Schatt al-Arab

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steyrer

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Dora war eine vornehme alte Dame, der kein ordinäres Wort über die Lippen kam und auch diesmal flüsterte sie nicht einmal, sondern dachte nur: „Himmel, Teufel noch mal!“ Vor ihr lag das Geburtstagsgeschenk ihres Großneffen Roderich: Eine alte Zigarettendose mit einem kleinen Segelschiff und der verschlungenen Aufschrift „Schatt al-Arab. Leichte Mischung. 20 Cigaretten.“ Sie war überzeugt gewesen, dass diese Zigaretten erfunden wären, und zwar von ihr. Nun wusste sie nicht ob sie sich auf den Arm genommen, oder beschämt fühlen sollte. Bis zum Besuch Roderichs war alles wie üblich verlaufen: Sie hatte eine Schallplatte aufgelegt, in einem Sessel Platz genommen und Besucher empfangen, die zu ihrem 75. Geburtstag Bonbonnieren, Schnäpse; Blumensträuße und Engelsfiguren überreichten, aber niemand von ihnen „ganz gewisse Kleinigkeiten.“ Dennoch wiederholte sie immer und immer wieder: „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem.“ Dies stimmte und für Roderich hatte sie deshalb Schatt-al-Arab-Zigaretten erfunden. Roderich hatte aber kein leeres altes Sammlerstück gebracht, sondern eine originalversiegelte Dose aus den 50ern. „Das ist absolut unmöglich“, überlegte sie, „was will dieser junge Mensch von mir?“ Einmal hatte sie ihn vertraulich beiseite genommen und eröffnet, dass er als einziger anständiger, guter, einfühlsamer Mensch ihr gesamtes Vermögen erben solle. Er hatte als einziger Verwandter abgelehnt. Seit damals hielt sie ihn abwechselnd für besonders anständig, für besonders schlau oder besonders dumm und manchmal schien ihr, als sei das alles dasselbe. Sein Gesicht vermochte sie sich nicht einzuprägen.

Die Dose sah mit ihren Rostflecken und Sprüngen tatsächlich sehr alt aus und – sie setzte ihre Lesebrille auf – wirkte dieses Schiff nicht eher wie ein Wrack, oder täuschten die vielen Sprünge und Flecken? Sie konnte sich nicht entscheiden. Sie legte die Dose weg und sah geistesabwesend in ihren Schminkspiegel ohne die Brille abzunehmen. Sie schrak zurück, denn aus dem Spiegel sah ihr ein grell geschminktes Mumiengesicht entgegen: „Habe ich so die Gäste empfangen?“ Jetzt fiel ihr wieder ein: Es hatten alle auffallend oft betont, wie jung und blühend sie aussähe. Ja, alle außer Roderich. Dora war vor Schreck gegen den Teetisch getreten und die Dose fiel auf den Boden und sprang auf. Sie bückte sich mühsam, aber kein Geruch von vertrocknetem Tabak strömte heraus, sondern der von Veilchen. Sie roch irritiert noch einmal, aber der Duft nach Veilchen blieb, schlug dann in den von Rosen um und wurde schließlich zu einem ausgeprägten Orangenduft. Dabei waren die Zigaretten eindeutig mit uraltem, bröseligen Tabak gestopft. „Der Geruch der Heiligkeit“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie überlegte kurz, ob Roderich eine abgründige Neigung hätte, verwarf diesen Gedanken aber rasch: „Vielleicht wollte er mir einfach nur eine kleine Freude machen?“ Der Orangenduft verwandelte sich in einen sehr kräftigen, bodenständigen Geruch: Kamelmist. Sie legte die Dose verärgert weg und stand auf, um ein Fenster zu öffnen, danach fand sie sie nicht wieder. Stattdessen lag auf dem Teetisch eine Bonbondose, die der Zigarettendose verblüffend ähnlich sah, mit einem Segelschiff und arabischen Schriftzeichen, die Schatt al-Arab bedeuten mochten. Allerdings war sie neu und billig gemacht – vermutlich ein Souvenir. Es war eines dieser Verlegenheitsgeschenke, die sie mit einem gütigen „Aber das macht doch nichts. Nein, wirklich, ich freu mich trotzdem“ in Empfang genommen hatte. Sie nahm ein Bonbon und erwartete den klebrig-süßen Geschmack, aber es schmeckte nach gar nichts.
 

steyrer

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Dora war eine vornehme alte Dame, der kein ordinäres Wort über die Lippen kam und auch diesmal flüsterte sie nicht einmal, sondern dachte nur: „Himmel, Teufel noch mal!“ Vor ihr lag das Geburtstagsgeschenk ihres Großneffen Roderich: Eine alte Zigarettendose mit einem kleinen Segelschiff und der verschlungenen Aufschrift „Schatt al-Arab. Leichte Mischung. 20 Cigaretten.“ Sie war überzeugt gewesen, dass diese Zigaretten erfunden wären, und zwar von ihr. Nun wusste sie nicht ob sie sich auf den Arm genommen, oder beschämt fühlen sollte. Bis zum Besuch Roderichs war alles wie üblich verlaufen: Sie hatte eine Schallplatte aufgelegt, in einem Sessel Platz genommen und Besucher empfangen, die zu ihrem 75. Geburtstag Bonbonnieren, Schnäpse; Blumensträuße und Engelsfiguren überreichten, aber niemand von ihnen „ganz gewisse Kleinigkeiten.“ Dennoch wiederholte sie immer und immer wieder: „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem.“ Dies stimmte und für Roderich hatte sie deshalb Schatt-al-Arab-Zigaretten erfunden. Roderich hatte aber kein leeres altes Sammlerstück gebracht, sondern eine originalversiegelte Dose aus den 50ern. „Das ist absolut unmöglich“, überlegte sie, „was will dieser junge Mensch von mir?“ Einmal hatte sie ihn vertraulich beiseite genommen und eröffnet, dass er als einziger anständiger, guter, einfühlsamer Mensch ihr gesamtes Vermögen erben solle. Er hatte als einziger Verwandter abgelehnt. Seit damals hielt sie ihn abwechselnd für besonders anständig, für besonders schlau oder besonders dumm und manchmal schien ihr, als sei das alles dasselbe. Sein Gesicht vermochte sie sich nicht einzuprägen.

Die Dose sah mit ihren Rostflecken und Sprüngen tatsächlich sehr alt aus und – sie setzte ihre Lesebrille auf – wirkte dieses Schiff nicht eher wie ein Wrack, oder täuschten die vielen Sprünge und Flecken? Sie legte die Dose weg und sah geistesabwesend in ihren Schminkspiegel ohne die Brille abzunehmen. Sie schrak zurück, denn aus dem Spiegel sah ihr ein grell geschminktes Mumiengesicht entgegen: „Habe ich so die Gäste empfangen?“ Jetzt fiel ihr wieder ein: Es hatten alle auffallend oft betont, wie jung und blühend sie aussähe. Ja, alle außer Roderich. Dora war vor Schreck gegen den Teetisch getreten und die Dose fiel auf den Boden und sprang auf. Sie bückte sich mühsam, aber kein Geruch von vertrocknetem Tabak strömte heraus, sondern der von Veilchen. Sie roch irritiert noch einmal, aber der Duft nach Veilchen blieb, schlug dann in den von Rosen um und wurde schließlich zu einem ausgeprägten Orangenduft. Dabei waren die Zigaretten eindeutig mit uraltem, bröseligen Tabak gestopft. „Der Geruch der Heiligkeit“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie überlegte kurz, ob Roderich eine abgründige Neigung hätte, verwarf diesen Gedanken aber rasch: „Vielleicht wollte er mir einfach nur eine kleine Freude machen?“ Der Orangenduft verwandelte sich in einen sehr kräftigen, bodenständigen Geruch: Kamelmist. Sie legte die Dose verärgert weg und stand auf, um ein Fenster zu öffnen, danach fand sie sie nicht wieder. Stattdessen lag auf dem Teetisch eine Bonbondose, die der Zigarettendose verblüffend ähnlich sah, mit einem Segelschiff und arabischen Schriftzeichen, die Schatt al-Arab bedeuten mochten. Allerdings war sie neu und billig gemacht – vermutlich ein Souvenir. Es war eines dieser Verlegenheitsgeschenke, die sie mit einem gütigen „Aber das macht doch nichts. Nein, wirklich, ich freu mich trotzdem“ in Empfang genommen hatte. Sie nahm ein Bonbon und erwartete den klebrig-süßen Geschmack, aber es schmeckte nach gar nichts.
 
Hallo steyrer,

Den Anfang deiner Geschichte fand ich sehr spannend und hat mich neugierig gemacht. Den Mittelteil fand ich dann leider nicht sehr ausgereift und an den Details müsste nach meiner Meinung noch gefeilt werden.

aber niemand von ihnen „ganz gewisse Kleinigkeiten“
Das tönt seltsam in meinen Ohren. Vielleicht besser: […]Engelsfiguren überreichten, liebgemeinte Präsente, denen Dora aber nichts abgewinnen konnte. Oder: die Dora nichts bedeuteten.

Dennoch wiederholte sie immer und immer wieder: „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem.“
Das finde ich eine seltsame Reaktion auf die Geschenke. Würde für mich nur Sinn machen, wenn sich die Besucher für die banalen Geschenke entschuldigen, aber das geht aus dem Text nicht hervor. Ich würde diesen Satz von Dora weglassen. Er hat für den weiteren Verlauf der Geschichte keine Relevanz auch wenn er später nochmals erscheint. Es sei denn du möchtest andeuten, dass die gute Dora ein bisschen senil ist.

Dies stimmte und für Roderich hatte sie deshalb Schatt-al-Arab-Zigaretten erfunden.
Du hast am Anfang erwähnt, dass diese Zigaretten offenbar von Dora erfunden wurden. Aber wieso hat sie die für Roderich erfunden? Ich verstehe den Zusammenhang zwischen den anderen Geschenken und der Erfindung der Zigaretten nicht, den du sprachlich herstellst. Oder war es ein Märchen, das sie ihm erzählt hatte als er noch klein war?

„was will dieser junge Mensch von mir?“
Auch dieser Satz tönt inhaltlich seltsam und ist für mich eine unübliche Reaktion auf dieses besondere Geschenk.

als einziger anständiger, guter, einfühlsamer Mensch
etwas viele Adjektive – weniger wäre mehr.

Sein Gesicht vermochte sie sich nicht einzuprägen.
Ich habe so die Vermutung, du möchtest mit diesem Satz andeuten, dass Roderich nur in der Fantasie von Dora existiert. Beim Durchlesen der Geschichte hat sich bei mir jedoch nur ein Fragezeichen gebildet. Die Tatsache, dass Dora den Charakter Roderichs offenbar genau beschreiben kann passt für mich nicht dazu. Auch gibt es am Ende keine Auflösung ob Roderich existiert, aber ein 0815-Geschenk überreicht hat, oder ob er überhaupt nicht existiert.

Der zweite Teil deiner Geschichte, auf den ich aus zeitlichen Gründen jetzt nicht mehr näher eingehe, macht auf mich einen sehr hektischen und sprunghaften Eindruck. Du springst vom Aussehen der Dose, zum Make-up von Dora, zum Duft des Inhaltes, zur Veränderung der Dose und des Inhalts und dann ist Schluss. Das passt für mich rhythmisch nicht zum ersten Teil der Geschichte.

Ich hoffe mein Feedback hilft dir weiter.
Mit müdem Gruße
 

steyrer

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Hallo, müder Dichter!

Ich bereite gerade eine kleinere Überarbeitung vor, in der ich auf deine Kritikpunkte eingehe. Dies wird allerdings ein paar Tage dauern.

Bis dahin schöne Grüße
steyrer
 

Blumenberg

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Hallo steyrer,

ich habe die neue Version deines Textes gelesen und muss gestehen an manchen Stellen bin ich ein wenig ratlos.

Sie hatte eine Schallplatte aufgelegt, in einem Sessel Platz genommen und Besucher empfangen, die zu ihrem 75. Geburtstag Bonbonnieren, Schnäpse; Blumensträuße und Engelsfiguren überreichten, aber niemand von ihnen „ganz gewisse Kleinigkeiten.“ Dennoch wiederholte sie immer und immer wieder: „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem.“
Die ganz gewissen Kleinigkeiten die du hier anführst, lassen ahnen, dass es wohl so etwas wie eine Wunschliste gegeben haben muss, sonst macht der Übergang zu das macht doch nichts in meinen Augen keinen Sinn. Das klingt wie ein Verzeihen, dass die Gäste nicht die richtigen geschenke mitgebracht haben.

Ebenso im nächsten Satz:
Dies stimmte und für Roderich hatte sie deshalb Schatt-al-Arab-Zigaretten erfunden.
Es stimmt, dass sie sich trotzdem freut, so weit so gut, aber warum sollte sie dann für ihren Großneffen ein Wunschgeschenk erfinden? Hier erschließt sich mir innere die Logik deines Textes nicht so recht. Vielleicht kannst du mir dabei mit einer Erläuterung helfen. Oder setzt du das bewusst als Stilmittel ein um den Leser darauf zu bringen, dass die alte Dame bereits recht dement ist?

„Der Geruch der Heiligkeit“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie überlegte kurz, ob Roderich eine abgründige Neigung hätte, verwarf diesen Gedanken aber rasch: „Vielleicht wollte er mir einfach nur eine kleine Freude machen?“
Auch diese Textstelle ist mir nicht klar. Warum sollte der Großneffe eine abgründige Neigung haben und was soll das in diesem Kontext überhaupt sein?

Auch bei dieser Stelle wäre ich für eine kurze Erläuterung deinerseits dankbar.

Beste Grüße

Blumenberg
 

steyrer

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Hallo Blumenberg!

Moment, Moment. Ich arbeite noch an der Neufassung und habe deshalb hier noch gar nichts geändert. Du beziehst dich auf genau dieselbe Version wie müder Dichter. Die aktuelle Version und die alte Fassung vom 22. 06. 2016 unterscheiden sich nur minimal. Es war eine kleine stilistische Änderung nach dem Hochladen.

Eine Zusammenfassung der Grundidee:

Dora ist eine verbitterte, zynische alte Dame, die absichtlich unerfüllbare Wünsche äußert, damit sich ihre Besucher vor ihr demütigen. Daraus ist ein Ritual geworden und diese Devotion gibt ihr Gelegenheit zur Absolution. Die Selbsterniedrigung der Gäste bedeutet also ihre eigene Erhöhung. Nur Roderich macht da nicht mit: Er bringt das unmögliche Geschenk und wird damit zu einer phantastischen Figur, die nicht mehr in die Zeit und Ordnung passt, in der Dora und ihre Gäste leben. Er passt nicht in die alte Zeit und Ordnung, weil er Teil der neuen Zeit ist und damit auch Doras Ende ankündigt.

Das versuche ich jetzt genauer herauszuarbeiten. In ein paar Tagen lade ich diese neue Version hoch. Mal sehen, ob die dann ankommt.

Bis dahin schöne Grüße
steyrer
 

Blumenberg

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Hallo steyrer,

ich bin gespannt auf die überarbeitete Fassung, die Grundidee finde ich nämlich gelungen.

Beste Grüße

Blumenberg
 

steyrer

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„So ein schlechtes Gewissen ziert die ganze Verwandtschaft“, überlegte sich Dora und so waren alle ihre Wünsche zum 75. Geburtstag unerfüllbar. Als es so weit war, legte sie eine Schallplatte auf, nahm in einem Sessel Platz und empfing die vielen unter Bedauern überreichten Ersatzgeschenke, wie Bonbonnieren, Schnäpse; Blumensträuße und Engelsfiguren. „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem“, wiederholte sie mit sanfter Stimme immer und immer wieder und fühlte sich sehr gut. Nun lag jedoch das Geschenk ihres Großneffen Roderich vor ihr: Eine alte Zigarettendose aus den 50ern mit der verschlungenen Aufschrift „Schatt al-Arab. Leichte Mischung. 20 Cigaretten“. Dora war nichts übrig geblieben, als sich zu bedanken, denn schließlich hatte sie sich genau solche Zigaretten gewünscht. Sie wusste nicht, ob sie sich auf den Arm genommen, oder vielleicht doch beschämt fühlen sollte, denn Roderich war von ganz ausgesuchter Freundlichkeit, ganz im Gegensatz zu den anderen Verwandten. Jedem Einzelnen von ihnen hatte sie schon einmal ihr ganzes Erbe versprochen, auch Roderich, aber dieser war der einzige, der abgelehnt hatte. „Warum kommt dann ausgerechnet dieser junge Mensch zu mir alten, unausstehlichen Person?“, denn dass sie unausstehlich war, wusste sie, aber auch es nicht immer gewesen zu sein. Darüber, wie solches Unausstehlichwerden vor sich ginge, hatte sie früher oft gegrübelt, jetzt wischte sie solche Gedanken beiseite. Etwas anderes erschien ihr wichtiger: Ihr war, als hätten sich mit Roderich wichtige Dinge verschoben, wären halbfremd geworden, wie eine vertraute Melodie, der eine Note hinzugefügt wurde. Sie hatte diesen Gedanken vor langer Zeit einmal in einem Buch gelesen und versuchte sich zu erinnern: Der Autor war irgendein Philosoph oder Theoretiker, den sie damals für ziemlich exzentrisch gehalten hatte. Jetzt allerdings erschien ihr dies alles sonnenklar und vernünftig.

Die unmögliche Zigarettendose sah tatsächlich alt aus und – sie setzte ihre Lesebrille auf – wirkte dieses Schiff nicht eher wie ein Wrack, oder täuschten die vielen Sprünge und Flecken? Nun schien ihr selbst der Wunsch nach Zigaretten, wenn auch erfundenen, höchst sonderbar. Hatte sie nicht schon vor über vierzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört, weil ihr selbst von den leichteren Sorten übel wurde? Sie legte die Dose weg und sah geistesabwesend in ihren Schminkspiegel ohne die Brille abzunehmen. Sie schrak zurück, denn in diesem Augenblick sah sie zum ersten Mal diesen seltsamen winzigen Punkt in ihren Augen, einen Punkt, hinter dem Dunkelheit und Kälte lauerten. Jetzt fiel ihr ein, dass Roderich nicht immer freundlich gewesen war. Einmal hatte er sie sogar auffallend lange mit eindringlichem Blick fixiert, als wäre sie ein anatomisches Präparat. Ihr war damals unheimlich geworden, aber seit damals war sein Verhalten verändert. „Er weiß, dass ich sterbe“, dachte sie bestürzt. Sie betrachtete die Zigarettendose und hoffte, dass sie sich in etwas anderes verwandeln würde – in eines der Ersatzgeschenke – und sie erwachen könne, wie aus einem Traum. Die Dose aber blieb, was sie war und als sie den Deckel öffnete, lagen tatsächlich Zigaretten darin. Der Geruch des alten Orienttabaks erschien ihr wunderbarer als die fernste Erinnerung und sie fühlte sich plötzlich wieder sehr jung. Sie nahm eine davon heraus, schob sie spielerisch zwischen die Lippen und überlegte, was ihr Arzt sagen würde, wenn sie erzählte, dass sie alte filterlose Orientzigaretten rauche wolle. Vielleicht, dass sie nichts als albern-leichtsinnig mit ihrem Leben spiele? Sie entzündete ein Streichholz und dachte: „Ja, vielleicht“.
 

steyrer

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„Ein schlechtes Gewissen steht der Verwandtschaft“, überlegte sich Dora und so waren alle ihre Wünsche zum 75. Geburtstag unerfüllbar. Als es so weit war, legte sie eine Schallplatte auf, nahm in einem Sessel Platz und empfing die vielen unter Bedauern überreichten Ersatzgeschenke, wie Bonbonnieren, Schnäpse; Blumensträuße und Engelsfiguren. „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem“, wiederholte sie mit sanfter Stimme immer und immer wieder und fühlte sich sehr gut. Nun lag jedoch das Geschenk ihres Großneffen Roderich vor ihr: Eine alte Zigarettendose aus den 50ern mit der verschlungenen Aufschrift „Schatt al-Arab. Leichte Mischung. 20 Cigaretten“. Dora war nichts übrig geblieben, als sich zu bedanken, denn schließlich hatte sie sich genau solche Zigaretten gewünscht. Sie wusste nicht, ob sie sich auf den Arm genommen, oder vielleicht doch beschämt fühlen sollte, denn Roderich war von ganz ausgesuchter Freundlichkeit, ganz im Gegensatz zu den anderen Verwandten. Jedem Einzelnen von ihnen hatte sie schon einmal ihr ganzes Erbe versprochen, auch Roderich, aber dieser war der einzige, der abgelehnt hatte. „Warum kommt dann ausgerechnet dieser junge Mensch zu mir alten, unausstehlichen Person?“, denn dass sie unausstehlich war, wusste sie, aber auch es nicht immer gewesen zu sein. Darüber, wie solches Unausstehlichwerden vor sich ginge, hatte sie früher oft gegrübelt, jetzt wischte sie solche Gedanken beiseite. Etwas anderes erschien ihr wichtiger: Ihr war, als hätten sich mit Roderich wichtige Dinge verschoben, wären halbfremd geworden, wie eine vertraute Melodie, der eine Note hinzugefügt wurde. Sie hatte diesen Gedanken vor langer Zeit einmal in einem Buch gelesen und versuchte sich zu erinnern: Der Autor war irgendein Philosoph oder Theoretiker, den sie damals für ziemlich exzentrisch gehalten hatte. Jetzt allerdings erschien ihr dies alles sonnenklar und vernünftig.

Die unmögliche Zigarettendose sah tatsächlich alt aus und – sie setzte ihre Lesebrille auf – wirkte dieses Schiff nicht eher wie ein Wrack, oder täuschten die vielen Sprünge und Flecken? Nun schien ihr selbst der Wunsch nach Zigaretten, wenn auch erfundenen, höchst sonderbar. Hatte sie nicht schon vor über vierzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört, weil ihr selbst von den leichteren Sorten übel wurde? Sie legte die Dose weg und sah geistesabwesend in ihren Schminkspiegel ohne die Brille abzunehmen. Sie schrak zurück, denn in diesem Augenblick sah sie zum ersten Mal diesen seltsamen winzigen Punkt in ihren Augen, einen Punkt, hinter dem Dunkelheit und Kälte lauerten. Jetzt fiel ihr ein, dass Roderich nicht immer freundlich gewesen war. Einmal hatte er sie sogar auffallend lange mit eindringlichem Blick fixiert, als wäre sie ein anatomisches Präparat. Ihr war damals unheimlich geworden, aber seit damals war sein Verhalten verändert. „Er weiß, dass ich sterbe“, dachte sie bestürzt. Sie betrachtete die Zigarettendose und hoffte, dass sie sich in etwas anderes verwandeln würde – in eines der Ersatzgeschenke – und sie erwachen könne, wie aus einem Traum. Die Dose aber blieb, was sie war und als sie den Deckel öffnete, lagen tatsächlich Zigaretten darin. Der Geruch des alten Orienttabaks erschien ihr wunderbarer als die fernste Erinnerung und sie fühlte sich plötzlich wieder sehr jung. Sie nahm eine davon heraus, schob sie spielerisch zwischen die Lippen und überlegte, was ihr Arzt sagen würde, wenn sie erzählte, dass sie alte filterlose Orientzigaretten rauche wolle. Vielleicht, dass sie nichts als albern-leichtsinnig mit ihrem Leben spiele? Sie entzündete ein Streichholz und dachte: „Ja, vielleicht“.
 

steyrer

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Hallo müder Dichter, hallo Blumenberg!

So, das wärs. Die Überarbeitung ist etwas umfangreicher ausgefallen, als ursprünglich geplant.

Grüße
steyrer
 

steyrer

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„Ein schlechtes Gewissen steht der Verwandtschaft“, überlegte sich Dora und so waren alle ihre Wünsche zum 75. Geburtstag unerfüllbar. Als es so weit war, legte sie eine Schallplatte auf, nahm in einem Sessel Platz und empfing die vielen unter Bedauern überreichten Ersatzgeschenke, wie Bonbonnieren, Schnäpse; Blumensträuße und Engelsfiguren. „Aber das macht doch nichts. Nein wirklich, ich freu mich trotzdem“, wiederholte sie mit sanfter Stimme immer und immer wieder und fühlte sich sehr gut. Nun lag jedoch das Geschenk ihres Großneffen Roderich vor ihr: Eine alte Zigarettendose aus den 50ern mit einem Segelschiff und der verschlungenen Aufschrift „Schatt al-Arab. Leichte Mischung. 20 Cigaretten“. Dora war nichts übrig geblieben, als sich zu bedanken, denn schließlich hatte sie sich genau solche Zigaretten gewünscht. Sie wusste nicht, ob sie sich auf den Arm genommen, oder vielleicht doch beschämt fühlen sollte, denn Roderich war von ganz ausgesuchter Freundlichkeit, ganz im Gegensatz zu den anderen Verwandten. Jedem Einzelnen von ihnen hatte sie schon einmal ihr ganzes Erbe versprochen, auch Roderich, aber dieser war der einzige, der abgelehnt hatte. „Warum kommt dann ausgerechnet dieser junge Mensch zu mir alten, unausstehlichen Person?“, denn dass sie unausstehlich war, wusste sie, aber auch es nicht immer gewesen zu sein. Darüber, wie solches Unausstehlichwerden vor sich ginge, hatte sie früher oft gegrübelt, jetzt wischte sie solche Gedanken beiseite. Etwas anderes erschien ihr wichtiger: Ihr war, als hätten sich mit Roderich wichtige Dinge verschoben, wären halbfremd geworden, wie eine vertraute Melodie, der eine Note hinzugefügt wurde. Sie hatte diesen Gedanken vor langer Zeit einmal in einem Buch gelesen und versuchte sich zu erinnern: Der Autor war irgendein Philosoph oder Theoretiker, den sie damals für ziemlich exzentrisch gehalten hatte. Jetzt allerdings erschien ihr dies alles sonnenklar und vernünftig.

Die unmögliche Zigarettendose sah tatsächlich alt aus und – sie setzte ihre Lesebrille auf – wirkte dieses Schiff nicht eher wie ein Wrack, oder täuschten die vielen Sprünge und Flecken? Nun schien ihr selbst der Wunsch nach Zigaretten, wenn auch erfundenen, höchst sonderbar. Hatte sie nicht schon vor über vierzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört, weil ihr selbst von den leichteren Sorten übel wurde? Sie legte die Dose weg und sah geistesabwesend in ihren Schminkspiegel ohne die Brille abzunehmen. Sie schrak zurück, denn in diesem Augenblick sah sie zum ersten Mal diesen seltsamen winzigen Punkt in ihren Augen, einen Punkt, hinter dem Dunkelheit und Kälte lauerten. Jetzt fiel ihr ein, dass Roderich nicht immer freundlich gewesen war. Einmal hatte er sie sogar auffallend lange mit eindringlichem Blick fixiert, als wäre sie ein anatomisches Präparat. Ihr war damals unheimlich geworden, aber seit damals war sein Verhalten verändert. „Er weiß, dass ich sterbe“, dachte sie bestürzt. Sie betrachtete die Zigarettendose und hoffte, dass sie sich in etwas anderes verwandeln würde – in eines der Ersatzgeschenke – und sie erwachen könne, wie aus einem Traum. Die Dose aber blieb, was sie war und als sie den Deckel öffnete, lagen tatsächlich Zigaretten darin. Der Geruch des alten Orienttabaks erschien ihr wunderbarer als die fernste Erinnerung und sie fühlte sich plötzlich wieder sehr jung. Sie nahm eine davon heraus, schob sie spielerisch zwischen die Lippen und überlegte, was ihr Arzt sagen würde, wenn sie erzählte, dass sie alte filterlose Orientzigaretten rauche wolle. Vielleicht, dass sie nichts als albern-leichtsinnig mit ihrem Leben spiele? Sie entzündete ein Streichholz und dachte: „Ja, vielleicht“.
 

Blumenberg

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Hallo steyrer,

die Überarbeitung hat deinem Text in jedem fall gut getan. Der Verlauf der Handlung ist stringenter und auch das Motiv hinter der Geschichte ist für den Leser nun auch sichtbar und er fragt sich nicht mehr, wie ich beim Lesen der ersten Version, ob die alte Dame vielleicht eine ernste Demenz hat.

Beste Grüße

Blumenberg

Übrigens ein netter Zug, für deine Ankündigung meinen gerade neu eingestellten Text nach unten zu verschieben.
 



 
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