Schicksal und Unglück

Lyrianna

Mitglied
Die Antwort

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?

Längst war ihr diese Frage zur ungeliebten Vertrauten geworden. Eine stumme Begleiterin, die sie in den dunkelsten Stunden umkreiste wie eine Motte das Licht und sich in den flüchtigen Momenten der Freude lauernd im Hintergrund hielt, um anschließend ihre Hohn lächelnde Fratze umso hässlicher entblößen zu können; zynisch, hinterhältig …und ungerecht.

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?

Diese Frage war alt, so alt wie jene Begebenheiten, die die Menschen gemeinhin als „Schicksal“ oder „Unglück“ bezeichneten, jedoch nicht begreifen konnten.
Gestellt wurde sie oft erst dann, wenn es einen selbst erwischt hatte.
Wenn ein winzig kleiner Augenblick ausgereicht hatte, um alles zu verändern.
Wenn es zu spät war.

Genau da lag das Problem.

Sie lag.
Bewegungslos.
Begleitet vom erbarmungslosen Piepen der Maschine.
Und reiste durch gedankenschwere Innenwelten.

Einzig hier, in Gedanken, hätte sie frei sein können, fernab realer Beschränkungen und Unzulänglichkeiten.
Hier hätte sie reisen können wann und wohin sie wollte, Orte und Personen besuchen, zu denen sie sie sich zurückdachte oder die sie sich kraft ihrer Phantasie selbst erschuf.
Alles hätte sie hier haben, sein und werden können.
In ihrem eigenen, kleinen Paradies.
Und doch wählte sie sich fragend aus der Unendlichkeit von Möglichkeiten ihr eigenes Gefängnis.

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?

Oft schon waren Besucher vorbeigekommen, hatten ihr und dem spärlich eingerichteten Raum, in dem sich ihre körperliche Hülle nun befand, musternde Blicke zugeworfen, die sich vor den strahlend weißen Zimmerwänden wie vorwurfsvolle Anklagen abhoben.

Wie oft schon hast Du Dich über nichtige Kleinigkeiten geärgert, neidvoll Vergleiche angestellt und nutzlos im Selbstmitleid gebadet?

„Perlen bedeuten Tränen“
Einst hatte sie sich im Deutschunterricht mit diesen Worten beschäftigen müssen.
Doch erst jetzt, während sie die verpassten Gelegenheiten ihres vergangenen Lebens aneinanderreihte wie Perlen an einer Schnur, sah sie eine tiefere Bedeutung darin. Eine Wahrheit, deren bitterer Nachgeschmack ihr genauso unbekömmlich schien, wie der unangenehme Geruch, der sie jetzt umgab.

„Das Paradies pflegt sich erst dann als Paradies erkennen zu geben, wenn wir daraus vertrieben wurden.“

Auch das hatte sie vor längerer Zeit in einem ihrer Bücher gelesen.
War es Goethe gewesen, der das gesagt oder geschrieben hatte? Nietzsche? Oder nicht doch Hesse?
Sie wusste es nicht mehr.
Egal.

Besonders gläubig war sie nie gewesen, aber dass ihr diese Worte vom Verlust einer paradiesischen Existenz genau jetzt zuflogen, gab ihr ein tröstendes Gefühl spiritueller Geborgenheit und existenzieller Gewissheit.

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?
Musste es?

Ruckartig erhob sie sich von der provisorisch drapierten Matratze, auf der sie gerade noch ihren Gedanken nachgegangen war, steuerte zielstrebig auf das Fenster zu und riss es auf. Sauerstoff durchströmte ihre Lungen und legte sich aufmunternd über den Farbgeruch der gestrigen Zimmerstreichaktion, zu der ihr alter Mietvertrag sie verpflichtet hatte. Begleitet von den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne, vereinigten sich Vogelgezwitscher und Blätterrauschen zu einer besänftigenden Melodie, gegen die selbst eine alte Kaffeemaschine nichts mehr auszurichten vermochte, die der Meinung war, die pflichtgemäße Verrichtung ihres morgendlichen Dienstes lautstark und lang anhaltend mitteilen zu müssen.

Als es an der Tür klingelte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Hastig kappte sie die Stromzufuhr ihrer ungehörigen Kaffeemaschine, ließ diese in einem der noch verbleibenden Umzugkartons verschwinden und lief zur Tür.

Heute würde sie reisen ... lieben ... und leben. Und bald - wer weiß - würde sie sich vielleicht wieder über irgendetwas oder irgendjemanden aufregen, sich um einen geliebten Menschen sorgen oder einfach aus unerklärlichen Gründen traurig sein.

Aber eines wusste sie jetzt: Tränenmeere konnten stets aus mehreren Flüssen gespeist werden. Und wenn sie zukünftig nicht jener der Freude, sondern jener der Trauer und des Leids mit sich reißen sollte, so würde sie sich einfach treiben lassen und nicht mehr befürchten, unterzugehen, sondern es begrüßen, sich freizuschwimmen.

__________________________________
Anmerkung der Autorin:

Im obigen Text habe ich zwei Zitate verwendet.
„Perlen bedeuten Tränen“ ist Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ entnommen.
„Das Paradies pflegt sich erst dann als Paradies erkennen zu geben, wenn wir daraus vertrieben wurden.“ stammt von Hermann Hesse
 

Lyrianna

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Die Antwort

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?

Längst war ihr diese Frage zur ungeliebten Vertrauten geworden. Eine stumme Begleiterin, die sie in den dunkelsten Stunden umkreiste wie eine Motte das Licht und sich in den flüchtigen Momenten der Freude lauernd im Hintergrund hielt, um anschließend ihre Hohn lächelnde Fratze umso hässlicher entblößen zu können; zynisch, hinterhältig …und ungerecht.

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?

Diese Frage war alt, so alt wie jene Begebenheiten, die die Menschen gemeinhin als „Schicksal“ oder „Unglück“ bezeichneten, jedoch nicht begreifen konnten.
Gestellt wurde sie oft erst dann, wenn es einen selbst erwischt hatte.
Wenn ein winzig kleiner Augenblick ausgereicht hatte, um alles zu verändern.
Wenn es zu spät war.

Genau da lag das Problem.

Sie lag.
Bewegungslos.
Begleitet vom erbarmungslosen Piepen der Maschine.
Und reiste durch gedankenschwere Innenwelten.

Einzig hier, in Gedanken, hätte sie frei sein können, fernab realer Beschränkungen und Unzulänglichkeiten.
Hier hätte sie reisen können wann und wohin sie wollte, Orte und Personen besuchen, zu denen sie sie sich zurückdachte oder die sie sich kraft ihrer Phantasie selbst erschuf.
Alles hätte sie hier haben, sein und werden können.
In ihrem eigenen, kleinen Paradies.
Und doch wählte sie sich fragend aus der Unendlichkeit von Möglichkeiten ihr eigenes Gefängnis.

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?

Oft schon waren Besucher vorbeigekommen, hatten ihr und dem spärlich eingerichteten Raum, in dem sich ihre körperliche Hülle nun befand, musternde Blicke zugeworfen, die sich vor den strahlend weißen Zimmerwänden wie vorwurfsvolle Anklagen abhoben.

Wie oft schon hast Du Dich über nichtige Kleinigkeiten geärgert, neidvoll Vergleiche angestellt und nutzlos im Selbstmitleid gebadet?

„Perlen bedeuten Tränen“
Einst hatte sie sich im Deutschunterricht mit diesen Worten beschäftigen müssen.
Doch erst jetzt, während sie die verpassten Gelegenheiten ihres vergangenen Lebens aneinanderreihte wie Perlen an einer Schnur, sah sie eine tiefere Bedeutung darin. Eine Wahrheit, deren bitterer Nachgeschmack ihr genauso unbekömmlich schien, wie der unangenehme Geruch, der sie jetzt umgab.

„Das Paradies pflegt sich erst dann als Paradies erkennen zu geben, wenn wir daraus vertrieben wurden.“

Auch das hatte sie vor längerer Zeit in einem ihrer Bücher gelesen.
War es Goethe gewesen, der das gesagt oder geschrieben hatte? Nietzsche? Oder nicht doch Hesse?
Sie wusste es nicht mehr.
Egal.

Besonders gläubig war sie nie gewesen, aber dass ihr diese Worte vom Verlust einer paradiesischen Existenz genau jetzt zuflogen, gab ihr ein tröstendes Gefühl spiritueller Geborgenheit und existenzieller Gewissheit.

Warum musste eigentlich immer erst das Schlimmste passieren?
Musste es?

Ruckartig erhob sie sich von der provisorisch drapierten Matratze, auf der sie gerade noch ihren Gedanken nachgegangen war, steuerte zielstrebig auf das Fenster zu und riss es auf. Sauerstoff durchströmte ihre Lungen und legte sich aufmunternd über den Farbgeruch der gestrigen Zimmerstreichaktion, zu der ihr alter Mietvertrag sie verpflichtet hatte. Begleitet von den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne, vereinigten sich Vogelgezwitscher und Blätterrauschen zu einer besänftigenden Melodie, gegen die selbst eine alte Kaffeemaschine nichts mehr auszurichten vermochte, die der Meinung war, die pflichtgemäße Verrichtung ihres morgendlichen Dienstes lautstark und lang anhaltend mitteilen zu müssen.

Als es an der Tür klingelte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Hastig kappte sie die Stromzufuhr ihrer ungehörigen Kaffeemaschine, ließ diese in einem der noch verbleibenden Umzugkartons verschwinden und lief zur Tür.

Heute würde sie reisen ... lieben ... und leben. Und bald - wer weiß - würde sie sich vielleicht wieder über irgendetwas oder irgendjemanden aufregen, sich um einen geliebten Menschen sorgen oder einfach aus unerklärlichen Gründen traurig sein.

Aber eines wusste sie jetzt: Tränenmeere konnten stets aus mehreren Flüssen gespeist werden. Und wenn sie zukünftig nicht jener der Freude, sondern jener der Trauer und des Leids mit sich reißen sollte, so würde sie sich einfach treiben lassen und nicht mehr befürchten, unterzugehen, sondern es begrüßen, sich freizuschwimmen.

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Anmerkung der Autorin:

Im obigen Text habe ich zwei Zitate verwendet.
„Perlen bedeuten Tränen“ ist Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ entnommen.
„Das Paradies pflegt sich erst dann als Paradies erkennen zu geben, wenn wir daraus vertrieben wurden.“ stammt von Hermann Hesse
 



 
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