Schicksal

1,00 Stern(e) 1 Stimme

Maribu

Mitglied
Schicksal (Debüt eines 14-Jährigen)

Aus einem Tanzlokal am Hafen einer kleinen Stadt schallten unterdrückte, fröhliche Stimmen.
Ein Mann kam langsam auf das Lokal zu. Als er nahe genug heran war, konnte man sein Äußeres erkennen. Er hatte einen Anzug und braune Halbschuhe an und einen grauen Filzhut auf dem Kopf.
Sein Gesicht war schmal, blaß und faltig. An seinem langen Bart konnte man erkennen, daß der Mann unter ganz primitiven Verhältnissen lebte oder wenig auf sein Äußeres acht gab.
Er hatte seinen Kopf zur Erde gesenkt, man konnte denken, daß er träumte.
Jetzt ertönten hinter ihm Schritte, er blickte sich erschrocken um, er stellte sich einen Mann mit einem tief ins Gesicht gesetzten Hut vor, der ihm eine Pistole entgegenhielt.
Es war aber nur ein Kater, der geräuschvoll über das Dach eines Schuppens lief und dann kräftig miauend in der Dunkelheit verschwand.
Der Mann ging weiter, jetzt hatte er das Lokal erreicht. Er hob langsam den Kopf und schaute auf eine beleuchtete Schrift, worauf er las: 'Tanzlokal Hermann Brandt. Jeden Mittwoch und Sonntag ab 18 Uhr Tanz'
Dann schaute er mit stieren Blicken in das innere des Lokals.
Er sah fröhliche Menschen, die Kapelle, den dicken Wirt, der hinter seiner Theke stand und Schnaps und Zigaretten verkaufte.
Und Leute, die sich Fettpakete und Schokolade zusteckten und dafür Hunderte von Mark bekamen.
Dann sprach er langsam und verächtlich vor sich hin: "Alles geschobene Ware!"
Dann dachte er an seine alte Mutter, die noch nicht einmal trocknes Brot zu essen und drei Monate Mietschulden hatte.
Dann dachte er an sich, an seine Leiden, denn er war schwer kriegsbeschädigt. Deshalb konnte er auch keine körperliche Arbeit mehr leisten, und zu geistiger Arbeit fehlten ihm die nötigen Kenntnisse.
Dann schaute er zum zweiten Mal durch das Fenster und sah wieder die tanzenden Leute, er wendete sich schnell ab. Er ging dem Hafen zu. Er sah im Geiste die fröhlichen,tanzenden Leute,
die schönen Anzüge und Kostüme, dann schaute er auf sich, auf seinen alten geflickten Anzug.
Jetzt hörte er die letzten Worte seines schon so früh verstorbenen Vaters: "Otto, du mußt mir versprechen, immer schön für Mutti zu sorgen, wenn ich nicht mehr sein sollte!"
Dann starb er.
Jetzt, wo er am Hafen angekommen war und auf das dunkle Wasser sah, dachte er wieder an sich und an seine Anfälle.
Er schaute auf das so ruhig dahinfließende Wasser, ihn schwindelte. Dann krachte es einmal laut im Wasser, als wenn man einen schweren Gegenstand hineinwirft, dann spritzte es einmal bis zum Uferrand, und dann hörte man noch einmal das Wort. "Mutter!", und dann war es still.
 



 
Oben Unten