Lothar Atzert
Mitglied
Schicksale
Als ich ihn das erste mal sah, erschrak ich. Wo um Himmelswillen hatte es ihn hin verschlagen? Die einen werden in Palläste geboren und andere in Hütten - das war schon vor Georg Büchner so und wird es auch bleiben.
Doch sein Lebensraum war weder das eine, noch das andere: seine Bleibe befand sich zwischen Hoftor und Begrenzungsmauer zum Nachbarn. Und jedesmal, wenn das Tor geöffnet wurde, drückte es ihn gegen die Mauer. Natürlich konnte man genauso gut sagen, er drücke gegen das Tor - und das genau war das Problem: die Funktion des Öffnens drohte nachhaltig gestört zu werden für die Bewohner unseres Hauses.
Wie mochte er bloß an diesen für ihn so ungastlichen Ort gelangt sein, wo es nicht eine einzige günstige Bedingung gab?
Aber was heißt das schon, günstige Bedingung? Seine Mutter, die etwa hundert Meter weiter sehr viel bessere Bedingungen vorfand, hatten sie letzten Herbst erschlagen. Einfach so.
Überhaupt, auf welche Weise ein Wesen wohin gelangt - ist es nicht ein Mysterium? Die Würgefeige zum Beispiel gelangt als Same durch Vogelkot auf Baumkronen, von wo aus sie ihrem Wirt am Stamm hinab wächst, bis sie ihn mit ihren Wurzeln nach einigen Jahrzehnten erwürgt hat und dann folgt sie ihm nach.
Und von duluoz, wie der nach Tanger kam...oder Alexandra David-Neal nach Lhasa...
Oder Insekten, die ihre Brut anderen per Legestachel injizieren und diese anderen von innen heraus aufgefressen werden. Und Fische gibt es, da trägt das Männchen den ganzen Schwarm die ersten Lebenstage im Maul. In Vaters Rachen herum zu schwärmen hätte ich als höchst unhygienisch empfunden. Doch weiß ich jetzt wenigstens, woher Rache und Rachitis kommen.
Aber sei\'s drum. Den Bewohner hier nannten die Menschen \"Essigbaum.\" Dessen Blätter versprühen im Herbst ein Feuerwerk an leuchtenden Farben. Purpurrot golden und indigo...
Vermutlich kam auch er per Vogelschiß in die mißliche Lage.
Nur gibt es wohl keinen Vogel, der in die kaum einen Daumennagel große Öffnung hätte treffen können, so daß wohl Winde noch das ihre beigesteuert haben werden. Wind und Regen und die Jahreszeiten... Und natürlich die Öffnung, deren Rand aus unverweslichem Beton bestand. Da nun fiel der Same vor einigen Jahren hinein, ging weiter unten im Unsichtbaren auf und es wuchs ein junges Bäumchen heraus. Wie und auf welche Weise das Loch entstanden sein mochte - das war wohl nicht mehr zu klären.
Es muß, ein paar Jahre vor mir, schon einmal der Versuch gemacht worden sein, ihn auszureißen, da unterhalb einer Bruchstelle ein abzweigendes Stämmchen herauswuchs. - Ach, nicht nur, daß die standortliche Bedingung ungünstig - es resultierten daraus verständlicherweise direkte Angriffe auf Leib und Leben des Essigbaumes. Und er mußte seine erbarmungswürdige Existens auch noch nach bestem Vermögen verteidigen.
So, schoß es mir durch den Kopf, machen wir es alle. Egal, wie gut oder schlecht die Bedingungen sein mögen - der Selbsterhaltungstrieb ist archaisch - wir nähmen selbst die schlechteste aller Existenzformen inkauf, nur um am Leben bleiben zu können. Und wievielen Wesen..... nehmen wir das ihre gewaltsam weg! Oder vergiften den Umraum, so daß sie nicht mehr wissen, wohin...
Dieser Widerspruch beschäftigte mich ein Leben lang: wie kann man jemandem etwas wegnehmen, wenn man selbst nichts von Geliebtem genommen haben möchte? Und irgendwie spürte ich irgendwann, wie, auch wenn ich niemals direkte Antwort empfing, diese Frage, dieses Antwortsuchen mein Wesen durch Handlungen strukturierte.
Wobei die körperlichen Systeme die ganze Zeit, gleich Vögel im Nest, nach Futter schrien: du mußt esen, essen, essen - und dadurch töten, töten, töten!
Aber töten aus Hunger war das eine - und töten aus Vergnügen an einem lebendigen Teil, an Trophäen also, das andere. Als ich darüber nachzudenken begann, verlor ich Freund auf Freund. Eigentlich verlor ich alles - und gewann die Philosophie, die sich nur dem Bettler hingibt: das arme Bäumchen war ich selbst.
Die Stärke seines Stämmchens hatte bereits den Lochumfang erreicht und so waren seine Tage so oder so gezählt. Dabei wollte er doch ein stattlicher Baum werden, in dem Vögel singen sollten und Nester bauen. Und glücklich seinen Samen weiter trügen.
Wie nur konnte ich ihm helfen? An seine Wurzel war nicht heranzukommen, das war ganz und gar unmöglich. Höchstens den Beton zertrümmern - mit einem Pressluftbohrer. Da hätten sie mich vermutlich eingeliefert in eine Nervenheilanstalt: Wegen Entfernens von Unkraut mittelst Preßlufbohrer - \"wg. Realitätsverlust.\"
Dann erinnerte ich mich plötzlich, was ich einmal irgendwo hörte: \"Du mußt viel Wasser reingießen, wodurch die Wurzel nicht mehr ganz so viel Halt hat.\" - und von Babette kam der Rat, mit dem Baum zu sprechen, ihm mein Rettungsvorhaben zu erläutern, denn ganz so blöd sind Bäume nicht, die \"spüren schon, wer es gut und wer es böse mit ihnen meint.\"
Und so kam es. Einen ganzen Tag lang goß ich Wasser in das Loch hinein und sprach dabei mit ihm ungefähr so: \"Sorg dich nicht, entspanne die Wurzel - du sollst einen schöneren, lustvolleren Ort bekommen, wo du nach Gutdünken wachsen kannst, ganz wie es dir beliebt, mit anderen zusammen, freie Sicht auf den Himmel mit Sonne und Wolken und auch an Erdreich solls nicht fehlen.\"
Am nächsten Tag ging ich zuwerk - ein kurzer, entschlossener Ruck - und ich hielt das Bäumchen hoch gegen den Himmel in meiner Hand - mit dem größten Teil der Wurzel, was ja das Wichtigste war. Da kamen mir fast die Tränen und ich stammelte: \"Du hast es geschafft, jetzt sollst du es erleben, wie es aufwärts geht mit dir!\"
Und ich pflanzte voller Enthusiasmus den Essigbaum ins weiche Gras, abseits von Menschentritt und Maschinengebrüll. Und sah, wie er wuchs und erfreute mich daran. Und als er im Herbst die Blätter abwarf, bangte ich um ihn bis in den Frühling hinein, wo er endlich wieder neue Triebe, neue Blätter bildete und so wurden wir irgendwie Freunde.
Dann kam der Tag, wo die Trauerweide gefällt wurde. Sie wurde gepflanzt einst mit denselben Händen, die gerade diesen Text hier niederschreiben. Die Königin des Gartens, ihre Poesie mißfiel den Nachbarn von Anfang an, da sie ihnen die Sicht versperrte. Nicht etwa aufs Hochgebirge, auf Schluchten oder das offene Meer hinaus, nichts dergleichen, auch nicht auf im Wind wogende Getreidefelder mit Mohnblüten am Wegrand - auf Plattenbauten und Parkplatztristesse war ihnen die Sicht genommen und einer beschwerte sich höchstamtlich, da er Weidenblätter in seinem Schlafgemache fand, die ihn wohl der Nachtruhe beraubten.
Kurz, sie wurde gefällt, wohlgemerkt am anderen Ende des Gartens. Und ich weinte hinter verschlossener Tür, während draußen einen ganzen Tag lang die Kettensägen wüteten.
Es dauerte vierundzwanzig Stunden, bis ich den Mut fand, das Unfassbare zu besichtigen. Der Garten, das letzte Refugium, all seiner Schönheit bar. Und obwohl am andern Ende, weit vom Schuß und Auftrag... hatten die Holzfäller auch den kleinen Essigbaum niedergetrampelt.
Es heißt zurecht, man sei für die verantwortlich, welche man rettet. Ich vermochte es nicht, die Bäume zu schützen und verlor an einem einzigen Tag nicht nur zwei Freunde, sondern auch das Vertrauen in die Fähigkeit, jemanden in diesen Tagen vor Staatswillkür und Spießbürgertum verteidigen zu können.
An dieser Stelle könnte die Geschichte zuende sein. Ist sie aber nicht! Ein paar Tage nach dem Baumfall, es war schon zu vorgerückter Stunde und ich wollte gerade schlafen gehen, erschien Doktor Mittelfinger - und ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, daß dieser, ein spindeldürres Kerlchen von Gestalt, nichts mit unserem hochverdienten Germanisten Ekkehart Mittelberg zu tun hat, wie böse Zungen einst unterstellten. Mittelfinger, der schon von Franz Xavers Opa Ariel Rieger aus Temeshvar erwähnt wurde, ist, nach eigenen Angaben \"älter, als die Neuzeit\" und angeblich im 19. Jahrhundert aus der Feder eines in der Irrenanstalt nahe Stuttgart einsitzenden Dichters entflohen.
\"Mein lieber Lotharius, in welcher trüben Stimmung finde ich dich hier vor?\" sprach er, nachdem ich mich einigermaßen wieder gefaßt hatte, welches sein Kommen jedesmal auslöste. \"Was muß ich sehen - du bist betrübt über das, was doch unablässig in der Welt geschieht? Muß ich dich an deine eigenen Worte erinnern? Wer sagte doch \"Was man innerlich verdrängt, erscheint in der äußeren Welt als Zeichen - was man da draußen genommen bekommt, wird vom Wahrhaftigen erhoben in ein inneres, charakterliches Wachstum, hin zu einer Welt von feinerem Stoffe und wahrer.\" - so hast du es einmal selbst genannt!\"
\"Ach, Mittelfinger, du hast gut reden - es darf ja nichts mehr wachsen in unserer Zeit, keinerlei Poesie, schau nur, was sie gemacht haben...\" entgegnete ich, \"Schönheit kommt jetzt von chirurgischen Eingriffen und bestimmen den Marktwert der verstümmelten Seelen und sie laufen vor mir davon und ich finde keinen Zugang mehr zu ihren Herzen. Verwehrt blieb mir auch, wie dir bekannt, jener, die ich aus tiefstem Grund so liebe, je zu begegnen, ihre Stimme zu umarmen, die dazugehörig karottfarbenen Lippen innig zu küssen, wie es unter Liebenden Sitte ist..\" doch er fegte es mit einer unwilligen Handgeste zur Seite und sprach: \"Hängst du etwa immer noch an den verworrenen Idealen eines Shelly, Byron und Keats? Ihre Namen - romantisch, wie das, was sie dichteten, zugegeben - sind doch auch nur Gäste der Wirklichkeit. Längst vermodert sind die Gebeine und erschöpft ihre Worte durch den Gebrauch eben der wettbewerbenden Menge. Schöpfe aus dir, spiele dein eigenes Spiel - und klage nicht nachahmend, wie die drei britschen Narren.\"
Er sann einen Moment nach und sprach dann unter un-nachahmlich dramatischem Gestus: \"Gehe hinaus in den Garten, nimm\' die verlorenen Weidenruten, stecke im weissen Osten, weiss und rein, wie der Beginn, eine in den Boden, flüstere dazu das geheime Wort; gehe dann nach mittagsgelbem Süden, wo das eine Leben in Vielen west, wiederhole den Vorgang; dann nach Westen, dem purpurenen Licht und der Liebe; zuletzt im grünen Norden vollende den Kreis. Einen fünften Zweig nimmst du mit dir und stellst ihn in eine Vase: dieser soll die neue Königsweide im Zentrum eigenständiger Poesie werden, blau und grenzenlos, wie die unendliche Tiefe des Raums. Pflanze sie, sobald sie genug Wurzeln hat, in die Gartenmitte. Und vor allem - bereue vergangene Schandtat! -danach laß Reue Reue sein und gehe gestärkt, wie nach gutem Frühstücksmahl, zuwerk.
Und was den Essigbaum angeht - richte ihn erneut auf, schiene ihn, hilf, Wunden zu heilen und benutze dabei die heilige Formel: Wenn man fällt, muß man aufstehen. Fällst du wieder, mußt du wieder aufstehen, solange, bis du auf elementare Weise Fortschritte machst, sei es im Fallen oder im Aufstehen...\"...
........ich muß wohl, wie die Jünger Jesu damals, eingeschlafen sein. Als ich die Augen aufmachte, war es draußen hell und ein paar Rotkehlchen jubilierten bereits. Hatte ich mal wieder geträumt? Von Doktor Mittelfinger war jedenfalls nichts mehr zu sehen. Nur an seine Anweisungen erinnerte ich mich noch exakt, so daß ich trotz der Müdigkeit beschloß, in den Garten zu gehen und entsprechend zu handeln.
Und so geschah es. Tröstend lag Tau auf allen Wunden.
Der Weidenzweig, den ich in die Vase stellte, hat inzwischen starke Wurzeln getrieben. Auch die Ruten an den vier Ecken der Welt ergrünen. Demnächst wird die Königin ins Zentrum eingepflanzt. Ob es mit dem Essigbäumchen noch was wird, bleibt indessen weiter fraglich.
Als ich ihn das erste mal sah, erschrak ich. Wo um Himmelswillen hatte es ihn hin verschlagen? Die einen werden in Palläste geboren und andere in Hütten - das war schon vor Georg Büchner so und wird es auch bleiben.
Doch sein Lebensraum war weder das eine, noch das andere: seine Bleibe befand sich zwischen Hoftor und Begrenzungsmauer zum Nachbarn. Und jedesmal, wenn das Tor geöffnet wurde, drückte es ihn gegen die Mauer. Natürlich konnte man genauso gut sagen, er drücke gegen das Tor - und das genau war das Problem: die Funktion des Öffnens drohte nachhaltig gestört zu werden für die Bewohner unseres Hauses.
Wie mochte er bloß an diesen für ihn so ungastlichen Ort gelangt sein, wo es nicht eine einzige günstige Bedingung gab?
Aber was heißt das schon, günstige Bedingung? Seine Mutter, die etwa hundert Meter weiter sehr viel bessere Bedingungen vorfand, hatten sie letzten Herbst erschlagen. Einfach so.
Überhaupt, auf welche Weise ein Wesen wohin gelangt - ist es nicht ein Mysterium? Die Würgefeige zum Beispiel gelangt als Same durch Vogelkot auf Baumkronen, von wo aus sie ihrem Wirt am Stamm hinab wächst, bis sie ihn mit ihren Wurzeln nach einigen Jahrzehnten erwürgt hat und dann folgt sie ihm nach.
Und von duluoz, wie der nach Tanger kam...oder Alexandra David-Neal nach Lhasa...
Oder Insekten, die ihre Brut anderen per Legestachel injizieren und diese anderen von innen heraus aufgefressen werden. Und Fische gibt es, da trägt das Männchen den ganzen Schwarm die ersten Lebenstage im Maul. In Vaters Rachen herum zu schwärmen hätte ich als höchst unhygienisch empfunden. Doch weiß ich jetzt wenigstens, woher Rache und Rachitis kommen.
Aber sei\'s drum. Den Bewohner hier nannten die Menschen \"Essigbaum.\" Dessen Blätter versprühen im Herbst ein Feuerwerk an leuchtenden Farben. Purpurrot golden und indigo...
Vermutlich kam auch er per Vogelschiß in die mißliche Lage.
Nur gibt es wohl keinen Vogel, der in die kaum einen Daumennagel große Öffnung hätte treffen können, so daß wohl Winde noch das ihre beigesteuert haben werden. Wind und Regen und die Jahreszeiten... Und natürlich die Öffnung, deren Rand aus unverweslichem Beton bestand. Da nun fiel der Same vor einigen Jahren hinein, ging weiter unten im Unsichtbaren auf und es wuchs ein junges Bäumchen heraus. Wie und auf welche Weise das Loch entstanden sein mochte - das war wohl nicht mehr zu klären.
Es muß, ein paar Jahre vor mir, schon einmal der Versuch gemacht worden sein, ihn auszureißen, da unterhalb einer Bruchstelle ein abzweigendes Stämmchen herauswuchs. - Ach, nicht nur, daß die standortliche Bedingung ungünstig - es resultierten daraus verständlicherweise direkte Angriffe auf Leib und Leben des Essigbaumes. Und er mußte seine erbarmungswürdige Existens auch noch nach bestem Vermögen verteidigen.
So, schoß es mir durch den Kopf, machen wir es alle. Egal, wie gut oder schlecht die Bedingungen sein mögen - der Selbsterhaltungstrieb ist archaisch - wir nähmen selbst die schlechteste aller Existenzformen inkauf, nur um am Leben bleiben zu können. Und wievielen Wesen..... nehmen wir das ihre gewaltsam weg! Oder vergiften den Umraum, so daß sie nicht mehr wissen, wohin...
Dieser Widerspruch beschäftigte mich ein Leben lang: wie kann man jemandem etwas wegnehmen, wenn man selbst nichts von Geliebtem genommen haben möchte? Und irgendwie spürte ich irgendwann, wie, auch wenn ich niemals direkte Antwort empfing, diese Frage, dieses Antwortsuchen mein Wesen durch Handlungen strukturierte.
Wobei die körperlichen Systeme die ganze Zeit, gleich Vögel im Nest, nach Futter schrien: du mußt esen, essen, essen - und dadurch töten, töten, töten!
Aber töten aus Hunger war das eine - und töten aus Vergnügen an einem lebendigen Teil, an Trophäen also, das andere. Als ich darüber nachzudenken begann, verlor ich Freund auf Freund. Eigentlich verlor ich alles - und gewann die Philosophie, die sich nur dem Bettler hingibt: das arme Bäumchen war ich selbst.
Die Stärke seines Stämmchens hatte bereits den Lochumfang erreicht und so waren seine Tage so oder so gezählt. Dabei wollte er doch ein stattlicher Baum werden, in dem Vögel singen sollten und Nester bauen. Und glücklich seinen Samen weiter trügen.
Wie nur konnte ich ihm helfen? An seine Wurzel war nicht heranzukommen, das war ganz und gar unmöglich. Höchstens den Beton zertrümmern - mit einem Pressluftbohrer. Da hätten sie mich vermutlich eingeliefert in eine Nervenheilanstalt: Wegen Entfernens von Unkraut mittelst Preßlufbohrer - \"wg. Realitätsverlust.\"
Dann erinnerte ich mich plötzlich, was ich einmal irgendwo hörte: \"Du mußt viel Wasser reingießen, wodurch die Wurzel nicht mehr ganz so viel Halt hat.\" - und von Babette kam der Rat, mit dem Baum zu sprechen, ihm mein Rettungsvorhaben zu erläutern, denn ganz so blöd sind Bäume nicht, die \"spüren schon, wer es gut und wer es böse mit ihnen meint.\"
Und so kam es. Einen ganzen Tag lang goß ich Wasser in das Loch hinein und sprach dabei mit ihm ungefähr so: \"Sorg dich nicht, entspanne die Wurzel - du sollst einen schöneren, lustvolleren Ort bekommen, wo du nach Gutdünken wachsen kannst, ganz wie es dir beliebt, mit anderen zusammen, freie Sicht auf den Himmel mit Sonne und Wolken und auch an Erdreich solls nicht fehlen.\"
Am nächsten Tag ging ich zuwerk - ein kurzer, entschlossener Ruck - und ich hielt das Bäumchen hoch gegen den Himmel in meiner Hand - mit dem größten Teil der Wurzel, was ja das Wichtigste war. Da kamen mir fast die Tränen und ich stammelte: \"Du hast es geschafft, jetzt sollst du es erleben, wie es aufwärts geht mit dir!\"
Und ich pflanzte voller Enthusiasmus den Essigbaum ins weiche Gras, abseits von Menschentritt und Maschinengebrüll. Und sah, wie er wuchs und erfreute mich daran. Und als er im Herbst die Blätter abwarf, bangte ich um ihn bis in den Frühling hinein, wo er endlich wieder neue Triebe, neue Blätter bildete und so wurden wir irgendwie Freunde.
Dann kam der Tag, wo die Trauerweide gefällt wurde. Sie wurde gepflanzt einst mit denselben Händen, die gerade diesen Text hier niederschreiben. Die Königin des Gartens, ihre Poesie mißfiel den Nachbarn von Anfang an, da sie ihnen die Sicht versperrte. Nicht etwa aufs Hochgebirge, auf Schluchten oder das offene Meer hinaus, nichts dergleichen, auch nicht auf im Wind wogende Getreidefelder mit Mohnblüten am Wegrand - auf Plattenbauten und Parkplatztristesse war ihnen die Sicht genommen und einer beschwerte sich höchstamtlich, da er Weidenblätter in seinem Schlafgemache fand, die ihn wohl der Nachtruhe beraubten.
Kurz, sie wurde gefällt, wohlgemerkt am anderen Ende des Gartens. Und ich weinte hinter verschlossener Tür, während draußen einen ganzen Tag lang die Kettensägen wüteten.
Es dauerte vierundzwanzig Stunden, bis ich den Mut fand, das Unfassbare zu besichtigen. Der Garten, das letzte Refugium, all seiner Schönheit bar. Und obwohl am andern Ende, weit vom Schuß und Auftrag... hatten die Holzfäller auch den kleinen Essigbaum niedergetrampelt.
Es heißt zurecht, man sei für die verantwortlich, welche man rettet. Ich vermochte es nicht, die Bäume zu schützen und verlor an einem einzigen Tag nicht nur zwei Freunde, sondern auch das Vertrauen in die Fähigkeit, jemanden in diesen Tagen vor Staatswillkür und Spießbürgertum verteidigen zu können.
An dieser Stelle könnte die Geschichte zuende sein. Ist sie aber nicht! Ein paar Tage nach dem Baumfall, es war schon zu vorgerückter Stunde und ich wollte gerade schlafen gehen, erschien Doktor Mittelfinger - und ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, daß dieser, ein spindeldürres Kerlchen von Gestalt, nichts mit unserem hochverdienten Germanisten Ekkehart Mittelberg zu tun hat, wie böse Zungen einst unterstellten. Mittelfinger, der schon von Franz Xavers Opa Ariel Rieger aus Temeshvar erwähnt wurde, ist, nach eigenen Angaben \"älter, als die Neuzeit\" und angeblich im 19. Jahrhundert aus der Feder eines in der Irrenanstalt nahe Stuttgart einsitzenden Dichters entflohen.
\"Mein lieber Lotharius, in welcher trüben Stimmung finde ich dich hier vor?\" sprach er, nachdem ich mich einigermaßen wieder gefaßt hatte, welches sein Kommen jedesmal auslöste. \"Was muß ich sehen - du bist betrübt über das, was doch unablässig in der Welt geschieht? Muß ich dich an deine eigenen Worte erinnern? Wer sagte doch \"Was man innerlich verdrängt, erscheint in der äußeren Welt als Zeichen - was man da draußen genommen bekommt, wird vom Wahrhaftigen erhoben in ein inneres, charakterliches Wachstum, hin zu einer Welt von feinerem Stoffe und wahrer.\" - so hast du es einmal selbst genannt!\"
\"Ach, Mittelfinger, du hast gut reden - es darf ja nichts mehr wachsen in unserer Zeit, keinerlei Poesie, schau nur, was sie gemacht haben...\" entgegnete ich, \"Schönheit kommt jetzt von chirurgischen Eingriffen und bestimmen den Marktwert der verstümmelten Seelen und sie laufen vor mir davon und ich finde keinen Zugang mehr zu ihren Herzen. Verwehrt blieb mir auch, wie dir bekannt, jener, die ich aus tiefstem Grund so liebe, je zu begegnen, ihre Stimme zu umarmen, die dazugehörig karottfarbenen Lippen innig zu küssen, wie es unter Liebenden Sitte ist..\" doch er fegte es mit einer unwilligen Handgeste zur Seite und sprach: \"Hängst du etwa immer noch an den verworrenen Idealen eines Shelly, Byron und Keats? Ihre Namen - romantisch, wie das, was sie dichteten, zugegeben - sind doch auch nur Gäste der Wirklichkeit. Längst vermodert sind die Gebeine und erschöpft ihre Worte durch den Gebrauch eben der wettbewerbenden Menge. Schöpfe aus dir, spiele dein eigenes Spiel - und klage nicht nachahmend, wie die drei britschen Narren.\"
Er sann einen Moment nach und sprach dann unter un-nachahmlich dramatischem Gestus: \"Gehe hinaus in den Garten, nimm\' die verlorenen Weidenruten, stecke im weissen Osten, weiss und rein, wie der Beginn, eine in den Boden, flüstere dazu das geheime Wort; gehe dann nach mittagsgelbem Süden, wo das eine Leben in Vielen west, wiederhole den Vorgang; dann nach Westen, dem purpurenen Licht und der Liebe; zuletzt im grünen Norden vollende den Kreis. Einen fünften Zweig nimmst du mit dir und stellst ihn in eine Vase: dieser soll die neue Königsweide im Zentrum eigenständiger Poesie werden, blau und grenzenlos, wie die unendliche Tiefe des Raums. Pflanze sie, sobald sie genug Wurzeln hat, in die Gartenmitte. Und vor allem - bereue vergangene Schandtat! -danach laß Reue Reue sein und gehe gestärkt, wie nach gutem Frühstücksmahl, zuwerk.
Und was den Essigbaum angeht - richte ihn erneut auf, schiene ihn, hilf, Wunden zu heilen und benutze dabei die heilige Formel: Wenn man fällt, muß man aufstehen. Fällst du wieder, mußt du wieder aufstehen, solange, bis du auf elementare Weise Fortschritte machst, sei es im Fallen oder im Aufstehen...\"...
........ich muß wohl, wie die Jünger Jesu damals, eingeschlafen sein. Als ich die Augen aufmachte, war es draußen hell und ein paar Rotkehlchen jubilierten bereits. Hatte ich mal wieder geträumt? Von Doktor Mittelfinger war jedenfalls nichts mehr zu sehen. Nur an seine Anweisungen erinnerte ich mich noch exakt, so daß ich trotz der Müdigkeit beschloß, in den Garten zu gehen und entsprechend zu handeln.
Und so geschah es. Tröstend lag Tau auf allen Wunden.
Der Weidenzweig, den ich in die Vase stellte, hat inzwischen starke Wurzeln getrieben. Auch die Ruten an den vier Ecken der Welt ergrünen. Demnächst wird die Königin ins Zentrum eingepflanzt. Ob es mit dem Essigbäumchen noch was wird, bleibt indessen weiter fraglich.