Schachträume (Romanauszug)

Vivere

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Zero. Ende. Den Lebenshöhepunkt mit 25 überschritten und keine Aufsicht auf und schon gar kein Interesse an Zukunft. Klingt traurig, nicht wahr ? Für manchen vielleicht auch lachhaft. Dennoch gibt es glaube ich Menschen wie mich, die zu einer Zeit in der andere ihr twentysomething-Leben leben, bereits das Gefühl haben tausende Leben in sich vereint zu haben. Alles gesehen, alles gehört und getan. Haus, Baum, Auto ... Kinder werden von meiner Generation eh nicht mehr erwartet, wenn auch erhofft. Wir wurden ja nach allgemeinem Konsens bereits in die Orientierungslosigkeit geboren. Wenn man dann allerdings kosequent ist und es sich in dieser Orientierungslosigkeit so bequem macht wie möglich geht der Aufschrei los. Horden von Eltern, angeblichen Freunden, Ex-Partnerinnen und Psychoanalytikern, die einen wieder auf gesellschaftskonforme Spur bringen wollen. Dem konnte ich mich immer erfolgreich entziehen, indem ich eine Art virtuellen Lebenslauf entworfen hatte. Nach aussen war ich Student und erfolgreich, in Wirklichkeit studierte ich mich vor allem selbst in einem Mischmasch aus kruden Zukunftsphantasien und Räuschen unterschiedlichster Art. Natürlich kommt man aber an den Punkt, an dem diese Lebenslüge zusammenbricht und dann steht man vor der Orientierungslosigkeit in der Orientierungslosigkeit. So ähnlich waren meine Gedankengänge wenn ich meine Abendplanung mal wieder darauf ausgerichtet hatte mit einer Flasche Bier durch die diffusen Schachtelgänge des örtlichen Swingerclubs zu streifen, anderen beim Ficken zuzuschauen und als krönender Höhepunkt im Homo-Kino zu masturbieren, obwohl ich nicht ansatzweise schwul bin. An jenem Abend hatte ich mich innerlich erneut darauf eingestellt. Während ich mich auf den roten Ikea-Sofas lümmelte betrat jedoch eine seltsame Gestalt den Raum. „Sie sehen nicht gerade erregt aus in einem so auf Erotisierung ausgelegten Umfeld.“ Ich blickte auf und konnte nur eine Augenbraue hochziehen, bei dem Anblick der sich mir bot.
Ein circa 1,60 Meter grosses Männchen, dass sich erfolglos in Frauenfummel gewandet hatte um einen einigermassen weiblichen Eindruck zu machen. Der Bierbauch schunkelte fröhlich in einer Art Korsett, über das eine grobmaschige Strunpfhose gezogen wurde, aus deren Löchern immer wieder Haarstumpfe quellten. Die so noch fetter als ursprünglich wirkenden Beine steckten in Pumps der Grösse 45. „Glauben sie, dass sie an einem Ort wie diesem ihrer Angst entfliehen können ?“ Der “Mann“ liess sich neben mir auf das Sofa fallen, wobei es zu recht unangenehmen Körperkontakt kam. Nicht, dass ich etwas gegen Schwule hätte, aber Berührungen von gescheiterten Ästhetik-Konzepten stehe ich doch eher skeptisch bis angewiedert gegenüber. „Ist das ihre Standardanmache?“ gab ich so behrrscht wie möglich zurück. Ein unglaublich gekünsteltes Pseudeo-Frauenlächeln strahlte mir entgegen. „Sieh an, ein Zyniker. Eine interessante Grundform der Angst.“ Er nestelte in der Falte zwischen Bauch und restlichem Körper herum, zog eine Karte heraus und reichte sie mir, wobei er die Backen aufblähte und zwischen den sorgfältig bemalten Lippen entfleuchte ihm eine Art Furzgeräsuch. Diese Justus-Jonas Art seine Identität auf ein Stück Pappe zu pressen um seinen verbliebenen Glanz mit anderen zu teilen war mir noch mehr zuwieder als behaarte Hintern in Frauenkleidern. Ich liess die Karte mehrfach zwischen meinen Fingern herumgleiten, kniff ein Auge zusammen und versuchte die natürlich mit Times New Roman erschaffenen Wörter im seichten roten Neonlicht zu entziffern. „Jürgen T. Kebekus, Psychoanalytiker“ las ich die Karte eher murmelnd und in den Raum gerichtet vor. Ich versuchte unauffällig herauszufinden ob es noch andere Menschen in diesem Raum gab, denen die Begegnung mit diesem Menschen ebenso seltsam vorkam wie mir selbst. Aber ausser einer alternden Blondine mit mindestens 20 Kilo zuviel, die gerade dabei war eine Tanzstange oral zu befriedigen, während ein Liliputaner sabbernd ihren Hintern betrachtete, war niemand zu erblicken. Der Rest der spärlichen Besucherschaft drängelte sich um die weiter hinten liegende Bar. „Na schön“, begann ich und wollte die Karte zurückreichen, doch da war das Ästhetik-problem namens Jürgen bereits verschwunden. Ich seufzte aufgrund dieses weiteren sinnlosen Sozialkontaktes und der mit ihm verschwendeten Zeit, kratze mich kurz im Nacken und erhob mich. Ich schwankte etwas, da die Zeiten in denen ich den Alkohol problemlos vertrug auch schon etwas her waren, warf einen Blick auf die Bar und wandte mich in Richtung Laufkinos. Die verschiedenen “Kinos“, die in Wahrheit Nischen mit einem Fernseher und albernen Gelsenkirchener-Barock-Sofas waren, waren mit einem lichtlosen Gang verbunden. Wer die Strecke auf sich nahm wurde mit einem Panorama-Fenster belohnt, das jedoch durch eine Schalousie nur einen spärlichen Blick auf das dahinterliegende Pärchen-Zimmer erlaubte und vor dem sich auch noch regelmässig 6 Rentner mit Bierflaschen und Zigaretten bewaffnet drängelten. Ich seufzte und nahm den Weg zum Panorama auf mich, da man ja immer irgendwas “machen“ muss.
In Nische Nummer Eins flimmerte die Art ultimativer Bi-Sexualitäts-Film über den uralten Nicht-HD-Ready-Bildschirm, von denen man erstaunt ist, welch vielschichtiges Publikum sie ansprechen. Ein haariger Darsteller praktizierte Anal-Verkehr mit einer Transsexuellen, also einem Menschen der gleichzeitig über Brüste und einen Schwanz verfügte. “the best of two worlds“ prangte auf dem Filmankündigungsplakat, das in der Ecke der schwach beleuchteten Nische vergammelte. Leiser zweifel ob der Wahrheit des Titels keimte in mir auf und mir ging durch den Kopf, dass die schwache Beleuchtung das einzige Ästhetik-Konzept dieses Clubs war.
Zum ersten Mal fragte ich mich, was ich hier machte. Schneller als erwartet bekam ich durch einen einzigen Blick die Antwort. Vor dem Fernseher sass ein etwa 50-jähriger Mann im Sessel, nur noch bekleidet mit Wollsocken und Sandalen und wichste fröhlich. Neben sich einen Stapel Papiertücher, natürlich Öko-Grau und von Schmiergelpapier artiger Konsistenz. Ich erinnerte mich, warum ich gekommen war, respektive kommen wollte und wandte mich ab um mich zum Homo-Kino zu begeben. Zum Homo-Kino deshalb, weil dies der einzige Raum war, der regelmässig leer war und somit für mein Vorhaben am angenehmsten erschien. Doch ich stutzte. „Der Angst entkommen“ hallte es durch meinen Kopf. War das möglich ? Versuchte der masturbierende Sandalenträger in Wirklichkeit durch seinen Stimulationsakt der Angst zu entkommen sich zu seiner Homosexualität zu bekennen und nahm deshalb das “Beste“ zweier Geschlechter zur Hilfe ? Liessen sich so die Schuldgefühle leichter ertragen, weil ja doch etwas vom Geschlecht seiner Frau in der Wichsvorlage steckte ? Und verdrängte der Damenwäsche tragende Psychoanalytiker in Wahrheit die Angst vor seiner Männlichkeit ?
Ich jedenfalls scheiterte am Verdrängen meine Trunkenheit, die sich durch einen Würgereflex bemerkbar machte und stürmte Richtung Ausgang. Hastig durchwanderte ich den dunklen Gang, prallte mit einem der Rentner zusammen und eilte an den halbnackten Gestalten an der Bar die Terppe hinauf, zwischen den Pornofilmkasetten an der Wand vorbei. Keuchend ereichte ich die automatische Schwingtür und erbrach mich beim ersten Kontakt mit Frischluft auf die Treppe. Nach getaner Arbeit hockte ich mich vollkommen desorientiert in meine eigene Kotze und nestelte eine Zigarette aus meiner Tasche. „Das ist natürlich eine Verbesserung. Anstatt im Homo-Kino im eigenen Ejakulat zu sitzen, hocken sie nun im eigenen Erbrochenen. Immerhin etwas persönlicher.“ Ich blickte hinter mich. Die Sätze kamen von Kebekus, dem Analytiker, der sich inzwischen wieder in seine männliche Identität begeben hatte und wohl auf mich gewartet zu haben schien. Er lehnte am weiss beklebten Schaufenster mit der roten Aufschrift “Aloha Club“ und kaute übetrieben auf einem Kaugummi herum.
Als Mann war er unglaublicherweise noch hässlicher als als Frau. Und ich verstand die Notwendigkeit seiner Kostümierung, wenn das Ziel des Abends Paarung war. „Ich weiss, was sie denken und ich bin es gewohnt, dass man sich über mich lustig macht. Aber im Gegensatz zu ihnen habe ich keine andere Wahl.“, begann Kebekus. „Sie hingegen machen zu wenig aus dem, was sie eigentlich an Chancen hätten.“ Ich schwieg noch immer und blickte ihm erstaunt ins Gesicht. Er wirkte ohne die Schminke noch aufgedunsener, mit rötlichem Pflaum gleich seinen spärlichen Haaren, der vollkommen wahllos seine Wangen und das Dreifachkinn zierte. Komplettiert wurde der optische Wahnsinn durch eine blaue eckige Brille, die wie aus dem Kaugummi-Automaten wirkte. Ich betrachtete mir sein kauendes Schmatzen und war überzeut, dass sie auch wirklich daher stammte. War er also immer noch kostümiert oder war das der wahre optische Kebekus ? „ Was wollen sie ?“, gab ich eher keuchend als entnervt klingend zurück. „Nun, wenn ich das so sagen darf: In ihrer zur Schau gestellten Erbärmlichkeit sind sie ein interesantes Projekt für mich. Ich habe selten jemand gesehen, der sich bei all seiner Unzulänglichkeit derart der menschlichen Rasse überlegen fühlte.“ Kebekus reagierte mit einem schmallippigen lächeln auf meine entgeisterte Mine. „Wir hören voneinander“, presste er hervor und verschwand in der schmierigen Dunkelheit. Der letzte Eindruck war der seiner labrigen Wildlederjacke, auf der der Schriftzug “die hard fuck young“ glitzerte. Ich rieb mir die Augen und verrieb aus Versehen Brocken meines Abendessens in meinem Gesicht. Langsam setze ich mich auf und wankte Richtung U-Bahn-Station. Normalerweise bedrückte mich während des Fahrens mit öffentlichen Verkehrsmitteln der Ekel vor der Erbärmlichkeit der Mitmenschen, diesmal jedoch waren sie es, die sich vor mir ekelten. Und dies auch noch begründet, bei dem Anblick, den ich ihnen bot. Seltsamerweise fühlte ich mich ihnen in diesem Moment verbundener, als jemals zuvor, den nun wussten sie mal wie ich mich beständig fühlte. Ich fragte mich, ob ich eine Art Therapie begonnen hatte. Beziehungsweise: Hatte ich sie begonnen oder hatte sie jemand anderes begonnen ? Ich blickte aus dem Fenster in die dunklen Röhren der U-Bahn-Schächte hinein und verfolgte die Leitungen die in ihnen entlangliefen. Während der ganzen Fahrt blickte ich nicht einmal in die Gesichter der Mitreisenden und spürte dennoch jeden einzelnen von ihnen intensiver als jemals zuvor. Die weibliche Stimme verkündete unser Eintreffen an der Haltestelle, an der ich aussteigen musste. Ich dachte mal wieder daran wie furchtbar sich der Mann der Dame fühlen musste, deren Stimme deutschlandweit die Haltestellen in U-Bahnen und Zügen verkündete. Diese Omnipräsenz des Partners musste unerträglich sein. Der Gedanke erinnerte mich an das Ende meiner ersten grossen Liebe, die mich ob meiner Omnipräsenz in ihrem Leben vor die Tür gesetzt hatte. Seltsam wieviel Abstand man manchmal hinter sich gebracht hat, nur um in einem vollkommen unwichtigen Augenblick plötzlich Erkenntnis zu gewinnen. Dieser Gedankengang hatte mich unmerklich derart lange beschäftigt, dass ich bereits vor meiner Haustür stand, als er mich verliess. Viele meiner Gedankengänge verliessen mich vollkommen plötzlich, obwohl ich in viele von ihnen viel Zeit investiert hatte. Sie waren einfach rettunglos entschwunden. Auch ein Grund für meine Orientierunglosigkeit. Vollkommen bekleidet stellte ich mich unter die eiskalte Dusche, lies das Wasser einfach laufen und schmiss mich tropfend aufs Bett.

***

Ich erwachte eher dämmernd, als plötzlich. Die letzten Wochen fühlte ich mich jedesmal vollkommen entleert, wenn ich vom Mittagsgrauen aus meiner bleiernen Ruhe erlöst wurde. Das einzige Geräsuch, das stark repräsentiert zu mir drang war das laufende Wasser der Dusche. Es war erstaunlich wie scheissegal mir Geld war, sobald ich getrunken hatte. Normalerweise verbrachte ich meinen Tag damit möglichst wenig Strom zu verbrauchen, löschte sogar das Licht in allen Räumen wenn ich auf Klo ging und sass oft tagelang in der Dunkelheit, die nur das Fernseh-Tor zur Welt durchbrach. Nach 14 Flaschen Bier konnte ich allerdings locker 2000 Euro im Strip-Club wegwerfen. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Ich war mir sicher dieses Sprichwort falsch zu interpreteieren. Langsam kam ich soweit möglich zu mir. Allmählich gewann die Erinnerung an meine Träume Überhand. Seit einigen Wochen schon verfolgte mich die immergleiche Traumsituation. Kaum war ich eingeschlafen manifestierte sich eine andere Wahrnehmung. Ich sah die Welt und das Leben eines völlig fremden Menschen. Ich nahm seine Gefühle wahr, blickte durch seine Augen. Ich erlebte keine besonderen Situationen, sondern sein ganz normales Leben. Arbeit, Mittagessen, Spieleabende mit Freunden. Schatten aus meinem ehemaligen Leben. Aber das war auch schon die einzige Parallele, die sich mir auftat. Ich zwang mich liegen zu bleiben und starrte an die Decke, verfolgte während meiner Gedankenmonologe den Weg einer Spinne. Ich nannte sie Hildegard. Doch die Träume liessen mich nicht los. Sie stellten etwas dar, dass ich in meinem Leben längst verloren hatte. Nicht das soziale Leben, das hatte ich schon bewusst zerstört, nachdem ich erkannt hatte, dass ich niemals ein eigenes hatte, sondern ich in Wirklichkeit immer nur das Leben meiner Partnerinnen adaptierte. Nein, es war etwas wichtigeres. Die Fähigkeit authentische Gefühle ausser Ekel zu erleben. Ich dachte an den vergangenen Abend zurück. Kebekus hatte vollkommen falsch gelegen. Ich versuchte nicht meiner Angst zu entfliehen. Im Gegenteil, ich versuchte sie zu finden. Doch je weniger mir dies gelang umso tiefer geriet ich in eine Spirale der Gefühlsdämmerung. Ich verlor zunehmend jeden realistischen Kontakt zur Aussenwelt. Das Ich, dass ich nach aussen hin aufgebaut hatte, das Scheinleben des erfolgreichen Studenten, machte sich selbstständig. Es entrückte mir immer mehr und verschlang mein gesamtes Leben.
Ich stöhnte und kroch aus dem noch klammen Bett. Kniend warf ich einen Blick in meinen Kühlschrank. Ich goss eine schimmelnde Spaghetti-Sosse in den Ausguss und beschloss bei MCDonalds zu dinieren. Beim Blick auf meine Spüle wurde mir klar, dass ich in dieser Nacht wohl wieder unbemerkt aufgestanden war und mehr schlecht als Recht zu kochen versucht hatte. Grübelnd fragte ich mich, wie soetwas sein konnte. Beherrschte mein Traum-ich meine Wahrnehmung inzwischen so stark, dass ich sogar aufstehen und kochen konnte, ohne etwas zu bemerken ? oder hing dies gar nicht zusammen ? War ich profaner Schlafwandler. Als ich die Reste meiner nächtlichen Aktivität hinuntergewürgt hatte -kalte Fischstäbchen- begann ich mich umzuziehen.

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Ehrlich gesagt hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich hierher gekommen war und schon gar nicht was ich suchte. Beim Umziehen war mir die Visitenkarte Kebekus in die Hände gefallen und ohne grossartig zu überlegen hatte ich mich halb bekleidet in ein Taxi gesetzt und zu der angegebenen Adresse fahren lassen. Ich bemerkte nichtmal, dass ich weder Schuhe noch Socken, sondern nur eine Hose und ein modisches Feinripp Unterhemd trug. Die Blicke des Fahrers in den Rückspiegel hatten mich an die U-Bahn-Fahrt der vergangenen Nacht erinnert, nur das inzwischen eher Mitleid als Ekel aus ihnen sprach. Während ich vor dem seltsamen Marmor-Bau stand kam mir der Gedanke, dass diese Blicke irgendwie der Grund meines Besuches waren, auch wenn ich den Kontext nicht einordnen konnte. Diese Einsicht elekrisierte mich und machte mich gleichzeitig wahnsinnig. Auf der einen Seite war ich froh ein Gefühl zu erleben, dass ich nicht rationalisiert eingeordnet hatte, auf der anderen Seite hasste ich genau das, denn es störte mein bequemes nüchternes Selbstmitleids-Konzept. Der Hass begann zu überwiegen, denn das Gefühl erinnerte mich an jeme Zeit, in der ich mich als Teil einer Liebe wähnte. Ich betrachtete das Armband an meinem linken Handgelenk, dass ich als Mahnmal trug. Es erinnerte mich daran, dass ich mit dem Wunsch nach Liebe für immer abgeschlossen hatte. Seitdem ich Suzan gefunden hatte wusste ich, dass nie wieder ein Mensch in meinem Leben meine Gefühle für sie ersetzen konnte. Auch dies war Teil meines Konzeptes. Ich lächelte und begann mich erneut omnipotent und grossartig zu fühlen. Ich hatte ein Lebenskonzept. Noch war also nicht alles verloren.
Ich schob meine Gedanken beiseite und betrachtete den seltsamen Bau, den ich erreicht hatte. Auf den ersten Blick drängte sich der Eindruck eines Mausoleums auf. Grosse marmorne Säulen säumten den Eingang und ich erinnerte mich an Hitlers Germania-Pläne. So hätte sich das also angefühlt. Er wäre zufrieden gewesen, wenn auch befremdet, dass ausgerechnet eine Transe seine Pläne verwirklicht hatte. Was hinter den Säulen lag, war aufgrund der Lichtverhältnisse im Dunkeln verborgen. Ich schlenderte die Treppen hinauf. Was ich in der Vorhalle erblickte erstaunte selbst mich. Links und rechts war ein obskures Panoptikum versammelt. Männliche Schaufensterpuppen mit diversen Dessous bekleidet, teilweise in Fetisch-Kleidung gewandet. Meine Blicke blieben an einer besonders dicklichen Puppe hängen, die ein schwarzes Kleid aus PCV mit Nieten beschlagen trug. Gänsehaut kroch meinen Rücken hinauf. Da hatte sich jemand ein Denkmal gebaut.
„Ich weiss, dass dies nicht gerade ihrem Ästehtik-Konzept entspricht, wenn sie eines haben, aber gewiss jedenfalls doch dem, was sie erwartet haben.“ Die schon seltsam vertraut wirkende Stimme Kebekus schien aus der Puppe zu mir zu dringen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt etwas erwartet habe.“ log ich, doch bekam keine Antwort. Nach einigen eindringlichen Momenten beredter Stille fiel mein Blick auf eine Tür am Ende des Raumes.
Zero. Ende. Oder doch durch die Tür gehen? Ich zögerte. Was hatte ich schon zu verlieren ? Alles wenn man es genau nahm und genau die Aussicht darauf war es, die meine Schritte dann doch hindurch lenkten.
Kebekus grinste mich an. Diesmal wirkte er für seine Verhältnisse schon fast erschreckend normal, denn sein aufgedunsener Körper steckte in einem Anzug, der nahezu alle Körperpartien verdeckte, was ich für eine ausserordentlich gute Idee hielt. „Nun, was war es, dass sie letztlicht dazu brachte sich doch hierher zu begeben ?“ Ich sah in seinen Augen, dass er die Antwort kannte. Er wartete denn auch keine Erwiederung ab. „Gut, wir können uns also dem Zweck unseres Zusammentreffens zuwenden. Ich mache ihnen ein Angebot, dass für sie eine Chance darstellt. Eine Chance endlich ihre drei Leben zusammenzuführen und zu erkennen welche Ängste hinter ihnen stecken.“ „Drei Leben ? Ich weiss von zweien, auch wenn ich gerne wüsste, wie sie davon erfahren haben.“ Kebekus schwitzte wiederlich, irgendetwas schien ihn nervös zu machen. „Ich weiss, was sie in ihren Träumen quält mein junger Freund. Und vielleicht habe ich die Möglichkeit ihnen zu helfen. Wenn sie diese Hilfe nicht brauchen, bitteschön. Sie können sich gleich hier und jetzt die Pulsadern aufschneiden um ihre Art zu leben endlich konsequent durchzusetzen.“ Kebekus legte eine Rasierklinge auf einen schmalen, runden Tisch vor sich und fixierte meine Augen. „Ihrem Zögern entnehme ich, dass doch noch ein Schuss Intelligenz in ihnen steckt. Unerwartet, aber erfreulich. Sind sie bereit anzuhören, was ich ihnen anzubieten habe ?“. Meine Stirn legte sich in Falten, ein Kribbeln steig meine Schläfen entlang. Wie so oft war ich kurz davor den Ekel und Hass in mir in Gewalt zu entladen. Kebekus hatte die Schwachstelle in meinem Lebenskonzept entdeckt. Ich hatte einen grossen Teil meiner Energien verwandt mein Leben möglichst zu bekämpfen. Doch den letzten Schritt hatte ich nie gewagt. Die ganze Sache zu beenden. Ich hatte zwar einen kitschigen Selbstmordversuch unternommen, der aber mehr pathetische Geste an mich selbst gewesen war als ernsthafte Tat. Kebekus schien trotz seiner Nervösität zu wissen, dass er alles unter Kontrolle hatte. Er schürte den Hass in mir, doch er wusste, dass ich niemals die Grenze zur Gewalt überschritten hatte. Wenn er diese Situation gewann hatte er mich in der Hand. Einen kurzen Augenblick war ich versucht ihm mit der Klinge die Fettleibigkeit aus der Fratze zu schneiden, dann aber hatte er gewonnen. „Wer sind sie ?“ brach es aus mir herraus und der kurze Moment angespannter Stille war damit überwunden. „Ich bin derjenige, der die Ängste der Menschen lange studiert hat. Ich bin derjenige, der sie zu beherrschen weiss, der die Situationen kennt, derer es bedarf um sie durch Konfrontation zu überwinden. Reicht ihnen diese Macht ?“ „Es ist ein Anfang.“ Kebekus lachte. „Es bleibt nur die Frage ob es ihr Anfang oder meiner ist. Aber mir wäre wohl, wenn wir wir dieses pseudo-intellektuelle Geschwätz beenden könnten und endlich zur Tat schreiten. Alles, was ich dazu von ihnen brauche ist ein Ja.“. Ich hörte mich selbst Ja sagen, was mir erstaunlicherweise immer schwerer gefallen war als Nein zu sagen.
„Sehr gut. Ich werde sie auf eine Reise schicken mein Freund. Sie werden der Angst begegnen, in ihren unterschiedlichsten Formen. Und schlussendlich werden sie ihrer eigenen Angst gegenüberstehen. Wenn sie danach zurückkehren wird die Rasierklinge immer noch auf sie warten und vielleicht haben sie dann den Mut zu ihrer Art zu leben zu stehen. Oder aber sie wählen einen neuen Weg. Und nun werden sie gehen. Alles weitere erfahren sie wenn es an der Zeit ist.“ Kebekus liess mich einfach stehen. Ich wollte nachhaken spürte aber, dass er in eine seltsame Stille verfallen war und jede Frage zwecklos war.

***

Zurück in meinen vier Wänden sprach ich dem Weisswein zu. Ich war leer. Vollkommen ausgelaugt und vielleicht gerade deshalb bereit mich auf diese wahnsinnige Sache einzulassen. Meine Blicke glitten an den Wänden meines Wohnzimmers entlang, an denen ich die Stationen meines Ersatzlebens in Form von Fotos befestigt hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass mit der Zeit die Wand darunter vollkommen verschwunden war. Zwischen Fotos von Geburtstagen, Freizeitparkbesuchen und Fussballspielen und diversen Zeitungsartikeln über mich, auf denen die Autoren mein politisches Handeln entweder tadelten oder lobten ( wenn auch meistens ersteres ) blitzen kleine Partien Weiss hervor. Die Doors drangen aus den Lautsprechern zu mir, so nah wie einen die Worte Jim Morrisons erreichen können. „Sie haben Post“. Die mechanische Stimme aus den PC-Boxen vermengte sich mit den musikalischen Klängen der Orgel. Ich sprang auf, wie aus einer Lethargie gerissen und bückte mich zur Maus herab.
Meine Augen wanderten immer wieder über die E-Mail die ich von Kebekus erhalten hatte. PsychoTranse@web.de. Sehr passend. Wichtiger war jedoch der Inhalt der Mail. Ich erhielt eine Reisebestätigung der Bahn und Datum und Uhrzeit, an der ich meine Karten abholen konnte. Ich hatte noch genau drei Tage.

***
Es sollte noch lange Zeit dauern, bis ich wieder einigermassen zu mir kam. Einstweilen war der Zweifel nicht bewusst. Es war schon immer eine hervorstechende Eigenschaft von mir gewesen. Zwar stellte die kritische Vernunft mein Handeln in Frage, aber immer nur war sie es die zweifelte, niemals die Tat. So handelte ich im Bewusstsein des Ungefilterten. Während die Städte am Zugfenster vorbeizogen, liess das wechselnde Klima auf meinem Weg in den tiefen deutschen Süden die Zeit zu einer diffusen Komponente werden. Ich hätte Jahre oder Sekunden im ICE zubringen können, es hätte im Fühlen keinen Unterschied gemacht. Ich erreichte München ohne mit irgendjemandem ein Wort gewechselt zu haben. Kurz war ich in Versuchung dazu geraten, als eine Kontrolleurin übermotiviert Freundlichkeit und Vertrautheit zur Schau stellte, indem sie die Fahrgäste duzte. Die tiefe Falte zwischen Nase und Stirn und ein Blick in meine Augen liessen sie davon Abstand nehmen selbiges bei mir zu versuchen. Als ich meine Karte in die Innenseite meiner Jeansjacke zurücksteckte striffen meine Finger einen Briefumschlag, den ich am Morgen meines Aufbruchs noch nicht wahrgenommen hatte. Ich nestelte ihn vorsichtig heraus, wobei er sich im Kopfhörerkabel des MP3-Players verfing. Mit hektischer werdenden Bewegungen befreite ich ihn und drehte ihn eher unbedarft wirkend in meiner Hand. Mir war urplötzlich klar geworden, dass der Brief weitere Informationen von Kebekus enthalten musste. Herrgott, mir war nicht mal bewusst gewesen, dass meine Reise ausser einer groben Stadtangabe nicht einmal ein Ziel hatte. Der Gedanke, warum ich Begriffe wie Herrgott verwendete, schoss in mir hoch, da ich doch in den vergangenen Jahren immer wieder versucht hatte es mir im religiösen Nihilismus bequem zu machen, weil diesem Verhalten eine gewisse Rebellenattitüde innewohnte. Der Gedanke verflog, da ich mich am harten Papier des Umschlages geschnitten hatte. Ich riss ihn auf, zog mit der einen Hand den enthaltenen Brief heraus, während ich mit der anderen dem Umschlag zerknüllte und um meinen Daumen presste um die Blutung zu stillen. Meine Augen überflogen die Worte unkontrolliert. Ich hatte schon lange die Fähigkeit eingebüsst einen Text geradelinig zu lesen. Zu gross war das Verlangen endlich zum Kern der Geschichte vorzudringen und in diesem Fall war dieses Verlangen noch präsenter. Ich prägte mir die im Brief enthaltene Adresse ein.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

ich fand im text keinen bezug auf den titel. wie ist der eigentlich zu lesen? schach träume oder schacht räume?
lg
 

Vivere

Mitglied
Hallo flammarion,

der Bezug zum Titel folgt im Fortgang der Geschichte und der Titel ist bewusst für beide Interpretationen gehalten.

liebe Grüsse

Vivere
 



 
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