ein amüsiertes „Ooooch“ von sich und grinsten breit. „Wir sind weg, bis später.“
Ratlos blieb Kumari auf den Steintreppen stehen und blickte erneut auf das Blatt Papier in ihren Händen.
Auf diesem war mit dünnen, aber festen, kratzigen Bleistifstrichen ein Gebäude gezeichnet, welches eindeutig die Schule darstellen sollte. Statt der Fenster waren jedoch kreisrunde Sonnenscheiben in der Mauer, welche teilweise mit sanft lächelnden Gesichtern versehen waren. Aus dem Dach der Schule wuchsen große, kelchförmige Blüten und dicke, saftgetränkte Ranken. Über der Schule hing die Sonne, groß und von mehreren Ringen umzogen, die der Scheibe etwas Spiralförmiges gaben. In die Sonne schließlich waren Rivkah, Lakshmi und Kumari gezeichnet.
Kumari betrachtete das Bild längere Zeit, ohne sich recht bewusst zu werden, was aus diesem sprach. „Irgendwas hat es mit mir zu tun, aber nicht nur, weil ich auch drauf bin. Es ist fast, als hätte man irgendeinen Traum so gut gezeichnet, dass er sehr echt wirkt.“, grübelte sie und ging zurück zu den anderen.
Die Mädchen fühlten sich, als wären sie in eine übermächtige Strömung geraten, welche ihnen die Möglichkeit nahm, zu schwimmen, wohin sie wollten. Gluckernd und schäumend drückten die Flutwellen sie vor sich her und trieben sie in die Eingangshalle der Schule zurück, welche aus irgendeinem Grund völlig leergefegt, vor ihnen lag. Einzig und allein der Lehrer, welcher sie zuvor von den Blumen verscheucht hatte, schlurfte auf ein Büro am Ende des Ganges zu und bedachte sie dabei eines kurzen, mürrischen Blickes. Ohne zu überlegen, folgten ihm die drei Mädchen und betraten dasselbe Büro, ihre Hände ineinander verschlungen.

In derselben Sekunde, in der die drei Mädchen ihre Füße über die Schwelle des Büros setzten, schien es, als sei die Sonne explodiert. Ein grelles, alles überziehendes Licht, donnerte durch das Gebäude und die Welt, brannte sich in die Netzhaut und saugte das Licht der Sonne zur Erde hinab.
Eine gigantische Flutwelle türkisklaren Wassers durchfloss die Schule und riss alles mit sich, rieselte in die verborgensten Ecken und füllte die endlosesten Weiten.
Schmetterlinge tanzten in schillernden Farben durch die Luft und drängten sich dicht an dicht an den hervorsprießenden Blüten.
Als die drei Mädchen die Augen öffneten, schwebten sie durch einen glitzernden, endlosen Ozean von reinem Türkis. Sie fühlten ein Glück und eine Ruhe, die sie zuvor nie erahnt hatten, ein Gefühl, als seien Tod und Leben, Himmel und Erde, Anfang und Ende ineinander übergegangen, miteinander verschmolzen, EINS geworden und alles was übrig geblieben sei, sei nur noch Gott.
Nachdem sie eine lange Zeit durch diese Ewigkeit geglitten waren, entdeckten sie irgendwann in der Ferne eine Insel inmitten des Ozeans. Neugierig schwammen sie auf diese zu und erkannten nach und nach ihr felsiges und mit Geröll übersätes Ufer. Doch als sie schon fast das Ufer erreicht hatten, drangen plötzlich Rufe zu ihnen herüber. Überrascht wandten die Mädchen ihre Köpfe hin und her um den Verursacher herauszufinden. Nach kurzer Zeit entdeckten sie die beiden älteren Schüler aus ihrer Schule auf der Insel, welche hastige Handbewegungen machten, die wohl andeuten sollten, dass sich die Mädchen von der Insel fernhalten sollten. „Kommt bloß nicht auf die Insel, hier ist es schlecht! Ihr müsst im Ozean bleiben!“ rief einer der beiden durch seine, zum Trichter geformten Hände.
Die Mädchen wandten sich verwundern ab und glitten zurück in den Ozean.

Ende
 
Hallo Hale-Bopp,

ich habe deine Geschichte nun schon einige Male aufgeschlagen und gelesen.
Heute möchte dir einige Kommentare dazu geben.

Der Titel deiner Geschichte hat mich neugierig gemacht. Ich finde die vedische Literatur auch interessant, weil sie ganz andere Sichtweisen als unser abendländisches Denken anbietet.
Nachdem ich die ersten Sätze deines Textes gelesen hatte dachte ich, dass du vielleicht den Ausdruck `Satya Yuga` in einer Einleitung erklären könntest. Dann können Leser, die mit diesem Gedankengut nicht sehr vertraut sind, sich besser in den Text einfinden.

Die Wahl der Namen der drei Mädchen hat mich neugierig gemacht. Lakshmi als Symbolnamen für Glück und Wohlstand war mir bekannt. Die Geschichte von Kumari habe ich auf Wikipedia nachgelesen. Rivkah steht wohl für Rebecca; allerdings sagt mir die Symbolik dieser Namen bisher nichts im Zusammenhang mit deiner Geschichte.

Im Verlauf des Textes hat mir der Absatz
„Das Licht, welches in warmen Orange durch das Raster der Jalousie fiel, ließ die Möbel ihres Klassenraumes in einem sonnengelben Schimmer aufleuchten, geradeso als gäbe sie einen Wink und einen leisen Hauch, von dem kosmische Lichte, welches in den Seelen der drei Mädchen wohnte“
außerordentlich imponiert. Du hast eine sehr schöne Bildsprache gewählt, die sich in vielen folgenden Absätzen wunderbar wiederholt.

Die Darstellung der Charaktere in dem Absatz
„Rivkah war verträumt und still, sanft wie der Schlaf und stets mitfühlend gegenüber ihren Mitmenschen. Kumari war frech und gewitzt, mit einem alterstypischen Hang zur Albernheit, aufgrund all dessen aber auch stets ein Antrieb für die anderen. Lakshmi war anständig und bedacht, still, aber aufmerksam und somit ein ordnender Geist innerhalb des Gespanns“
hat mich neugierig auf ihre jeweiligen Aktivitäten gemacht. Hier könnte ich mir eine stärkere Verbindung der geschilderten Eigenschaften in die Handlung vorstellen.

Der Schluss der Geschichte bleibt für mich noch rätselhaft. Ich denke noch nach. Vielleicht hast du einen kleinen Hinweis?

Ich wünsche dir weiterhin schöne Einfälle.
Liebe Grüße. Rhondaly.
 

Hale-Bopp

Mitglied
Erstmal vielen Dank für dein Lob, es freut mich wirklich sehr, dass auch andere Menschen an meiner Geschichte gefallen finden.

Also, was die Charakterisierung und Namen der Mädchen angeht, ist es wichtig zu erwähnen, dass es für alle drei Mädchen reale Vorbilder gab und sich die Namen am jeweiligen Charakter anlehnen. Lakshmi, als Göttin der Gesundheit, Schönheit und des Glücks passte einfach perfekt zu der ernsthaften Natur von einem dieser Mädchen. Kumari als kindliche Göttin wiederum passte auf die fröhliche und unbeschwerte Natur einer anderen (ich glaube zwar nicht, dass die reale Kumari sich in ihrem Alltag besonders unbeschwert und kindlich verhalten wird/darf, aber darum ging es mir auch nicht...).
Bei Rivkah hast du des Rätsels Lösung ja schon erraten, wobei ich mir dachte, dass die ältere Version des Namens vielleicht noch als kleine Anspielung auf die Bibel taugen würde.
Nun bliebe noch zu erklären, warum ich die Mädchen überhaupt durch mythologisch/religiöse Namen verschleiert habe: ein wirklich tiefer Bezug zu den indischen Veden liegt eigentlich nicht vor, in erster Linie wollte ich die drei halt erhöhen und das quasi heilige an ihnen betonen.
Dass die jeweiligen Chraraktereigenschaften eher wenig Einfluss auf die Geschichte haben, ärgert mich auch, vorallem weil es sich um ein generelles Problem von mir handelt, menschliche Interaktion nicht wirklich gut beschreiben zu können. Daran werde ich also allgemein noch arbeiten müssen.

Was die Einleitung über Satya Yuga eingeht, stimme ich dir zu. Ich weiß auch nicht, warum ich darauf nicht gekommen bin.

Soo...und was das Ende angeht: Der Titel der Geschichte bezieht sich auf diesen (wiederkehrenden) Zustand von Licht. Die Szene, wo die beiden älteren Jugendlichen die Mädchen davon abhalten, auf die Insel zu kommen, ist eine Anspielung auf eine Stelle in "Der Fänger im Roggen", in der die Hauptfigur sagt, dass der einzige Wunsch den sie je hätte, der wäre, Kinder, welche in einem Roggenfeld spielen davon abzuhalten, eine Klippe herunterzufallen. Die Stelle wurde oft so interpretiert, dass die Hauptfigur die Kinder vor dem Erwachsenwerden schützt. Dasselbe soll es auch hier bedeuten: die Kinder im Meer (das große, weite, kosmische Meer der Kindheit) sollen nicht auf das harte, felsige Land der Erwachsenen- um ihrer selbst Willen.

Ich hoffe, ich konnte ein wenig weiterhelfen.
 



 
Oben Unten