Schatten

4,20 Stern(e) 13 Bewertungen

presque_rien

Mitglied
Schatten

Vergeigter Himmel voller Geigen
spielt Hungersnoten, Saitenstiche,
wenn Zeit verzweige Augenbliche
im Rachen schweigt, und Drachen steigen,

vervögelt frühen Flaum, verfiebert
den Mohn im Gras, ein leichtes Röteln,
wenn Frost sich übt im leisen Töteln,
und federt, teert, was einst gefiedert

- kann's nicht verlängern! Nicht verlangen
noch einen Schäfchentraum zu fangen
im Mittagskurz, wenn abendlang
der Wolkenruß an meinen Händen.

Dann klebt am LebEnden ein Enden,
und eine Klinge hat sein Klang.
 
G

gitano

Gast
Uijui!
Ich lese hier sonettich-semantische Kernbohrungen mit Rhetorkreisel dessen phonetischer Schaum über die Reibung der Tiefbohrung etwas hinwegtäuscht...mit scharfer Klinge den Klang des LebEnden mit diesem Text etwas panikartig aus dem "Loch" rettet.

Wenn ich auch reingefallen bin bitte Rettungsbohrung und per Kapsel wieder zur Sonne! Sonnenbrille wegen Blendung bitte auch mitschicken!

Viele Schmankerl!
z.B. Hungersnoten (welche Dürre!)

Ein paar Fragen noch bidde:
Q1:
wenn Zeit verzweige Augenbliche
im Rachen schweigt
, und Drachen steigen,
hm, noch etwas unklar für mich. Funzt hier nicht so gut wie an anderer Stelle. Fehlt hier der Anschluss? Problem ist der? Tempus von: verzweigt

Vorschlag:
mit "verzweigte" klappt die Bindung wieder.

und T2:
"im Mittagskurz, wenn abendlang
der Wolkenruß an meinen Händen."

Hier müßte doch das Pünktchen hinter "Händen" zum "nix" aufgebohrt werden (entfernen), weil sonst das Enjabement zu S 4 nicht funzt-oder?

KLANG>LebENDEN...schöner Rückbezug!

Meiner Meinung nach Dein bisher stärkstes Sonett (von denen die ich kenne)-Irrtum auch bei Sickergrubenfall meinerseits ausgeschlossen! Das ist ne ganz dicke zeitlose Packung! Dafür vergebe ich gern meine erste 10 hier.
bewundernd und gerührt
gitano
 

presque_rien

Mitglied
Schatten

Vergeigter Himmel voller Geigen
spielt Hungersnoten, Saitenstiche,
wenn Zeit verzweigte Augenbliche
im Rachen schweigt, und Drachen steigen,

vervögelt frühen Flaum, verfiebert
den Mohn im Gras, ein leichtes Röteln,
wenn Frost sich übt im leisen Töteln,
und federt, teert, was einst gefiedert

- kann's nicht verlängern! Nicht verlangen
noch einen Schäfchentraum zu fangen
im Mittagskurz, wenn abendlang
der Wolkenruß an meinen Händen.

Dann klebt am LebEnden ein Enden,
und eine Klinge hat sein Klang.
 

presque_rien

Mitglied
Wow, gitano,

ich fühle mich sehr geehrt, deine erste Lupen-10 zu erhalten! Das bedeutet mir viel, denn du bist ja Sonettkenner... und das hier ist noch nicht mal ein vernünftiges Sonett, sondern ein seltsamer Bastard, den Petrarca und Shakespeare im Schatten der Nacht zeugten. (Hmmmm... keine schöne Vorstellung.. ich glaube, Petrarca wäre nicht Shakespeares Typ gewesen...) Dazu noch schielt er auf einem Reim. Aber er hat andererseits auch eine ältere Schwester, die in der Lupe bereits Zuwendung fand (aber das war bevor du kamst). Wie schön :).

Zu "verzweigte" - danke fürs aufmerksame Lesen, war ein Tippfehler - dabei habe ich den Text vor dem Posten bestimmt 10 Mal durchgelesen - verrückt, was das Hirn alles ausblenden kann...

Zum Übergang zwischen V12 & V13: Das Enjambement ist willkommen und beabsichtigt, aber nur implizit. Zuerst wollte ich schreiben:
der Wolkenruß an meinen Händen.
So klebt am LebEnden ein Enden,
und eine Klinge hat sein Klang.
Oder:
klebt Wolkenruß an meinen Händen,
klebt schon am LebEnden ein Enden,
und eine Klinge hat sein Klang.
Aber dann wollte ich den Zweizeiler doch als Pointe vom Rest abtrennen, und mit dem "Dann" am Anfang einen Kontrast zu allen drei "wenn"s in den Strophen davor setzen. Und ich schreibe ja auch oft Gedichte, in denen ich die Großschreibung und Zeichensetzung komplett weglasse, um freies semantisches Fließen zu ermöglichen - aber hier fand ich, dass das Gedicht semantisch und phonetisch ziemlich (zu?) dicht ist, und damit schon recht leserunfreundlich - ich wollte ihm dann doch ein klassischeres Layout gönnen. Für mich funktioniert V12 mit einem impliziten "ist" - was meinst du?

Freut mich übrigens besonders, dass dir die Schmankerl gefallen - eigentlich schreibe ich nur noch, um Sprachspiele mit anderen zu teilen, die mir so im Alltag auf- und einfallen :D...


Danke auch an allen anderen Werter!! So eine positive Reaktion hätte ich echt nicht erwartet! :)

LG,
presque
 
G

gitano

Gast
Liebe Julia!
Alles drehen und sich winden ist zwecklos. ob Bastard oder nicht und vom wem auch immer korpuliert!
Das Lob schließt Deine (nicht unentdeckten-stillschweigend aufgenommenen, nicht alles viel mir auf-) Formgebungen(Idee) ein. Ich habe keine Orthodoxie mit dem Sonett-es muß letztendlich passen.
Weil für mich:
Die Gesamtidee bestimmt die recht bewegliche Form-nicht die Stare am Grab!
Das Sonett war nach meiner Kenntnis einer der beweglichsten und dynamischsten klass. Gedichtformen. Seit ich, auch außerhalb eines philologischen Studiums (grins) etwas davon aufnehmen konnte-und es mir wie mit einem Schlag die Klosterbretttür von der Stirn riß-bange ich nicht mehr um meine Sonettliebe!..und Du liebst es ja sehr offensicht auch:

Von wegen: Wortspielchen etc. pp. (siehe oben: meine Eingangspolemik). Wer derart über die Schatten schreibt die Leben imaginär vorauswirft, es so einfängt-spielt nur Wörterlein? Jo, jo (lächel) aber flieg ruhig unbeschwert weiter!

Nun noch zur Textstelle:
Z12 als implizites IST wirkt ein wenig zu schwach auf mich.
Ich würde dafür plädieren, gerade an dieser Stelle das Enjabement zuzulassen. Die Wortspielfülle und die semantische Tiefe, nebst "Figuren" ist kein Grund für diese Pause...lass es fliesen!
Gute Sonette mit Tiefgang liest man nicht nur einmal, Die Irritation hier würde mich eher im Gedankenfluss unangenehm hemmen/irritieren. Auch wenn die "Kompliziertheit" sich mit Wortspielen/ Figuren( semantischen Umdeutungen etc. speist, wird wohl ein zweites Lesen mehr erschliessen. Es ist nur meine Meinung (aus vielen gelesenen Sonetten)-daß es kein fixes Kriterium von Qualität ist, das Sonett im ersten Lesen voll zu erschließen. Das Dessert ist oft süßer :D (Bitte Punkt hinter "Händen" wegnehmen). Die Pointe ergibt sich nach meinem Lesen schöner durch den Fluss.

...und nu noch:
Ich bin kein Sonettkenner-seh mich eher als Liebhaber der nicht am Grabe dieser schönen Form trauern möchte. ENDE MEINES KOMMS DAZU.

Dein Belebungsversuchbeitrag ist also (für mich)geglückt!
...all dies und noch viel mehr lese ich, spühre ich-und die 10 bleibt (für Dich von mir) eine "Lupenreine"! und wenn möchtest putze ich sie noch! (Klarofix?)
Dankeschön und bis bald!
gitano
 

presque_rien

Mitglied
Schatten

Vergeigter Himmel voller Geigen
spielt Hungersnoten, Saitenstiche,
wenn Zeit verzweigte Augenbliche
im Rachen schweigt, und Drachen steigen,

vervögelt frühen Flaum, verfiebert
den Mohn im Gras, ein leichtes Röteln,
wenn Frost sich übt im leisen Töteln,
und federt, teert, was einst gefiedert

- kann's nicht verlängern! Nicht verlangen
noch einen Schäfchentraum zu fangen
im Mittagskurz, wenn abendlang
der Wolkenruß an meinen Händen

dann klebt am LebEnden ein Enden,
und eine Klinge hat sein Klang.
 
G

gitano

Gast
Huhu Marie Luise!
Fragen formulieren und Dir öffnet sich eine So-nette-welt!
Grüße vom gitano
 
Hallo presque_rien

Ein Lehrer würde vieles röteln,
(vielleicht erliegt er deinem Charme)
Was soll das Wort denn, dieses Töteln.
Du nimmst wohl alle auf den Arm
Viele Grüße
Marie-Luise
 
P

Pelikan

Gast
Mir geht es hier wie Marie Luise - ich muss passen.
Was mir auffällt, sind die fantasievollen Wortschöpfungen,
der schöne Klang des Gedichtes. Doch in puncto Inhalt hört es bei mir auf. Ich denke, dies hier ist solch ein Gedicht, bei welchem man das geflügelte "für Kenner" gebrauchen könnte.
Wobei ich "Kenner" nicht unbedingt als ein vorbehaltloses Kompliment meine, sondern dieses Wort eher für Leute gebrauchen würde, welche sich mit einem Gebiet dermaßen beschäftigt haben, dass sie dieses Gebiet immer und immer mehr kultivieren, dass am Ende nur noch eine Handvoll derer übrigbleibt, welchen sich dieses noch öffnet."Öffnet", weil
das Ganze dermaßen verschlüsselt wurde (natürlich bewußt)
dass ein normaler Sterblicher wie ein Depp :D davor steht.
Mich erinnert das an die sogenannte "zeitgenösische Klassik"
bei der eine Handvoll "Kenner", sich bedeutungsvoll
anguckend, eine Freude daran hat, dass es Deppen gibt, welche davor mit einer gewissen Hilflosigkeit stehen bleiben.
Natürlich kann ich verstehen, dass man etwas dermaßen Spezielles, Fachbezogenes, schaffen kann. Jedes Gebiet läßt sich, wenn man sich ausschließlich damit beschäftigt, immer mehr und immer mehr kultivieren, verfeiner bis hin zur Unkenntlichkeit, ja bis hin zur Fachidiotie :D - pardon, dies ist gegen keinen hier gemeint, sondern allgemein betrachtend.
Bei der ganzen Sache gibt es dann zwei Gruppen - die eine
welche sich zu den "Kennern", sprich den Erschaffern eines solchen zählt. Meistens eine Handvoll Menschlein, die zweite Gruppe hingegen ist für mich die, welche so tut als verstünde sie, weil sie sich nicht die Blöße der "Nicht-Kennerschaft"
geben will, sprich wer will gerade heutzutage schon zugeben, dass er etwas nicht kapiert, wo es doch so viele Kapierer
gibt (meint man). Ich reite jetzt wieder auf der "zeitgenössischen Klassik" herum. Ich war nämlich schon oft bei den "Wittener Tagen zeitgenössischer Musik" dabei
und habe mich köstlich amüsiert. Nicht weil ich solchem ablehnend gegenüber stehe, nein, ich amüsierte mich über diese zweite Gruppe, der "möchtegern-Kenner", die obwohl man ihnen die Verwirrung ansah (das kann jeder der die Mikromimik des Menschen zu deuten versteht) so bedeutungsvoll taten, dass sich mir die Fußnägel kräuselten - lachen durfte ich ja nicht dabei :D Wie gesagt, ich kann es mir gut vorstellen, dass man eine Sache bei steter Beschäftigung damit dermaßen verklausulieren kann und sie dann nur einer Handvoll Leute noch zugänglich ist, doch ich zweifele daran, dass einige die sich an solches hängen, auch damit ernsthaft etwas anfangen können. Mit herzlichen Grüßen, Pelikan, ehrlich zugebend, dass sie sich bezüglich dessen zu den Deppen zählt und sich noch nichtmal dafür schämt ;)
 
G

gitano

Gast
Huhu Marie Luise W. und Pelikan!
Fragen und es öffnet sich eine so-nette-Welt!

Ich zitiere mal die Bewertungen:
HerbertH 8
Walther 8
Heidrun 10(die Du so schätzt Pelikanin und ich auch)
MD Spinoza 10
Spaetschreiber 10
anonym 7
gitano (anonym) 10 (aber angekündigt)

alles sehr geschätzte Autoren und Kritiker (bis auf mich, ich bin zu kurz dabei)

Zwei Zitate noch:
aus dem Forum Lupanum, Thema: Flaute im Experimentellen
(wo Du auch gepostet hast)
13.10.2010 von presque_rien:
Also ich finde es einfach unsinnig, ein Forum "Experimentelles" zu haben, weil gute Dichtung immer experimentell ist.
und am 16.10.2010:
P.S.: Ich glaube übrigens nicht, dass Rimbaud (den ich über alle Maßen bewundere) seine Dichtung ins "Experimentelle" gestellt hätte. Ein Experiment iat ein Versuch. Aber Rimbaud erhebte an seine Dichtung den Anspruch, die neue und die einzige richtige Art des Dichtens zu sein.

und unser aller Goethe:
Der Genuss wächst mit dem entsprechenden Hintergrundwissen!

Es geht nicht um Deppen und Eliten
Wer das Sonett liebt weiß warum, mit dem was man liebt befaßt man sich gern!
Die Entfernung vom ersten Kuss bis hin zur goldenen Hochzeit ist auch groß-

Alles, was zum Sonett an Lesenswertem/ gibt, ist LEICHT ERREICHBAR öffentlich zugänglich: ob man es liest entscheidet jeder selbst...

Ich habe keine AHnung von asklepischen Oden...
ich wüßte aber wo ich nachschauen kann, (wenns mich interessiert)und daß es länger dauert zu verstehen.
Odenschreiber würden mir dies aber niemals vorwerfen...

Die Entfernung des Textes "Schatten" zu jemanden der sich nicht dafür interessiert-der Sonette nicht so liebt wie Julia- ja die ist groß! Vor allem aber in der Sonettliebe-Was ist daran schlimm?
Es gibt hier viele Pläsierchen - und immer auch Leute die diese teilen, denen es gefällt!

Wenn ihr über meine Komms rätselt..ICH BIN DA, man kann mich fragen: a la : wie meinst Du das?
Ich frage ständig hier: HerbertH , Julia, Walther, Pelikan, Marlene M., Karl Feldkamp, Thylda, Walther, Spaetschreiber, revilo, Heidrun D., Heidrun D. ;) und auch über Fragen wurde ich zum Sonettliebhaber.
vielleicht ist das die Entfernung...
Ist niemalsnich böse gemeint-sondern nur dem Phänomen auf der Spur!
 
P

Pelikan

Gast
@ Gitano
Es geht doch gar nicht um das Sonett als solches, sondern
ich stehe vor dem Inhalt wie ein Depp. Sonett ist doch nur eine "gekettete":D Form eines Gedichtes und nachlesen kann man darüber allemal. Ich stehe vor solchem Wort wie z.B. "Töteln" und frage mich was das soll - anders wäre es, wenn dies in Humor/oder Nonsens auftauchte. Dies hier, das nehme ich an, soll jedoch ein ernsthaftes Gedicht sein, bei dem ich mich frage ob es denn unbedingt sein muss, dass man, wie soll ich es sagen? so maniriert, oder krampfhaft nach Originellem sucht. Hier kommt es mir halt vor, als ob man auf Biegen und Brechen sogenannte Neologismen schaffen will.
Heidrun hat mich inzwischen über den Inhalt "aufgeklärt"
und nun frage ich mich umso mehr, ob es nicht ein Krampfen ist
aus Übersättigung am Wort. Vielleicht wäre ich im Experimentellen gar nicht auf solche Fragen gekommen.
Doch im Gereimten weiß man schon eh nicht mehr (aufgrund
des Eintopf-Durcheinander-Werfens) wie etwas gemeint ist.
Für mich ist es so, wenn ich erstmal ellenlange/schlaue Fach-Kommentare lesen muss zum Gedicht, dann passe ich, weil jedes so genannte Kunstwerk, egal ob ein schriftliches, bildliches oder musikalisches muss noch etwas haben, was über die Fachliche-Erläuterung hinausgehen sollte. Es muss für sich wirken. Und es muss auch auf einen Laien eine Wirkung haben.
Wenn erstmal zehn Fachleute erscheinen müssen und eine jede
Fachkraft ihr ganzes Potential in ein Werk hineinlegen muss,
damit ich mir eine klitzekleine Essenz aus den Kommentaren ziehen kann, dann hat ein Werk etwas verfehlt - ein jedes Werk, nicht nur ein schriftliches. Ich weiß nicht, ob Du das Schauspiel "Kunst" kennst, ich glaube es ist von einer
Jasmin Reza (bei Namen bin ich mir nie sicher) - in dem
Stück ist die ganze Problematik der modernen Kunst, der Kunstkenner,der Jünger um einen Meister herum etc. so herrlich dargestellt, dass wenn man es je gesehen hat, man auf einiges nicht mehr "hereinfallen" möchte.
Ich will hier niemanden angreifen, oder ihm ans Bein pinkeln,
ich habe nur meine Einwände dargestellt.
Pelikan, herzlich grüßend ;)
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Pelikan,

vielen Dank für deine ausführlichen Kommentare! Ich fürchte, du hast das ganz falsch verstanden, als ich zu gitano sagte, er sei ein Sonett-Experte :(. Ich meinte das lediglich auf die Form des Sonetts bezogen - Hebungen, Reime, Versanzahl pro Strophe usw. - weil ich weiss, dass gitano gerne Sonette mag, und mich freute, dass er mein Gedicht gut fand und als Sonett ansah, obwohl es im Grunde kein klassisches Sonett ist (weshalb es auch hier steht und nicht bei den Festen Formen).

Was den Inhalt angeht, finde ich, dass es keinen besonderen Expertentum braucht, um dieses Sonett zu verstehen. Denn ich mache ja fast ausschliesslich Bezüge innerhalb der Sprache, und nicht nach Aussen. Insofern spielt Hintergrundwissen überhaupt keine Rolle bei der Frage, ob das Gedicht gefällt - es kommt lediglich darauf an, ob man diesen extremverdichteten und assoziativen Stil mag oder nicht.

Beispiel "Töteln". Es gibt im Deutschen eine Reihe von Verben, bei denen eine Ableitung mit "-ln" ein weiteres Verb bildet, e.g.: "tanzen - tänzeln", "spotten - spötteln", "zünden - zündeln" (und auch "streichen - streicheln", obwohl sich hier die Bedeutung des "-ln"-Verbs verselbstständigt hat). Allen diesen "-ln"-Ableitungen ist gemeinsam, dass sie eine kleinere, unbedeutendere, schwächere, weniger vollendete, eher flackerhafte Handlung ausdrücken. Nach demselben Muster funktioniert "töteln" im Gegensatz zu "töten": Der Frost "tötet" ja meist nicht wirklich, nicht sofort - er umwebt leise, friert Stück für Stück ein, verlangsamt... Hätte ich "töten" geschrieben, waere die Formulierung viel zu dramatisch - ich wollte aber Melancholie erzeugen, keine Dramatik, keinen Pathos. Ich sehe ein, dass meine Absicht nicht unbedingt klar erkennbar ist, finde aber auch, dass hier kein Expertentum notwendig ist - ausser ein Expertentum für deutsche Sprache vielleicht, aber darüber verfügt ja jeder Muttersprachler :D.

Und du hast Recht: Natürlich gibt es hier ein Bemühen um Neologismen, das kann ich kaum abstreiten ;). Aber die Neologismen sind auch genau das, was das Gedicht ausmacht, was der Grund für das Schreiben ist. Sie sind kein (krampfhaftes) Mittel, einen Inhalt zu transportieren, sondern sie sind das Gedicht. Der Grund, warum du denkst, du stündest "vor dem Inhalt wie ein Depp" ist nicht, dass dir irgendein Wissen fehle, dass es hier einen versteckten Inhalt gäbe, der nur "Experten" zugänglich wäre - sondern einfach, dass es bei diesem Gedicht keinen festen Gesamtinhalt gibt ;). Ich stelle nur eine Stimmung und eine Reihe von (meiner Meinung nach) passenden semantischen und phonetischen Bildern zur Verfügung, und du musst dann als Leser schon selbst deinen Inhalt basteln. Oder auch nicht. Mir ist vollkommen klar, dass sowas nicht jedermanns Sache ist, aber das ist einfach der Stil, in dem ich schreiben möchte. Ich erwarte nicht, dass es jedem gefällt. Ich hätte niemals erwartet, mit diesem Teil hier das Beste Lyrikwerk aus 2 Wochen zu landen!

Interessant übrigens, dass - wie ich schon im Lupanum anmerkte - Sprachspiel mit Humor und/oder Experimenten, nicht mit ernsthafter Dichtung assoziiert wird. Warum? Für mich ergibt das keinen Sinn. Wenn man über semantische und grammatische Grenzen der Standardsprache hinausgeht (nicht zu weit allerdings), erhöht sich doch einfach die Ausdrucksstärke der Sprache (im Idealfall) - das hat nichts mit einer bestimmten Stimmung zu tun, finde ich. Für mich gibt es keine "Übersättigung am Wort" - ich kann mich daran nicht sattessen!

Bitte verzeih den langen Kommentar ;)!

LG,
presque

P.S.: Mich würde übrigens sehr interessieren, wie dich Heidrun genau "über den Inhalt aufgeklärt" hat... :D
 

presque_rien

Mitglied
P.P.S.: Ich selbst würde mich übrigens niemals als Expertin auf irgendeinem Gebiet der Lyrik bezeichnen, denn ich habe noch kein einziges Buch über die Theorie der Dichtung gelesen.
 

presque_rien

Mitglied
Schatten

Vergeigter Himmel voller Geigen
spielt Hungersnoten, Saitenstiche,
wenn Zeit verzweigte Augenbliche
im Rachen schweigt, und Drachen steigen,

vervögelt frühen Flaum, verfiebert
den Mohn im Gras, ein leichtes Röteln,
wenn Frost sich übt im leisen Töteln,
und federt, teert, was einst gefiedert

- kann's nicht verlängern! Nicht verlangen
noch einen Schäfchentraum zu fangen
im Mittagskurz, wenn abendlang
der Wolkenruß an meinen Händen.

Dann klebt am LebEnden ein Enden,
und eine Klinge hat sein Klang.
 

presque_rien

Mitglied
Lieber gitano,

nochmals danke für's nette Kommentieren!!! Deinen Vorschlag mit der Punktweglassung hatte ich für eine Weile übernommen... aber irgendwie habe ich mich nicht wohl damit gefühlt, obwohl ich weiß, wie du's meinst - sorry... hab's wieder zurückgeändert.

Aber was das Thema "Sonett" angeht, da hast du ja die gleiche Einstellung wie ich - wie schön! :) Ja, ich liebe das Sonett sehr, und ich finde auch, dass es eine genial flexible Form ist, die viel mit sich machen lässt, ohne ihre Formschönheit zu verlieren. Aber es gibt eben auch Sonettpuristen hier - deshalb steht dieses Gedicht auch nicht bei Festen Formen ;).

Liebe Marie-Luise,

du kennst mich ja jetzt schon ne Weile, und weißt, dass meine Gedichte nicht für den Deutschunterricht geeignet sind ;). Das "Töteln" habe ich im Kommentar an Pelikan erklärt. Danke für's Kommentieren.

LG,
presque
 
Liebe presque rien,
ambivalent sind meine Gefühle, wenn ich deine Gedichte lese.
Zum einen bewundere ich dein Selbstbewusstsein, das aus allen deinen Gedichten spricht, zum anderen bin ich über die erfundenen Wörter manchmal entsetzt. Doch ich habe ja an den Noten gemerkt, dass du sehr gut bei den Lesern ankommst. Vielleicht bin ich ja auch so ein Depp wie Pelikan ihn beschrieben hat. Dieses Gedicht habe ich so gut wie gar nicht verstanden.

Jetzt mal eine Frage

und eine Klinge hat sein Klang.
müsste es nicht heißen ''und eine Klinge hat ihren Klang''?

Es grüßt dich
Marie-Luise
 
H

Heidrun D.

Gast
@ Marie-Luise

Liebe Mary,
ich kann deine Einwände sehr gut nachvollziehen, wenn ich Julia`s Beitrag auch sehr gut bewertet habe.

Es gibt Bauch-, Herz- und Kopfschreiber. Julia zähle ich mit 95 % zu Letzteren. Fremder Leute Bauch und Herz schmiegen sich allemal leichter in die durstende Seele, doch auch im Kalkül liegt Faszination. - Dies ist eine kühle Schönheit, wie sie etwa der Mathematik anhaftet (falls ich zufällig mal etwas davon verstehen sollte :D).

An den Gedichten der Autorin bewundere ich die unglaubliche Kunstfertigkeit, die durchaus verspielt daherkommen kann. Ein Kling im Klang eben.

Heidrun
 

Herr Müller

Mitglied
Hallo presque_rien.

das ist Kunst. Du hast bewirkt, das alle darüber reden. Jeder meint was anderes raus zu lesen, keiner versteht das Werk in seiner Gänze, weil es hier kein großes Ganzes gibt.
Es ist eine wunderbar verspielte Klangmoledei, ein wahrhaft fließend Werk, welches sich nicht ein Netz von Regeln einpacken lässt. Es plätschert einfach wieder raus.
Auch hier stelle ich mir ein Piano, eine Künstlerin/einen Künstler mit weißem Schal, welcher schwungvoll nach hinten geworfen wird, vor. Die Rezitation hinterlässt bestimmt einige Fragenzeichen in den Gesichtern der applaudierenden Massen.

Die Kommentar gefallen mir auch sehr gut.

Hurz
 



 
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