Scharlachrot schwarz

Markus Veith

Mitglied
"Hast du Vertrauen zu mir?" fragte er sie.
"Ja", sagte sie.
Er öffnete eine Schublade und holte einen scharlachroten Schal heraus.
"Du kennst mich erst seit gestern", gab er zu bedenken.
Sie lächelte. "Ich weiß", hauchte sie nur. Dann verband das Scharlachrot ihr die Sicht zu einer schwarzen Nacht.
Sie fühlte sich bei der Hand genommen und geführt. Sie spürte den körnigen Schmutz auf der Straße. Das Echo der Stadt, wie akustisch aufgemalt auf den hohen Häuserwänden. Sie konnte sie zwar nicht sehen, jedoch schrien sie sich wie Wände einer Schlucht zu vielen Seiten empor. Sie hörte und fühlte das Profil der rollenden Motoren, roch ihren öligen Atem, wie er sich aus ihren eisernen Lungen stöhnte und sich entfernte.
Sie belauschte im Vorbeigehen das Geschwätz der Passanten und das Kichern, wenn sie deren Augen auf den ihren, scharlachrot blinden spürte. Das spielende Gejauchze und Gequieke junger Kehlen. Lächelnd erriet sie ihre Spiele und hörte, daß viele von ihnen wunderschöne, dunkelbraune Augen haben mußten.
Er ließ sie sich behutsam auf etwas couchig quietschendes setzen, das schon einmal naß und dann vom Staub der Straße getrocknet worden war und springfederrund an ihrem Gesäß drückte. Und immer war da seine zärtlich haltende Hand bei ihr.
Sie roch die Häuserecken und die Bordsteinkanten, schmeckte den dunstigen Sonnenschein und den Autodachtau. Sie verzog und rümpfte ihren Geruch und freute sich, ihndoch nun endlich kennenzulernen.
Die Töne, in die sie geführt wurde, wurden bald grün und rauschend. Um sie herum pfiff und sang es. Es krächzte, kratzte und schubberte. Er ließ sie warten und brachte ihr die schönsten Gerüche und Fühlbarkeiten. Mal roch es braun und weich, mal alt und dumpf, mal jung und frisch. Flatterndes Flügeln und zwitscherndes Geräuschgewimmel stob umher wie ein Schneeflockenwind und blies ihr die Schönheiten ins Gesicht.
Oft entfaltete er ihre Hand für ein Etwas, das zerrieselte und plötzlich fort war. Für ein anderes Etwas, das glatt ihre Finger umlief oder umkroch oder umkribbelte oder weich oder behaart oder flink oder langsam war.
Er stellte ihr Rätsel. Fragte sie, welche Farbe dieser Duft, welchen Namen dieses Gefühl habe.
Da war ein kribbeliges, fein gepudertes Gelb, ein splitterndes Braun, ein flaumiges, federleichtes Weiß und ein breites, feuchtes, springendes Grünbraun. Und einmal gab er ihr etwas Schwarzes, Beeriges, Körniges zu schmecken.
Er brachte ihr so viel. Ihre Nase war bald vollgesogen, ihre Haut war stellenweise ein großflächiges Kribbeln. Und sie spürte den Schwarm von Schmetterlingen und Hummeln in ihrem Bauch, wenn sie die haltende Hand in der ihren drückte.
Sie lauschte der beginnenden Nacht. Wie sie sich in aller Munde verabschiedete und sich hier und da der müden Welt verschloß. Und wie ihre Schritte über den Gehweg trotteten.
Er hat seltsame Schritte, dachte sie. Sie klangen so, als gäben sie sich selbst Antwort, wobei sie sich gegenseitig in ihre Stimme trampelten.
Es war sehr schwül. Sie roch den metallischen Geschmack dunkler Wolken über sich. Es grollte erst nur ein bißchen, und für einen Moment glaubte sie, die Welt scharlachrot erleuchtet zu sehen, als mit einem Male kalt und eisig kleine Stellen auf ihr explodierten und sich krachende Schleusen über ihnen öffneten.
Und sie lachte. Sie hörte sich laut und überschwenglich lachen.
"Warte", sagte sie da und hob ihre Hände an sein Gesicht. Sie fühlte seine Stirn und den Haaransatz. Eine Nase, gerade und nicht zu lang. Die kleine, schmale Rinne unter den Nasenlöchern, die sie zu den Lippen führte. Seine Lippen, die sie gerne ...
Doch die sich jetzt seltsam verkniffen anfühlten. Sie merkte ihre Hände umschlossen und ganz kurz nur geküßt.
"Du weißt doch, wie ich aussehe", lachte seine Stimme und versagte für einen kurzen Moment, machte ein künstliches Geräusch, um sich wieder zu befeuchten und machte einen Scherz, über den sie lachte.
Er führte sie springend und spritzend durch die Pfützen, die die Straßen hinter ihren Augen wie zerplatschende Spiegel schmückten. Und der niederfallende Regen durchnäßte das scharlachrote Tuch, machte sie überglücklich weinend.
Die Tür wurde ins Schloß gezogen.
"Hast du immer noch Vertrauen zu mir?" fragte die Stimme bei ihr.
"Mehr denn je", flüsterte sie liebevoll und fühlte sich zu Boden gezogen. Hart und glatt war der und ein kaltes Fiepen streifte sie an der Seite.
"Hast du Hunger?" hörte sie sein lockendes Fragen und wurde sich in diesem Moment dem süßen Duft gewahr, der sie unter ihrer Nase liebkoste. Erdbeerig biß sie zu und war begeistert von der Süße.
Und es kam Marmelade, Schokolade, Wurstiges und Orangendurstiges, Käsegeobstes und Honigbrot, Eier, Rohe und Gekochte. Doch keinen Senf, kein Fett und Zwiebelverbot, weil sie's nicht mochte.
Zum Schluß nur noch Honig. Vom Finger. Und dann ... von seiner Zunge. Und es schmeckte ihr ... oh, wie schmeckte es ihr. Als sie plötzlich zusammenfuhr.
"Was war das?"
"Was denn?"
"Da war ein ... Grunzen. Von dort."
"Es ... tut mir leid ...", sagte er nur.
"Das warst du?"
Seine Stimme zögerte. Sie lauschte, ob das Grunzen immer noch da war.
"Ja ...", sagte seine Stimme endlich. "... Ich konnte nicht anders ... Ich wollte das nicht ... Es tut mir leid."
"Das macht doch nichts", lächelte sie blind, obwohl sie nicht genau wußte, was er meinte.
Sie tastete nach seinem Honigfinger. Befreite diesen von dem Rest seiner süßen Last. Und dann tat seine Zunge es der ihren gleich. Von ihrem Finger. ... Von ihrer Haut.
"Bist du dir auch sicher, daß du mir vertraust?" fragte seine Stimme ganz nah bei ihr. Die Pause, die in dem Schweigen entstand, ließ es in ihrem Bauch flimmern. Es dauerte. Dann spürte sie sich nicken und fragte sich, ob sie wirklich nicken wollte.
Sie wurde aufgehoben. Das machte ihr Spaß. Behutsam wurde sie in weichen Plüsch und Daunenkissen gelegt. Zärtliche Finger nestelten an ihrer scharlachroten Blindheit und heilten sie von ihr. Doch zeigte die Heilung keinen Unterschied. Es war stockdunkel in dem Zimmer. Angenehme bedrohliche Finsternis, in der sie nicht einmal Schatten erkennen konnte.
Sie spürte warme, noch leicht klebrige Berührung auf ihrer Kleidung, ihren Verschlüssen, ihrer kribbelnden Haut.
Sie spürte, wie sich sein Tasten leicht feucht anfühlte, suchte, griff und sehnte. Eine Zungenraupe zwängte sich ihr in den irritierten Mund. Sie schmeckte glatt und hart, weich und verspielt beweglich. Doch sie schmeckte nicht süß ...
Schade, wie schnell Geschmack vergehen kann.
Sie spürte diese Raupe in sich und sie sich in ihm. Und doch fragte sie sich, ob sie richtig sei. Sie hörte und roch Atem und war sich gar nicht mehr sicher. Es war ein Gemisch aus schwerem Schaben und rotwundem Rauch. Ihre Hände berührten kurze, krausgebogene Haare auf dicker, schweißfeucht riechender Haut. Berührten, und trauten sich erst nicht.
Die kauende Raupe ließ von ihrem empfindlich und reich benervten Ohrläppchen ab und war plötzlich fort.
"Wo bist du?" fragte sie in die Dunkelheit.
"Ich bin hier", sagte seine Stimme in der Entfernung eines halben Zimmers. Geräuschlos, nur von ihrem Instinkt wahrgenommen, war er plötzlich wieder da.
Hände umgriffen ihre Gelenke. Banden sie einzeln an etwas geschliffen Hölzernes. Zärtlich, jedoch unnachgiebig. Und sie glaubte an scharlachrote Schleifen.
Sie spürte die Kälte von Stahl, die ihr für einen Augenblick das Blut gefrieren ließ und dann vorsichtig den letzten Stoff an ihr zerschnitt.
Warm und feucht waren seine Hände. Wohlig warm seine Nähe und wundervoll einfühlend und zärtlich seine Berührungen. Sie genoß nun die Dunkelheit, in der ihr ihre Erinnerung sein Gesicht über das ihre zauberte. Wie er die Augen geschlossen hatte. Seinen Mund leicht geöffnet, um den kratzigen Atem über ihr zu ergießen. Leise stöhnend. Zu ergießen. Seine Haare. Kitzelten sie.
Die feuchte Raupe kroch überall an ihr. Sie liebte ihren Weg und gab sich ihr hin. Sie öffnete sich ihr und hinter ihren Augen entflammten die Farben.
Wenn sie seine Küsse in ihrem Mund spürte, wenn sich diese Raupe in ihr wand, versuchte sie ihm auszuweichen. Ihre Hände wollten ihr behilflich sein, doch erinnerten sie sich nun ihrer gefesselten Unbeweglichkeit. Sie wollte seine Stirn, sein Gesicht, alles an ihm ihre Küsse kosten lassen, seinen ganzen Körper dort in der Finsternis mit ihnen überdecken und sich für alles, für die ganze momentane Lust bedanken. Doch ließ er sie nicht. Sie hielt es für ein Spiel und kicherte. Doch sein Ausweichen wurde immer vehementer. Er ließ keinen ihrer Küsse an sich heran. Verwirrt gab sie auf.
"Was ist denn los?" seufzte sie zu dem, was sich da über ihr und in ihr im Akt bewegte und vernahm es plötzlich wieder, jenes Grunzen, das dort stöhnte und nun wilder wurde. Viel wilder. So wild, wie sie es nicht wollte.
"Du tust mir weh", brachte aufkommende Angst aus ihr heraus. "Hör auf."
"Du solltest kein Vertrauen zu mir haben", sagte da seine ruhige Stimme. Stöhnengetrennt von dem wilder werdenden Grunzen über ihr. Und immer noch ein halbes Zimmer von ihr entfernt. Seine schöne ruhige Stimme, die das, was sie sah, zu bedauern schien.
Da hörte sie sich schreien.
 

maskeso

Mitglied
Die langsame, aber unaufhaltsame Zerstörung des mühsam aufgebauten Idylls. Am Anfang Poesie, am Ende die Ernüchterung, hier: der Schrecken. Fantastisch.
 



 
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