Friedrich war seit jeher ein Fischnarr. Schon zur Schulzeit lief er nach dem Ertönen der Glocke nicht nach Hause, sondern an den nahe gelegenen Weiher, wo im Gestrüpp seine selbst gebastelte Angel versteckt lag. Er fing Fische, er kaufte sich von dem wenigen Taschengeld, das er bekam, Bücher über Fische, und leider roch er manchmal auch nach Fisch. Wenn ich mich mit ihm traf, dann musste ich mir immer seine Geschichten über exotische Fische in fremden Gewässern anhören, Geschichten über Quastenflosser, Ohrensardinen und Papageifische. Noch Jahre später fand ich es manchmal ermüdend, wenn ich mich mit ihm auf ein oder zwei Bier verabredete, und er endlos über die zahlreichen Arten der Angelruten fachsimpelte, oder die Unzulänglichkeiten bestimmter Angelhaken anprangerte. Oder wenn er immer und immer wieder die Geschichte von dem kapitalen Hecht, den er einmal, vor über zwanzig Jahren, in einem Flussarm der Mosel gefangen hatte, erzählte. Wenn ich dann versuchte, ihn auf ein anderes Thema zu bringen, dann lächelte er, und sagte: Du hast ja Recht, Gregor, ich rede zu viel über Fische. Aber glaub mir, sobald ich mir so einen schönen Flussbarsch gefangen habe, werde ich mich zufrieden zurücklehnen und wissen, dass ich im Angelsport alles erreicht habe was man nur erreichen kann. Flussbarsche, das wusste ich schon, galten unter Anglern als selten und gewitzt, was sie besonders begehrenswert machte. Der Fang eines Flussbarsches muss so etwas wie die Krönung eines jeden Anglerlebens sein. Durch diese repetitiven Fischgespräche wusste ich auch, dass Friedrich Stichlinge als Köder für seine Angelhaken benutzte, aber dass die Stichlinge in letzter Zeit so teuer geworden waren, dass er sich wieder künstliche Köder kaufte, die man mehrmals benutzen konnte.
Auch bei ihm zu Hause musste man nicht lange überlegen, was wohl Friedrichs Leidenschaft sein könnte. Über die ganze Wohnung verteilt hingen unzählige Poster von Fischarten an den Wänden. In seinem Schlafzimmer hatte er ein 2mal2 Meter großes Poster von einem vor Gibraltar photographiertem Flughahn, der wirklich bizarr aussah. Friedrich hatte mir erklärt, dass dieser Fisch den lieben langen Tag nichts weiter tat, als über dem sandigen Meeresboden zu schweben, und dass er, obwohl man ihn Flughahn nannte, und obwohl er flügelartige Brustflossen hatte, nicht wirklich fliegen konnte. Auch in der Küche, in der wir uns eines Abends mit zwei Flaschen Wein betrunken hatten, hing ein gerahmtes Bild von einem unwirklich aussehenden Fisch. Als wir beide schon recht angeheitert waren, war Friedrich plötzlich aufgestanden, hatte auf das Bild gezeigt, und mir stolz verkündet, dass dieser Fisch ein Lungenfisch sei, der an die Wasseroberfläche steigen müsse, um atmen zu können. Um meinem Gastgeber zu gefallen, heuchelte ich Interesse vor, was Friedrich dann als Anlass nahm, mir einen etwa halbstündigen Vortrag über diese bestimmte Fischart zu geben, und mich mit den blödesten Details und seinem detaillierten Hintergrundwissen zu füttern. Irgendwann, nach langer Zeit, plumpste er dann besoffen auf seinen Stuhl zurück, legte seinen Kopf auf die Tischplatte und schlief ein. Da ich Alkohol schon immer besser vertragen hatte als er, schaffte ich es, ihm unter die Schultern zu greifen, und ihn in sein Schlafzimmer zu transportieren. Als ich die Tür zu seinem Zimmer aufstieß, glaubte ich zu träumen. Das riesige Bett war von einem Vorhang aus Fischnetzen umgeben, und die Bettdecke sowie der Kissenbezug zeigten ein Fischmotiv, einen Schwarm Heringe, die sich unter dem Meereswasser und im Schein der durch die Oberfläche brechenden Lichtstrahlen synchron fort bewegte.
Als ich an diesem Abend nach Hause ging, wurde mir klar, dass ich nie das ganze Ausmaß seiner Vernarrtheit verstanden hatte. Erst an diesem Abend war mir klar geworden, dass für Friedrich Fische nicht nur ein Zeitvertreib, ein Hobby oder eine Leidenschaft waren, sondern eine sein Leben bestimmende Obsession. Nie, dachte ich, werde ich so eine Obsession nachvollziehen können.
*
Ich selbst war, übrigens, ein Ornithologe. Aber ich war nicht verrückt nach Vögeln. Ich hatte nur ein einziges Poster mit einem Vogelmotiv in meiner ganzen Wohnung. Wenn ich mich mit Friedrich traf, dann erzählte ich selten von meiner Arbeit im Vogelschutzgebiet oder von meiner Arbeit als Professor für die ornithologische Station der Universität. Ich hätte mich bestimmt komisch gefühlt, wenn ich ihm von meiner Habilitationsschrift über Zugvögel erzählt hätte, oder über meine wirklich unkonventionellen Theorien bezüglich des Kalifornischen Kondors. Ich glaube auch nicht, dass er meine Verachtung für die Goldoriolen verstanden hätte, eine Vogelart, die vor allem unter Laien für ihre glänzenden, goldgelben Federn verehrt wird. Nein, ich hatte es schon lange aufgegeben, meine Umwelt für meine beruflichen Fähigkeiten zu begeistern, und war auch immer gut damit gefahren. Manchmal kam es vor, dass Leute mich von selbst über meinen Beruf ausfragten, sobald ich ihnen erzählte, dass ich Vogelkundler war. Diesen interessierten Menschen hatte ich dann immer gerne Rede und Antwort gestanden, und ich hatte ihnen bei weitergehendem Interesse auch Bildmaterial gezeigt, oder sie zu einem Besuch im Naturschutzgebiet eingeladen. Auch an der Universität machte mir die Arbeit mit den Studenten Spaß, denn sie sahen mich als eine Koryphäe auf diesem Gebiet, und ihre manchmal demütige Art, mich über eine bestimmte Spezies auszufragen, gab meinem Selbstbewusstsein einen ungeahnten Auftrieb. Aber, und ich bin stolz, das sagen zu können, für mich war die Vogelkunde immer nur ein Beruf, nicht mehr. Im Gegensatz zu Friedrich hatte ich es immer vermocht, Berufliches von Privatem zu trennen. Und so erzählte ich Friedrich, wenn wir uns trafen, nichts über Vögel.
Bis auf eine Ausnahme. Wir waren zusammen in Urlaub nach New York geflogen. Wir hatten uns in einem Hotel in der Nähe des Central Parks einquartiert, und in den ersten Tagen hatten wir die eher unüblichen Sehenswürdigkeiten erkundet. Wir waren raus nach Staten Island gefahren, um uns den höchsten Punkt New Yorks, Todt Hill, anzusehen, und waren dann auch noch bis nach Montauk gefahren, weil wir beide den Autor Max Frisch verehrten. Die üblichen Sehenswürdigkeiten wie die Freiheitsstatue, das Rockefeller Center oder den Trump Tower hatten wir uns nicht angesehen, dafür waren wir zu naturverbunden. Einzig und allein den Times Square waren wir hinauf- und hinab gelaufen, um das Gefühl einer Großstadt, die der Moloch New York ja nun einmal war, in uns aufzunehmen.
Am letzten Tag vor unserer Abreise waren wir dann in den Central Park gegangen. Wir liefen schon eine gute Stunde in dem Park umher, als Friedrich mich plötzlich am Arm festhielt, auf etwas zeigte, und sagte: Schau mal, ein Sperling. Ich schaute in die Richtung, die Friedrich mir angedeutet hatte, und brach sofort in Gelächter aus. Ich lachte so sehr, dass ich mich auf eine Bank setzen musste. Friedrich muss wohl gedacht haben, dass ich einen epileptischen Anfall oder so etwas hatte, denn er versuchte mich zu halten und fragte ganz aufgeregt: Was ist los, Gregor, was ist los? Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, zeigte ich mit dem Finger auf den Vogel, den Friedrich als einen Sperling identifiziert hatte, und sagte, immer noch grinsend: Das, mein lieber Friedrich, ist kein Sperling, sondern eine Elster. Du hast absolut keine Ahnung von Vögeln, oder?
Friedrich hatte daraufhin das Gesicht verzogen. Nein, hatte er dann ruhig erwidert, ich habe keine Ahnung von Vögeln, genauso wenig, wie du Ahnung von Fischen hast.
*
An dem Tag, an dem ich sie zum ersten Mal traf, hielt ich gerade eine Vorlesung an der Universität. Die Vorlesung war schon fast eine halbe Stunde alt, als die Tür aufging, und sie herein kam. Sie stieg die Stufen herab und setzte sich in die erste Reihe, als ich gerade beginnen wollte, die unverkennbaren Merkmale des farbenprächtigen Pfirsichköpfchens zu erklären. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, und ich erinnere mich noch besser an ihre Erscheinung. Sie war in einen schwarzen Mantel gehüllt und sie trug ihr rotes Haar geschlossen in einem Zopf. Ich muss zugeben, dass ich für eine Weile so sehr von ihrer Schönheit geblendet war, dass ich mich nicht wirklich konzentrieren konnte, als ich ein Dia vom Austernfischer an die Wand projizierte. Der Austernfischer ist an Küsten und im Marschland anzutreffen, begann ich, und er ähh, er ähh, nun, seit einiger Zeit wird er auch im Binnenland gesichtet. Ein Student fragte mich, ob er Austernfischer hieß, weil er sich von Austern ernährt, und ich erwiderte, natürlich, sonst hieße er wohl kaum Austernfischer. Erst als es schon zu spät war, fiel mir ein, dass der Austernfischer sich hauptsächlich von Muscheln ernährt, und so gut wie gar nicht von Austern.
Vor lauter Aufregung beendete ich die Vorlesung dann zehn Minuten früher, was einige der Studenten, die mich und mein Pflichtbewusstsein genauestens zu kennen schienen, leicht verwunderte. Meine Aufregung ließ leider auch nicht nach, als sie plötzlich vor meinem Pult stand und mich anlächelte. Ich studiere Entomologie, sagte sie, und ich brauche ein paar Informationen über den Weidenlaubsänger. Für einen langen Moment starrte ich sie an, dann gab ich mir einen Ruck, und sprach zu ihr. Wissen sie, sagte ich, meine Kenntnisse bezüglich des Weidenlaubsängers sind leider etwas limitiert. Wie wäre es, wenn wir uns, sagen wir, Samstagabend zum Essen treffen, bis dahin kann ich ihnen ganz bestimmt eine kleine Mappe zusammenstellen, die alle nötigen und unnötigen Informationen zum Weidenlaubsänger enthält.
Sie schaute mich belustigt an. Die Zeit, die zwischen meiner Einladung und ihrer Reaktion auf meine Einladung verging, kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor. Der Blick, den sie mir in diesem Moment zuwarf, brannte sich an diesem Tag für immer in mein Gedächtnis ein. Ich weiß, dass es dieser Moment gewesen sein muss, in dem ich mich unsterblich in sie verliebt habe.
Warum nicht, sagte sie lächelnd. Wie wäre es mit Samstagabend um Acht?
Ich kenne ein tolles Restaurant, sagte ich. Als sie ging, musste ich mich erst einmal hinsetzen und laut aufatmen. Ich habe sie, übrigens, nie gefragt, warum sie Informationen über den Weidenlaubsänger brauchte, wo sie doch Entomologin war, und ich glaube, dass sie mich auch deshalb mochte, weil ich nie zu viele Fragen stellte.
*
Wir heirateten zwei Jahre später, am 11. Juli 1991, an dem Tage, an dem man von Mexiko aus eine totale Sonnenfinsternis beobachten konnte. Die Heirat war und wird immer der schönste Tag in meinem Leben bleiben. Denn noch in derselben Nacht flogen wir in unsere Flitterwochen auf den Bismarck Archipel. Ich hatte mich für diese Inselgruppe entschieden, weil sie für einen Vogelkundler wie mich, der sich auf exotische Vögel spezialisiert hatte, ein unbedingtes Muss war. Und als Annalena in einem Reiseprospekt ein Fünf-Sterne Hotel gefunden hatte, das sich in der Nähe der Vogelwarte befand, war auch sie der exotischen Vielfalt dieser vor Neu-Guinea gelegenen Insel erlegen, und hatte sich zu einer Reise dorthin bereit erklärt.
Die ersten Tage waren wunderschön. Wir verbrachten einen Tag am Strand, es war herrlich warm, und das azurblaue Meer ergoss sich beständig mit seiner weißen Gischt auf den weißen Sand, der uns die nackten Füße kitzelte. Die Angestellten des Hotels erkannten uns als zahlkräftige europäische Kunden, und lasen uns praktisch jeden Wunsch von den Lippen ab. Als ich am dritten Tag fragte, ob sie auch Touren in die nahe gelegene Vogelwarte unternahmen, erzählte mir der Concierge gleich von einer für den übernächsten Tag geplanten Jeep-Tour, bei der, gegen eine stattliche Gebühr natürlich, ein einheimischer Fahrer uns in die interessantesten Gebiete fahren konnte. Ohne Annalena zu fragen, buchte ich gleich zwei Plätze für die Tour.
Zwei Tage später fuhren wir. Annalena war natürlich etwas sauer, weil ich sie ohne zu fragen mit eingeschrieben hatte, aber da es unsere Flitterwochen waren, und ich ihr diesen Trip auch für sie als Entomologin schmackhaft machen konnte, verlor sich ihr Schmollen im Fahrtwind, den die riskanten und rasanten Manöver unseres waghalsigen Fahrers produzierten.
Als wir in der Vogelwarte ankamen, traute ich meinen Augen nicht. Ein buntes Gemisch exotischer Vögel flog ganz unbekümmert in den hohen Bäumen und Palmen umher, und fühlte sich durch unsere Anwesenheit nicht im Geringsten gestört. Mit meiner Spiegelreflexkamera und mit aufgesetztem Teleobjektiv machte ich mich sogleich an die Arbeit. Schon innerhalb einer Stunde waren mir mehrere gute Photographien vom Blutschnabelweber, vom Goldhähnchen und vom Schneidervogel gelungen. Sowohl physisch als auch gedanklich glaubte ich mich im Paradies. Nie wieder habe ich so ein lohnendes Erlebnis, in beruflicher wie privater Hinsicht, gehabt.
Dass Annalena unser Ausflug in die Vogelwarte nicht ganz so begeisterte wie mich, merkte ich, als wir nach vier Stunden den anstrengenden Marsch unterbrechen mussten, damit sie sich ausruhen konnte. Während sie sich von unserem Fahrer die Füße massieren ließ, und sich lauthals über die Strapazen des Marsches beschwerte, ging ich auf einen mit starken Ästen bestückten Baum zu und begann, an ihm herauf zu klettern. Nach knapp zwanzig Minuten und gut fünfzehn Meter über dem Erdboden war ich an einem Vogelnest angelangt. Wie unschwer zu erkennen war, handelte es sich um das Nest eines vom Aussterben bedrohten Salomonentrupials. Wie viele andere Vogelarten nutzt der Salomonentrupial zum Nestbau Materialien, die er in unmittelbarer Nähe findet. Im Gegensatz zu den anderen Vogelarten ist sein Nest jedoch wie ein Napf geformt, und es besteht zu einem großen Teil aus Viehhaaren und Bindfäden. Auch das Nest, das ich vor mir hatte, war größtenteils aus Viehhaaren und Bindfäden gemacht worden. Um das ganze Nest herum befand sich jedoch zusätzlich eine Schicht Spinnweben, die das Nest mehr wie einen Kokon aussehen ließen. In dem Nest lagen zwei Eier, beide cremig weiß, mit einem schwarzen Bereich an jedem Ende. Da es Juli war, erstaunten mich diese zwei Eier. Der aktuelle Forschungsstand bezüglich des Salomonentrupials besagte nämlich, dass die Brutzeit dieses Vogels für gewöhnlich zwischen Ende August und Anfang Oktober lag.
Als ich wieder vom Baum herunter geklettert war, machte ich Annalena sofort auf meine Entdeckung aufmerksam. Ich sagte ihr, dass ich sobald als möglich die Herausgeber des Bestimmungsbuches, das ich bei mir hatte, anrufen müsse, um ihnen meine Entdeckung mitzuteilen. Annalena schaute mich jedoch nur entgeistert an, und sagte dann zum Führer: Please take us home.
Wir verbrachten noch zwei weitere herrliche Wochen auf dem Bismarck Archipel. Ich unternahm noch einige Touren in die Vogelwarte, und hatte somit am Ende unserer Reise genug Photomaterial zusammen um ein eigenes Buch über die Vogelarten dieser Inselgruppe herausbringen zu können. Annalena jedoch zog es vor, am Strand oder im Hotel zu bleiben, um sich dort mit den anderen internationalen Gästen zu unterhalten, oder um eins ihrer mitgebrachten Bücher zu lesen.
*
Ich weiß nicht mehr, warum ich Friedrich erst mit Annalena bekannt machte, als wir schon über vier Jahre verheiratet waren. Vielleicht, so denke ich heute, schämte ich mich ein bisschen für ihn. Vielleicht konnte ich mir aber auch einfach nicht vorstellen, dass Annalena und Friedrich sich viel zu sagen hätten. Friedrich war ein ganz anderer Typ als Annalena, und er lebte in seiner Welt. Wahrscheinlich befürchtete ich auch, dass Friedrich Annalena mit seinen endlosen Geschichten über den Fischfang langweilen würde, und dass Annalena sich später bloß darüber beschweren würde, dass ich sie einander vorgestellt hatte.
Jedenfalls gingen wir eines Abends miteinander essen. Friedrich hatte uns in sein Lieblingsrestaurant eingeladen, ein Fischrestaurant natürlich. Wir trafen uns um acht Uhr abends, und Annalena begrüßte ihn überschwänglich. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, sagte sie, Gregor erzählt oft von ihnen. Friedrich antwortete darauf mit einem lockeren Spruch, den ich akustisch nicht verstand. Annalena aber lachte, und dann betraten wir das Restaurant. Es war ein Restaurant der gehobenen Preisklasse, und anstatt der gewöhnlichen Fenster waren Bullaugen in die Wände eingelassen. Der Boden knarrte und quietschte wie die Holzbohlen auf einem Schiffsdeck, und die Kellner trugen, wie es nicht anders zu erwarten war, Matrosenanzüge. Ich fand die Atmosphäre ein bisschen lächerlich, aber Annalena schien es zu mögen. Wir setzten uns in eine entlegene Ecke des Restaurants, und ließen es uns gut gehen.
Nach etwa drei Flaschen Weißwein und nach unseren Hauptgerichten begann der Abend feuchtfröhlich zu werden. Annalena erzählte von ihrer Arbeit als Entomologin, und Friedrich hörte ihr gespannt zu. Als Friedrich schließlich einen Witz über Frösche machte, die gehen, hüpfen und fliegen konnten, lachte Annalena unerhört laut. Noch während sie sich in Lachkrämpfen schüttelte, stupste sie Friedrich an der Schulter, und sagte: Sie sind ja ein komischer Vogel. Fisch, gab Friedrich zurück, Fisch, der komische Vogel sitzt gegenüber, und zeigte dabei auf mich. Ich verzog nur das Gesicht, aber Annalena überkam ein neuer Lachkrampf. Auch für den Rest des Abends schien sie sich köstlich zu amüsieren, und obwohl Friedrich wieder seine Geschichte vom größten Fang, eben jenem kapitalem Hecht im Flussarm der Mosel, zu erzählen begann, schien Annalena sich prächtig zu amüsieren. Ich hingegen war froh, als wir gegen zwei Uhr in der Früh das Restaurant verließen.
Als wir nach Hause liefen, fragte ich Annalena, ob sie bemerkt habe, welch strengen Geruch Friedrich verströme, und wie sehr man sich wundern müsse, dass ihm trotz seiner Begeisterung für Fische noch keine Schwimmhäute gewachsen seien. Annalena erwiderte nur, dass sie an ihm keinen besonderen Geruch ausgemacht habe, und dass sie ihn, selbst wenn er nach Fisch röche, mögen würde. Ich würde dich auch mögen, wenn du nach Vögeln röchest, fügte sie kichernd hinzu. Daraufhin wurde ich ein wenig ungehalten, schließlich gibt es meiner Meinung nach keinen haarsträubenderen Vergleich als den von Fisch- und Vogelgeruch. Fische riechen nach Fett und ranziger Schmierseife, erläuterte ich, Vögel aber, fuhr ich fort, Vögel verströmen einen luftigen Geruch von Rosenwasser, ihr Gefieder umgibt ein Hauch von Freiheit. Bei dem Wort Freiheit brach Annalena wieder in Gelächter aus, ein Gelächter, das so beißend war, dass ich mich persönlich angegriffen fühlte. Ich redete weiter auf sie ein, und versuchte, sie von der falschen Verhältnismäßigkeit ihres Vergleichs zu überzeugen. Aber je mehr ich auf sie einredete, desto weniger sagte sie. Weißt du, Gregor, ich finde, dass du dieser Sache eine Bedeutung beimisst, die sie nur schwerlich verdient, sagte sie, als wir endlich zu Hause angekommen waren.
*
Im siebten Jahr unserer Ehe schrieb Annalena ihre Habilitationsschrift. In ihrer Habilitationsschrift, so erklärte sie mir, wollte sie zeigen, wie vor Millionen von Jahren Fische sich Schritt für Schritt zu Amphibien fortentwickelt hatten, und dann schließlich, im Laufe der Jahrhunderte, zu Reptilien geworden waren. Ich hatte von solch einer Theorie schon mal gehört, und so fragte ich sie, ob ihre Theorie nicht ein Gemeinplatz der Evolutionsforschung wäre. Sicher, hatte sie geantwortet, aber in meiner Habilitationsschrift setze ich ganz andere Schwerpunkte, und auch unterscheidet sich mein Ansatz stark von den etablierten Arbeiten zu diesem Thema. Ich werde die Forschung mit meiner Habilitation in eine ganz andere Richtung lenken, sagte sie kokett. Da ich so gut wie gar nichts über Bodentiere wusste, konnte ich ihr bei der Habilitationsschrift nicht behilflich sein. Ich schlug ihr jedoch vor, Friedrich zu kontaktieren, schließlich war er mit Fischen und ihrer Geschichte bestens vertraut. Er wird dir sicherlich helfen können, sagte ich. Annalena nahm diesen Ratschlag gerne entgegen, und keine zwei Tage später rief sie ihn an. Sie verabredeten sich für den darauf folgenden Tag und Annalena nahm Friedrichs Einladung, bei ihm vorbei zu kommen, hocherfreut an.
Im Laufe der Zeit traf sie sich immer öfter mit Friedrich. Das ging manchmal so weit, dass sie erst spät abends nach Hause kam. Ich machte mir allerdings keine Sorgen, schließlich konnte ich mir absolut nicht vorstellen, dass Annalenas Interesse an Friedrich nicht ausschließlich beruflicher Natur war. Ich bemitleidete sie sogar, weil sie sich so sehr für ihre Habilitation aufopferte, dass wir unser soziales Leben immer mehr einschränkten. Wir gingen am Wochenende immer seltener weg, und auch unsere wenigen Freunde kamen immer seltener zu Besuch. Aber ich wusste ja auch, wie aufreibend die Zeit der Habilitation war, schließlich hatte ich auch mal eine geschrieben. Zu jener Zeit hatte ich persönlich sogar auf jegliche soziale Kontakte verzichtet. Ich hatte mich damals quasi in meiner Junggesellenbude für den Zeitraum eines Jahres eingeschlossen, und war nur zu den nötigsten Dingen wie Einkaufen und Sprechstunden des betreuenden Professors aus dem Haus gegangen. Deswegen fand ich Annalenas Verhalten auch nicht im Geringsten sonderbar.
An einem Abend im Dezember kam sie erst nach Mitternacht nach Hause. Sie hatte den ganzen Tag bei Friedrich verbracht. Ich war schon eingeschlafen, aber die Geräusche, die sie im Bad machte, weckten mich wieder auf. Ich war ein bisschen verstimmt, weil ich es grundsätzlich nicht mochte, wenn man mich aus dem Schlaf holte. Annalena nahm sich im Schein der Badezimmerlampe die Ohrringe ab, die ich ihr zu unserem fünfjährigen Hochzeitsjubiläum geschenkt hatte, und schlüpfte schließlich in ihr Nachthemd. Als sie ins Bett gekrochen kam, stellte ich mich schlafend. Doch Annalena kannte meine Art, mich schlafend zu stellen, und so versuchte sie, sich an mich zu kuscheln. Ich war aber immer noch schlecht gelaunt, und so stieß ich sie von mir fort. Lass mich, sagte ich. Sie schien erschüttert. Was hast du denn, fragte sie. Mir fiel kein wirklicher Grund für meine schlechte Laune ein, und so sagte ich: Du riechst nach Hering!
Das saß. Für ungefähr eine halbe Minute saß Annalena aufrecht auf dem Bett und schaute mich ganz entgeistert an. Dann, noch eine halbe Minute später, verließ sie das Bett und ging auf die Tür zu. Bevor sie aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer verschwand, drehte sie sich noch einmal zu mir um und sagte: Karpfen, ich rieche nach Karpfen, nicht Hering.
*
Ihre Treffen mit Friedrich rissen nicht ab. Jetzt kam sie nicht mehr um Mitternacht nach Hause, sondern erst am frühen Morgen. Und noch immer schrieb ich diese langen Abwesenheiten einzig und allein ihrem beruflichen Interesse zu. Abgesehen davon war ich selber beruflich auch ziemlich eingespannt. Ich schrieb eine Arbeit über den Scharlachroten Honigesser, oder Myzonela sanguinolenta. Ich fand heraus, dass diese seltene Vogelart in Neukaledonien verbreiteter war, als man allgemein annahm. Auch konnte ich feststellen, dass diese Spezies, die man in Neukaledonien auch den Blutvogel nannte, im Frühling meistens in Vierer- oder Fünferschwärmen auftrat, während sie in den Wintermonaten eher nomadisch lebte. Auch die Essgewohnheiten des Scharlachroten Honigessers gaben zu einiger Überraschung Anlass. So ernährt dieser Vogel sich hauptsächlich von Eukalyptusbäumen, der Rinde von Teesträuchern und dem Saft der wirklich seltenen Banksien, kleinen Nadelbäumen, die vereinzelt in den Wäldern Neukaledoniens wachsen. Das Männlein veräußert bei der Balz eine schnelle Folge von Pfeiftönen, die man zumeist in der Mittagshitze des neukaledonischen Sommers vernehmen kann, zu einer Zeit also, wo die meisten anderen Vögel eher still sind. Die Eier, die der Scharlachrote Honigesser legt, sind weiß, mit einem gräulichen Schimmer an den Enden. Die Küken sind bei der Geburt schon gefiedert, wobei die Farbpalette des Gefieders von kastanienbraun bis anilinrot reicht.
Ich war ziemlich versunken in meiner Arbeit. Manchmal verbrachte ich ganze Nachmittage damit, Gespräche mit neukaledonischen Förstern zu führen, die die von mir untersuchte Spezies schon einmal zu Gesicht bekommen hatten. Nach ungefähr zwanzig Telefonaten konnte ich sogar einen Förster dazu überreden, mir einen Scharlachroten Honigesser zuzuschicken. Am liebsten hätte ich natürlich einen lebenden Vogel dieser Art bekommen, aber aufgrund der strengen Auflagen des internationalen Zolls war dies nicht möglich. So ließ ich mir einen eines natürlichen Todes gestorbenen Scharlachroten Honigesser an meine Adresse in der Universität schicken. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis das Exemplar bei mir eintraf. Ich verschanzte mich regelrecht in meinem Büro und öffnete das Paket. Als ich die letzten Schnüre und das letzte Papier von der Schachtel entfernt hatte, nahm ich behutsam den Deckel ab. Und dann sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Scharlachroten Honigesser. Wie ich den Vogel so daliegen sah, mit seinen abgespreizten Krallen, überkam mich ein Gefühl der Trauer. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, dass selbst so ein exotischer Vogel dasselbe Schicksal wie alle anderen Vögel erleiden musste.
Wenn Annalena zu Hause war, ließ ich sie meistens in Ruhe. Ich wollte sie nicht bei ihrer Arbeit stören, genauso wenig, wie ich bei meiner Arbeit gestört werden wollte. Ich hielt es für das Beste, sie während dieser anstrengenden Zeit allein zu lassen. Abgesehen davon interessierte ich mich auch nicht sonderlich für ihre Arbeit. Ich konnte ihre Begeisterung für diese unästhetischen Kriechtiere nicht nachvollziehen, und das merkte sie mir wohl an. Jedes Mal, wenn ich sie dabei beobachtete, wie sie in ihrem Arbeitszimmer irgendwelche Tiere sezierte, überkam mich der Brechreiz. Wenn die Gedärme und Innereien dieser Tiere aus der Bauchdecke hervor traten, wurde mir jedes Mal übel. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn sie sich für meine Arbeit interessiert hätte, und ich mich für ihre. Aber ich denke, dass man solche Gemeinsamkeiten nicht erzwingen kann, und ich fand es auch nicht richtig, Interesse vorzuheucheln, wo keines vorhanden war. Also ließ ich sie ihre Arbeit machen und ich machte meine.
*
Einen Monat nachdem sie ihre Habilitationsschrift eingereicht hatte, verließ sie mich. An einem schönen Sonntagmorgen stand sie plötzlich mit gepackten Koffern im Türrahmen, sagte Lebewohl, und verschwand dann. Ich hatte nicht einmal die Zeit, ihr etwas hinterher zu rufen. Ich hatte keine wirkliche Ahnung davon, was um mich herum passierte, und so tat ich erst einmal gar nichts. Als am Nachmittag das Telefon klingelte, glaubte ich, dass Annalena mich anrief um sich zu entschuldigen. Als ich den Hörer abnahm, erkannte ich ihre Stimme, aber ihr Ton war nicht sehr entschuldigend. Ich bin bei Friedrich, sagte sie tonlos, ich werde bei ihm einziehen. Ich war schockiert. Ich hatte trotz ihrer vielen Treffen mit Friedrich nicht im Traum daran gedacht, dass eine Frau, ganz zu schweigen von meiner Frau, jemanden wie Friedrich attraktiv oder charmant finden konnte. Warum? fragte ich erschüttert, warum? Annalena blieb ganz ruhig. Nun, sagte sie, erstmal, weil er in einer Zeit für mich da war, in der du mir nur die kalte Schulter gezeigt hast. Dann, weil er und ich die gleichen Interessen haben. Im Gegensatz zu dir ist er sehr bodenständig. Nimm ess mir nicht übel, Gregor, aber du lebst nur für deine Vögel und für nichts sonst. Jedes Mal, wenn ich mich mit dir unterhalten wollte, flogst du mir mit deinen Vögeln davon. Ich kann einfach nicht mehr, Gregor, ich kann einfach nicht mehr. Es tut mir leid. Dann hängte sie auf. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Die ganze Zeit, in der ich geglaubt hatte, dass Friedrich und Annalena rein beruflich miteinander zu tun hatten, war Friedrich auf ein Affäre mit meiner Frau aus gewesen. Er musste sie so becirct haben, und ihr wahrscheinlich auch ein paar Lügen über mich erzählt haben, dass sie seinen Machenschaften letztendlich erlegen war.
Die folgenden Tage passierte nichts. Ich ging wie gewöhnlich meiner Arbeit nach, und hoffte darauf, dass Annalena Friedrich bald satt haben, und schließlich zu mir zurückkehren würde. Ich war mir sicher, dass diese Sache zwischen Annalena und Friedrich von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, und dass Annalena bald erkennen würde, was für ein Profilneurotiker Friedrich in Wirklichkeit war. Immer und immer wieder verglich ich mich mit Friedrich, und immer schloss ich meinen Vergleich zu meinen Gunsten ab. Ich hatte einen besser bezahlten Beruf als Friedrich, ich war gesellschaftsfähiger, und, ich weiß, das klingt jetzt vielleicht ein wenig anmaßend, aber ich sah auch besser aus als Friedrich. Je mehr ich über Annalena und Friedrich nachdachte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass Annalena jene Art von Seitensprung beging, der in diesen Lifestyle-Magazinen als ‚positiver Seitensprung’ beschrieben wird. Dieser Theorie zufolge würde Annalena bald an den Mängeln, die Friedrich zweifelsohne hatte, erkennen, dass ich in punkto Zuverlässigkeit, Aussehen und Charakterstärke weitaus besser abschnitt als er. Dann würde dieser Seitensprung letztendlich unserer Ehe zu neuem Schwung verhelfen, und Friedrich wäre dann nicht nur Annalena los, sondern auch mich, seinen ehemaligen Freund.
Als zwei Monate vergingen, und Annalena immer noch nicht zurück war, begann ich an der Theorie des ‚positiven Seitensprungs’ zu zweifeln. Ich glaubte, dass Annalena nun wirklich bald erkennen müsse, was für ein Depp Friedrich war, und wie verhaltensgestört seine Fischliebe auf den gesunden Menschenverstand wirkte. Ich vermutete, dass Annalena Friedrich schon längst verlassen hatte, und dass sie nun alleine in einem Hotel wohnte, um sich ein wenig Zeit zu lassen, bevor sie zu mir zurückkehrte. Ich weiß, um mir Gewissheit zu verschaffen, hätte ich nur bei Friedrich anrufen müssen. Aber mein Stolz war zu groß und zu gekränkt, als dass ich Friedrich einfach so hätte anrufen können. Schließlich war er es gewesen, der mich schamlos hintergangen, und mir meine Ehefrau gestohlen hatte. Wenn sich einer bei mir melden und entschuldigen musste, dann doch wohl er. Hätte ich bei ihm angerufen, hätte es so ausgesehen, als bettelte ich bei ihm um meine Frau. Diese Blöße konnte und wollte ich mir nicht geben.
*
Ein Jahr verging und nichts passierte. Ich schaute jeden Abend aus dem Fenster unserer Wohnung, und in jeder vorbeigehenden Passantin sah ich Annalena. An der Universität schlich ich ein ums andere Mal um das entomologische Seminar herum, doch niemals traf ich dort auf Annalena. Nur in den Universitätsnachrichten las ich, dass Annalena ihre Doktorwürde erlangt, und für ihre Habilitationsschrift die Bestnote bekommen hatte. Sie hatte es also geschafft. Ich freute mich für sie, aber mehr noch hätte ich mich gefreut, wenn sie bei mir vorbei gekommen wäre, um mich zu ihrer Doktorparty einzuladen.
Auch mein Beruf litt unter der privaten Misere. Ich verlor mehr und mehr das Interesse an Vögeln, und konnte einen Sperling nicht mehr von einem Spatz unterscheiden, wie wir Ornithologen sagen. Mir war es auch egal geworden, dass der Scharlachrote Honigesser sich aufgrund der sorgfältigen Planung und Pflege des WWF derart vermehrt hatte, dass er nicht mehr auf der Liste der bedrohten Tierarten stand. Auch die Ehrendoktorwürde der Universität Nouméa, die sich für meine Bemühungen zur Erhaltung des Scharlachroten Honigessers erkenntlich zeigen wollte, nahm ich ohne größere Freudensprünge entgegen. Mein neues Projekt, eine Arbeit über die südostasiatischen Echosalanganen, kam nur schleppend voran. Obwohl ein befreundeter Experimentalbiologe aus Köln über ein Nest der Echosalanganen verfügte, konnte ich mich nicht dazu überwinden, die Reise dorthin anzutreten. Ich wusste, dass die südostasiatischen Echosalanganen ihre Nester komplett aus Speichelsekret herstellten, und dass diese Nester sogar essbar waren. Ich hatte verschiedene Exemplare dieser Nester schon auf Fotos gesehen, und konnte mir nicht vorstellen, dass eine Untersuchung eines realen Nestes irgendwelche bahnbrechenden Erkenntnisse, die nicht schon vorher in irgendwelchen Büchern besprochen worden waren, hervor bringen würde. Auch ging es meinem Kollegen nicht nur um mein Interesse am Echosalanganen. Er hatte mich gebeten, vor seinen Studenten eine Vorlesung über den Scharlachroten Honigesser zu halten. Gerade diese Bitte ließ mich erkennen, dass meine beruflichen Erfolge immer mehr auf diese eine Arbeit über den Scharlachroten Honigesser reduziert wurden, und dass meine anderen Arbeiten, in die ich mindestens genauso viel Energie investiert hatte wie in meine Arbeit über den Honigesser, als eher unwesentlich für die Ornithologie behandelt wurden. Und so sagte ich meinem Kollegen aus Köln nach reiflicher Überlegung ab.
Eines Tages lief ich dann Friedrich über den Weg. Er kam mir auf der Einkaufsmeile des Stadtzentrums entgegen, und als er mich sah, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. Dennoch kam er auf mich zu, und wollte mir sogar die Hand schütteln, die ich ihm aber verweigerte. Immer noch sauer? fragte er zerknirscht. Sauer trifft es nicht ganz, Friedrich, entgegnete ich ihm in einem Ton, der aus meinem gekränkten Stolz keinen Hehl machte. Es tut mir leid, fuhr Friedrich fort, aber du kannst eine gewisse Schuld deinerseits nur schwerlich leugnen. Alles, wofür du dich jemals interessiert hast, sind deine Vögel. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so sehr in seinem Beruf aufging wie du. Annalena hat mir erzählt, dass du ihr nie zugehört hast, wenn sie von ihren Problemen erzählt hat. Alles, was ihn interessiert, ist dieses dumme Gefieder, hat sie gesagt. Und ich finde, dass sie nicht ganz Unrecht hat.
Friedrich machte mich ganz wütend mit seinem analytischen Gehabe. Was weißt denn du, fuhr ich ihn an, du…, du dummer Kabeljau, du verfaulter Aal, du teuflischer Glattrochen. Friedrich lachte nur, murmelte etwas wie, Du lernst es nie, was, und lief davon. Ich konnte einfach nicht verstehen, was Annalena mit so einem Trottel wollte, der Fische pries, als wären sie eine dem Menschen übergeordnete Kreatur, und der von Vögeln so viel verstand wie ein Zebra.
*
Kurz vor Weihnachten traf ich dann auch auf Annalena selbst. Ich traf sie im Festsaal der Universität, bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an ein Mitglied der britischen Königsfamilie. Ich stand an der Sektbar, als sie plötzlich neben mir stand. Wie geht es dir? fragte sie behutsam. Gut, log ich. Übrigens, fuhr sie fort, ich bin dir immer noch sehr dankbar dafür, dass du in die Scheidung einwilligen willst. Es ist schade, dass wir das so unpersönlich über unsere Anwälte abwickeln mussten, findest du nicht auch. Ja, sagte ich wieder. Wann wollt ihr beiden denn heiraten? fragte ich mit einem Schmerz in der Brust. Oh, sagte Annalena, wir haben schon einen Termin für Juli im nächsten Jahr. Friedrich hätte gerne kirchlich geheiratet, aber das geht ja nun nicht. Ich werde aber trotzdem ein schönes, weißes Kleid für die Hochzeit kaufen. Mir kamen fast die Tränen. Da stand Annalena, die Frau, die ich abgöttisch liebte, und erzählte mir von ihrer Hochzeit mit meinem besten Freund.
Um mich auf andere Gedanken zu bringen, wechselte ich das Thema. Ich schreibe gerade ein Buch über den südostasiatischen Echosalanganen, sagte ich. Aha, erwiderte sie. Ja, fuhr ich unbeirrt fort, es ist ziemlich interessant. Der Echosalangane baut sein Nest nämlich nicht aus kleinen Zweigen oder aus Laub, sondern aus seinem eigenen Speichelsekret. Ich werde vielleicht bald nach Köln fahren, um mir dort ein Exemplar eines solchen Nestes anzugucken. Aha, sagte sie erneut. Eine Pause entstand. Während ich noch überlegte, was ich als nächstes sagen könnte, ergriff Annalena wieder das Wort. Du, ich muss weiter, sagte sie. Wir sehen uns. Wir sehen uns, sagte auch ich. Dann verschwand Annalena in der Menge. Ich blieb mit dem Sektglas in der Hand allein zurück. Kurze Zeit später sah ich Annalena noch einmal, wie sie Arm in Arm mit Friedrich den Festsaal verließ. Friedrich flüsterte ihr etwas ins Ohr, was Annalena zum Lachen brachte. Als sie für mich nicht mehr zu sehen waren, kam mein wissenschaftlicher Assistent auf mich zu, und versuchte, mich in ein Gespräch über meine Arbeit über den Honigesser zu verwickeln. Ich blockte das Gespräch etwas unhöflich ab, indem ich sagte, ich fühle mich nicht wohl. Ohne mich von irgendjemandem zu verabschieden, ging ich nach Hause.
Meine Arbeit über den Echosalanganen führte ich nicht zu Ende. Ich gab die Arbeit an meinen wissenschaftlichen Assistenten weiter, der über den Echosalanganen seine Habilitationsschrift schreiben wollte. Ich nickte nur, als er mich fragte, ob ich ihm bei seiner Arbeit zur Hand gehen könne. Im Grunde war mir der Echosalangane egal.
*
Heute war ich beim Dekan der Universität. Ich hatte einen offiziellen Termin mit ihm vereinbart. Als ich in sein Büro kam, winkte mich die Sekretärin gleich durch, und sagte, dass der Dekan mich schon erwarten würde. Ich klopfte an die Tür, und Sekunden später ging die Tür auf, und der Dekan stand im Türrahmen. Kommen sie rein, sagte er fröhlich. Kommen sie rein, Herr Eisenstein, sagte er und lachte, weil es sich reimte. Ich schüttelte ihm die Hand und setzte mich dann auf den von ihm angebotenen Stuhl. Was führt sie zu mir, werter Kollege? fragte der Dekan. Wenn sie mehr Fördergelder für eine Arbeit brauchen, dann muss ich ihnen gleich sagen, dass mir die Hände gebunden sind. Ich weiß, sie haben mit ihrer Arbeit über den Scharlachroten Honigesser einen wesentlichen Beitrag zum guten Ruf dieser Universität geleistet, und ich bin ihnen auch sehr dankbar dafür, aber sehen sie, ich kann nicht mehr Geld ausgeben als ich habe. Das verstehen sie doch, Herr Eisenstein, oder? Natürlich verstehe ich das, erwiderte ich müde. Ich will auch gar kein Geld von ihnen. Aha, lachte der Dekan, das sind doch mal gute Nachrichten. Also dann, Herr Eisenstein, wo drückt denn der Schuh, immer raus mit der Sprache?
Also, fing ich an, ich bin nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass es für mich das Beste ist, meine Stelle hier an der Universität aufzugeben. Der Dekan schien ernsthaft erschüttert. Aber warum denn das, stotterte er, warum denn das? Sie sind einer unserer besten Männer hier, Herr Eisenstein, aufgrund ihrer sorgfältigen Arbeiten sind sie praktisch zu einem Aushängeschild dieser Universität geworden. Sie können mich doch jetzt nicht im Stich lassen. Nicht jetzt, Herr Eisenstein, nicht jetzt. Sie sind doch der Mann, der alles über Vögel weiß, ja, noch nie im meinem Leben habe ich jemanden getroffen, der so vernarrt in Vögel war, und der soviel über Vögel wusste wie sie, Herr Eisenstein. Ach, Vögel, sagte ich leicht verbittert. Alles was die tun, ist ihre Federn zu spreizen und herum zu fliegen. Ich brauche einfach in Zukunft etwas Abstand zu meinem Beruf, schließlich will ich mich an der Oxford Universität in England bewerben. Aha, sagte der Dekan, ist dort ein Lehrstuhl freigeworden? Nicht dass ich wüsste, entgegnete ich ihm, es interessiert mich auch nicht. Ich will mich dort als Student bewerben, nicht als Lehrkraft.
Jetzt schien der Dekan vollkommen perplex. Als Student, wunderte er sich. Ja, aber um Himmels willen, Herr Eisenstein, was wollen sie denn studieren?
Ichthyologie, sagte ich, mit einem Lächeln im Gesicht.
|