Schicksalhafte Begegnung - Teil 4 von 5

visco

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Schicksalhafte Begegnung

Teil 4 von 5​


Die Tage strichen dahin. Das Verfahren war ein Fiasko, und mit jedem weiteren Verhandlungstag, jeder Aussage und jedem Beweismittel, mit dem die Staatsanwaltschaft aufwartete, schwanden ihre Chancen zugunsten des attackierenden Greifvogels, dessen gewaltige dunkle Schatten sich an der Zellendecke abzeichneten und sie vollends zu verschlingen drohten.

Es war ein bösartiges, grausames Geschöpf, das sich lauernd hinter anderen Schatten verbarg, um dann aus dem Hinterhalt anzugreifen und seine wehrlose Beute zu reißen. Doch vor ihr konnte er sich nicht verstecken. Sie hatte den Hauch seines Flügelschlags gespürt, als er ihr eines Nachts ganz nahe gekommen war. Aber er hatte sie nicht richtig zu packen bekommen. Seine langen Krallen hatten sich in der Bettdecke verfangen und daran gerissen, und mit grellem Geschrei hatte er sein Opfer einzuschüchtern versucht. Doch es gelang ihr zu entkommen und so den ersten Angriff abzuwehren.

Sie wußte, er war da draußen, irgendwo zwischen den Schatten, die meist gleichgültig im eintönigen Grau einander überlagerten. Aber sie würde wachsam sein und jede seiner Bewegungen genau verfolgen. Solange sie im Licht saß, konnte ihr nichts passieren. Der Lichtschein würde sie beschützen. Im Licht war sie bestimmt vor ihm sicher.

Mit dem Rücken gegen die Stäbe gelehnt saß sie auf dem kalten Steinboden, stundenlang, bewegungslos, und wenn sie für einen Moment die Augen schloß, dann lauschte sie in die Dunkelheit.

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“, fielen ihr Lydias Worte wieder ein, mit denen sie Sartre zitiert hatte. Lydia teilte nach eigener Aussage dessen Überzeugung von der Freiheit und der Einsamkeit des Individuums.

Lydia war so anders als alle Frauen, die sie bis dahin kennengelernt hatte, und sie hätte lügen müssen, wollte sie nicht eingestehen, daß sie eine gewisse Faszination auf sie ausübte. Mit ihrem gewöhnlichem „Comprehensive School“-Abschluß konnte Vivian bei weitem nicht mit dem Wissen der gebildeten Amerikanerin mithalten, aber diese hatte ihre Überlegenheit nie zur Schau gestellt. Es war wohl Sympathie gewesen, die die beiden Frauen zusammenführte.

Vivian lehnte ihren Kopf nach hinten gegen die eisernen Stäbe und begann, in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Ein Traum hatte sich erfüllt, als sie Jason bei einer seiner Dienstreisen begleiten durfte. Sie hatte sich schon oft nach einem Urlaub außerhalb Englands gesehnt, und nun sollte es für über drei Wochen in die Vereingten Staaten gehen. Vor Begeisterung war sie so aufgeregt gewesen, daß sie mehrere Tage benötigte, bis auch ihr Koffer endlich gepackt war.

Jener Tag, an dem sie Lydia zum ersten Mal traf, war etwas ganz Besonderes gewesen. Während Jason tagsüber in der Firma beschäftigt war, hatte sie, mit Mobiltelefon und ausreichend Bargeld ausgestattet, einige kleinere Ausflüge unternommen, außerhalb des Hotels und nicht immer mit seiner Zustimmung oder dessen Wissen.

Einer dieser Ausflüge, und sie war mit Mal zu Mal mutiger geworden, hatte sie ins „County Museum of Art“ geführt. Es war nicht weit vom Hotel entfernt, lediglich auf der anderen Seite des Hancock Parks, downtown Los Angeles. Es war ein tolles Gefühl, das sie in vollen Zügen genoß, während sie die barocken Gemälde italienischer Künstler auf sich wirken ließ oder die Meisterwerke Rembrandts, Gauguin oder Cézanne bestaunte. In der Ausstellung „American Art“ dominierten Ölbilder, Aquarelle und Skulpturen aus der Kolonialzeit bis zum zweiten Weltkrieg, die vornehmlich Portraitdarstellungen zeigten, und deren Erschaffer zu ihrer Genugtuung oftmals britischen Ursprungs waren.

Die Begegnung mit Lydia war keine im herkömmlichen Sinne; sie war aus äußeren Umständen einfach entstanden. Vor George Bellows´ „Cliff Dwellers“ (engl.: Höhlenbewohner) - der ältesten Errungenschaft des Museums - hatte sich eine Gruppe von Betrachtern eingefunden, die sich nach und nach auflöste, bis nur noch zwei Personen übrig blieben. In Bibliotheken und Museen wird aus Rücksichtnahme gegenüber anderen Besuchern nicht gesprochen. Aus diesem Grund hatte Vivian auf das sympathische und ausdrucksstarke Lächeln der etwa gleichaltrigen Frau neben ihr nur mit einem leisen Kichern reagiert. „Auch ohne Begleitung?“ hatte sie von ihren Augen abgelesen, und das erwiderte belustigte Kichern mußte sie für Außenstehende unweigerlich wie zwei Freundinnen erscheinen lassen.

Sie wollte nicht für aufdringlich gehalten werden, und so war sie der geheimnisvollen Verbündeten nicht gefolgt, als diese ihren Rundgang fortsetzte. Aber durch jeden Raum, den sie fortan betrat, ließ sie zunächst ihren Blick in der Hoffnung schweifen, daß auch sie dort sein würde, und sich vielleicht doch noch die Gelegenheit für ein Gespräch ergab.

An einer Vitrine mit ausgestelltem chinesischem Kunsthandwerk standen sie dann wie zufällig wieder beisammen. Ihre Blicke trafen sich in der Spiegelung des Glases, und sofort zeichnete sich in beiden Gesichtern ein kontaktfreudiges, beinahe inniges Lächeln ab.

»Du bist verheiratet?« fragte die Blonde ohne den Kopf zu wenden, und als ob sie ihre verblüffte Reaktion vorhergesehen hätte, hielt sie ihr aufklärend den linken Handrücken hin.

Die demonstrierte Beobachtungsgabe imponierte Vivian, und der fehlende Trauring an deren Ringfinger ließ demnach den Schluß zu, daß sie selber nicht verheiratet war.

»Ich bin Lydia«, stellte sich ihre neue Bekanntschaft dann selbstbewußt vor.

»Vivian Bellings«, tat sie es ihr nach.

»Wußten Sie eigentlich, Mrs. Bellings, daß dieser Teller fast siebenhundert Jahre alt ist?« immitierte Lydia eine Klassenleiterin, die die Aufmerksamkeit einer abgelenkten Schülerin wieder auf das zu betrachtende Objekte lenkte.

Vivian gluckste leise, bevor sie auf das Spiel einging und mit einem braven „Nein, Ma´m“ antwortete.

»Die Schönheit und Eleganz dieses handgefertigten Porzellantellers aus der Jiangxi Provinz, entstanden etwa 1340-68, späte Yuan-Dynastie ...«, gab Lydia mit gespielt schulmeisterhaftem Tonfall den Inhalt der ausliegenden Kurzbeschreibung leicht improvisiert wieder.

»... zeigt die acht buddhistischen Symbole, Blumen und Wellen«, vervollständigte die fügsame Schülerin, was Lydia ein kurzes aber herzhaftes Auflachen entlockte, in das Vivian um ein Haar mit eingestimmt wäre.

»Du bist Engländerin?« stellte Lydia überrascht und mit einem Schmunzeln fest. Die markant britische Aussprache schien sie zu amüsieren, während sie nun skeptisch Vivians Äußeres musterte. »Nein, ...« revidierte sie dann aber ihr Urteil, »... du siehst nicht aus wie eine Engländerin. Vielleicht ... Australierin?«

»Nein!« lachte Vivian.

»Warte, ... jetzt hab´ ich´s! ... Neuseeländerin?«

Vivian mußte sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszuprusten.

»Na gut«, akzeptierte Lydia ihre Fehleinschätzung, »gib´mir einen Hinweis, ... aber nur einen ganz kleinen«, bat sie belustigt, um das Ratespiel fortzusetzen.

»Stratford-upon-Avon«, nannte Vivian den Namen eines malerischen Ortes in Warwickshire, der als Geburtsstätte eines weltberühmten Schriftstellers jährlich tausende Touristen anlockte.

»Laß´ mich überlegen«, winkte Lydia in Gedanken vertieft ab, »... wie wär´s damit? ... „So wird der Wille einer lebenden Tochter durch den letzten Willen eines toten Vaters gefesselt. Ist es nicht hart, Nerissa, daß ich nicht einen wählen und auch keinen ausschlagen darf?“« demonstrierte sie mit einem Zitat eindrucksvoll, daß sie deutlich mehr von William Shakespeare kannte als nur seinen Geburtsort.

»Macbeth?« ließ Vivian durchblicken, daß sie nicht ganz so belesen war.

»Der Kaufmann von Venedig«, stellte Lydia leicht pikiert richtig, und auf Vivians Betteln umriß sie kurz den Inhalt. »Um seinem verschuldeten Freund die standesgemäße Werbung um die schöne Porzia zu ermöglichen, verpfändet ein venezianischer Kaufmann dem wohlhabenden Shylock ein Pfund Fleisch aus seinem eigenen Körper. Als der Kaufmann sein Vermögen verliert, besteht Shylock auf seiner mörderischen Forderung.«

Vivian hatte unwillkürlich eine Gänsehaut bekommen.

»Das klingt ja furchtbar! Und wie geht die Geschichte aus?«

»Hoffentlich habe ich nicht schon zuviel verraten«, wich Lydia schmunzelnd aus, »schließlich will ich dir nicht den Spaß am Lesen verderben«, erklärte sie mit versteckter Aufforderung.

Von nun an schlenderten sie gemeinsam durch die Ausstellung, und Vivian ließ nicht locker, bis Lydia ihr schließlich doch noch das Ende der berühmten Komödie erzählte.

Als ihre Begleiterin sich dann plötzlich von ihr verabschiedete, sah Vivian ihr wehmütig nach. Sie hätte gerne noch mehr Zeit mit der faszinierenden jungen Frau verbracht, von der sie kaum mehr wußte als ihren Vornamen: Lydia.

Doch sie kam noch einmal zurück und wurde dafür von ihr mit einem freudigen Strahlen empfangen. Sie erklärte, daß sie mit Freunden verabredet sei und lud Vivian ein, sie zu begleiten. Ohne zu zögern nahm sie die freundliche Einladung an, und nach einem kurzen Abstecher zu einem Buchladen trafen sie im „Caffee Latte“ ein, einem lichtdurchfluteten Café mit Terracottaboden. Schon am Eingang, an dem ein neonfarbenes Hinweisschild den hauseigenen Hühnchensalat mit Preiselbeeren anpries, drang ihnen der aromatische Duft gerösteter Kaffeebohnen in die Nase.

Durch freudiges Winken hatten sich Lydias Freunde von ihrem Tisch aus gleich bemerkbar gemacht.

»Darf ich vorstellen? Das sind Peter und Betsy, meine allerbeste Freundin Jill und ihre bessere Hälfte Frederic. Meine Damen und Herren, das ist Mrs. Bellings. Sie ist Engländerin!« betonte Lydia überschwenglich, als käme Vivian von einem anderen Stern.

»Als ich meinte, daß du dir beizeiten einen festen Partner suchen könntest, hätte ich wohl etwas präziser sein sollen«, scherzte Frederic sarkastisch, während Lydia und Jill sich herzlich umarmten, und die beiden anderen Vivian zur Begrüßung die Hand reichten.

»Weil ich Engländerin bin?« hakte Vivian zum Amüsement der anderen nach.

»Ou contraire, Madame! Weil Sie eine Frau sind, wie unschwer zu erkennen ist«, gab der Gefragte trocken zurück.

Mit einem machohaften Schmunzeln streifte er seine Sonnenbrille über die Stirn in die Haare, was ihm einen eifersüchtigen aber liebevollen Hieb in die Rippen seitens Jill einbrachte.

Vivian hatte sich auf Anhieb in die muntere Gesellschaft eingefügt. Bereitwillig hatte sie alle neugierigen Fragen über ihre Person und das Leben in Großbritannien beantwortet und sich dabei vehement gegen die geäußerten Vorurteile gewehrt, mit denen hintlerwäldlerische Ansichten als typisch englisch bezeichnet worden waren. Mit Stolz hatte sie auf die Errungenschaften des damaligen „British Empire“ verwiesen, welches nach ihrer Überzeugung das Gesicht der modernen Welt in Hinblick auf Kultur und Zivilisation entscheidend geprägt habe. Aber als Peter mit den Worten „God save the queen“ respektvoll einen Toast auf die zukünftig engeren amerikanisch-englischen Beziehungen aussprach - was er ohne Zweifel auf die beginnende Freundschaft der Anwesenden zu Vivian bezog - stimmte sie herzhaft in das Lachen der anderen mit ein.

Die zwei Wochen bis zu ihrem Rückflug gestalteten ihre neuen Freunde so interessant und abwechslungsreich, daß sie für sie zu einem unvergeßlichen Erlebnis wurden. An den Wochenenden begleitete Jason sogar die unternehmungslustige Truppe, deren Teilnehmer und Anzahl variierte, und an mehreren Abenden gingen sie gemeinsam aus.

Wenn die Frauen alleine loszogen, dann führten sie Vivian an Orte, die weniger erlebnisreich waren. In langen Gesprächen lernten sie sich näher kennen und genossen dabei ausgiebig das mediterrane Klima und die facettenreiche Landschaft entlang der Pazifikküste.

Vivian hatte den Strand von Palos Verdes, von dessen hohen Hügeln sie verträumt auf den tiefblauen Ozean hinausblickte, als ihren Lieblingsplatz auserkoren. Die Malvern Hills im Südwesten Englands waren damit endgültig vom Thron verdrängt.

An mehreren Tagen waren sie in die Santa Monica Berge gefahren, die sich westlich von Los Angeles erhoben und sich südlich bis in die Santa Monica Bucht erstreckten. Die reichhaltige Vegetation, die im Wettstreit mit den wüstenähnlichen Regionen um die Vorherrschaft rang, und das ungewöhnlich breite Spektrum der bestimmenden Farbtöne, war das Beeindruckenste, das Vivian je gesehen hatte.

Von dort aus ging es immer häufiger zur Brentwood Ranch, wo Lydia zu Hause war. Bei ihrem ersten Abstecher dorthin hatte es ihr glatt die Sprache verschlagen. Eingebettet in eine natürlich wirkende und doch liebevoll gepflegte Gartenanlage an den nördlichen Ausläufern der Berge erhob sich ein gewaltiges Landhaus von beeindruckender Schönheit und Eleganz. Die atemberaubende äußere Erscheinung wurde nur noch von dem weitläufigen und luxurios ausgestatteten Innern übertroffen, bei dessen Anblick sie vollends überwältigt war.

Ausgehend von der Eingangshalle, die wie das formell elegante Speisezimmer in hellen Pastelltönen gehalten war, hatte sie sich voller Ehrfurcht durch die mit viel Liebe zum Detail eingerichteten Räume führen lassen. Das dunkel getäfelte Wohnzimmer hatte die Ausmaße eines Tanzsaals und mündete zum Garten in einem gläsernen Vorbau mit Kuppeldach. In der Küche dominierte eine freistehende Theke, über der zahlreiche Gourmet-Utensilien und Dutzende kupferfarbene Töpfe in verschiedenen Größen herabhingen, während ein ausladender ovaler Tisch zu einem ausgedehnten Frühstück mit Blick in den Garten einlud. Für die körperliche Fitness standen neben einem Gymnastikraum mit verspiegelten Wänden ein eigener Tennisplatz und der obligatorische Pool zur Verfügung. Die Bibliothek, in die sich die Herren nach dem Dinner vermutlich zu einer guten Ziggarre und einem Glas Portwein zurückzogen, und die großzügigen Zimmer der oberen Etage rundeten den Eindruck einer herrschaftlichen Residenz ab.


»Bellings?« holte eine herbe Frauenstimme sie abrupt aus ihren Träumen zurück. »Besuch für Sie, Schätzchen. ... Nun machen Sie schon! Stehen Sie auf!«

Erschrocken war sie aufgefahren und hatte sich instinktiv von der Stimme weg in das Zelleninnere zurückgezogen. Erst nach einer Weile realisierte sie wieder, wo sie war.

Die farbige Aufseherin war kräftig gebaut und brachte gut und gerne ihre 180 Pfund auf die Waage. Mit festem Griff geleitete sie die verängstigte Gefangene trotz angelegter Handschellen aus dem Gefängnistrakt und über den Hof in das Nebengebäude, in dem der Besucherraum lag. Über ein Mikrophon an ihrer linken Schulter hatte sie ihr Eintreffen bereits angekündigt, aber erst nach einem kontrollierenden Sichtkontakt mit einem der innseitigen Wachbeamten betätigte dieser die von dem gewohnt durchdringenden Summen begleitete Entriegelung der Sicherheitstüre.

Ein beißender Geruch nach Putzmitteln und frischem Bohnerwachs lag in der Luft, und außer dem lauten Quietschten, das jeder ihrer Schritte auf dem blank polierten Boden hervorbrachte, herrschte eine bedrückende Stille. Die Kälte der unwirklichen Umgebung strenger behördlicher Disziplinargewalt setzte sich in der Monotonie trister Farben und den kahlen Wänden des Besucherraums fort. Gesenkten Hauptes ließ sie sich an den wenigen, vergitterten Fenstern entlang bis zu ihrem Platz führen und sah erst dann durch die leicht spiegelnde Trennscheibe in das Gesicht der Person, die sie am allerwenigsten erwartet hätte.

Ihre blonden Haare wurden mit Ausnahme einzelner Strähnen über eine große Haarklammer aus matt silbernem Metall in Nackenhöhe auf dem Rücken gehalten und reichten bis kurz über die Taille herab. Die schlanken Füße, die unter den Hosenbeinen der figurbetonten Jeans zu sehen waren, steckten strumpflos in unifarbenen Pumps mit normalem Absatz, und Vivian fiel auf, daß sie keinen Schmuck trug.

»Hey«, lautete ihre knappe aber freundschaftliche Begrüßung, nachdem sie den Hörer aufgenommen hatte und mit einem überspielt mitleidigen Blick Vivians weniger gepflegtes Äußeres bemerkte.

»Hey«, erwiderte diese ebenso knapp; sie hätte ohnehin nicht gewußt, wie ausgerechnet sie das Gespräch hätte beginnen sollen.

»Behandeln sie dich gut?« erkundigte sich Lydia mit schwesterlicher Fürsorge, aber Vivian reagierte nur mit einem verächtlichen Grinsen.

»Bitte erspare mir deine Anteilnahme. Das kaufe ich dir sowieso nicht ab! Kommen wir doch lieber gleich zum Punkt, ja? Was willst du?«

»Du bist wirklich unverschämt, weißt du das?« beschwerte sich Lydia beleidigt. »Was glaubst du wohl, was ich will? Ich möchte, daß du wieder nach Hause kommst und endlich mit diesem unsinnigen Versteckspiel aufhörst!«

»Fängst du schon wieder damit an! Und wenn du es noch hundert Mal behauptest, ... ich bin nicht deine Schwester!« fuhr Vivian wütend aus der Haut.

»Ich verstehe dich nicht. Warum willst du nicht einsehen, daß es völlig sinnlos ist, diese Farce noch weiter fortzusetzen? Hast du dir eigentlich schon ´mal über die Folgen Gedanken gemacht? Ist dir denn nicht klar, daß dir deine Sturheit womöglich eine mehrjährige Haftstrafe einbringt?«

Vivian zuckte unwillkürlich zusammen. Auf diese Möglichkeit hatte sie auch ihr Verteidiger bereits mehrfach hingewiesen. Immer wieder hatte er von Wahrscheinlichkeiten gesprochen und dabei in zunehmendem Maße der drohenden Niederlage höhere Prozentwerte zugebilligt. Aufgrund ihrer dann als uneinsichtig ausgelegten Haltung würde sie der Arm des Gesetzes vermutlich mit voller Härte treffen. Nur ein offenes Bekenntnis zu der unterstellten Identität konnte sie seiner Meinung nach davor bewahren. Sollte dieser Identitätswechsel jedoch per Gerichtsbeschluß erfolgen, dann würden sämtliche Rechtsgeschäfte, die sie unter der demnach rechtswidrig angenommenen Identität Vivian Bellings abschloß, zwangsläufig als Betrugsdelikte verfolgt. Das bezog unter anderem ihre Ehe mit Jason mit ein.

»Warum tust du das?« stellte sie Lydia mit weinerlichem Unterton zur Rede. »Was hast du nur davon, mir mein Leben wegzunehmen und mir ein anderes aufzuzwingen?« Aus inzwischen genäßten Augen sprach die Verzweiflung.

»Ja, sicher«, stellte Lydia nüchtern fest, »das ist ´mal wieder typisch! Du bist selbstverständlich wieder nur ein Opfer widriger Umstände geworden, und dafür gibst du jetzt mir die Schuld.«

»Ganz genau so ist es doch!« giftete Vivian zurück. »Woher kommen denn diese ganzen Indizien, he? Meine Gebißaufnahme, die angeblich mit der deiner Schwester übereinstimmt, und ihr Ausweis in meinem Gepäck, ... doch wohl nur von dir!«

Lydia schüttelte verständnislos den Kopf, statt ihrer Verärgerung freien Lauf zu lassen, bevor sie sich Vivian mit ernstem Blick wieder zuwandte.

»Ich habe es wirklich satt, mich dauernd mit dir zu streiten, und ich bin es leid, ewig deine Fehler auszubügeln«, erklärte sie frustriert. »Dazu habe ich einfach keine Lust mehr.«

»Dann laß´ es doch, und laß´ mich endlich zufrieden!« forderte Vivian unbeachtet der Empfehlung ihres Verteidigers. Die innere Auflehnung gegen die vorgetäuschte familiäre Bindung, aus der Lydia ihre Verantwortung ableitete, war einfach stärker gewesen.

»Bring´ mich besser nicht in Versuchung!« fauchte ihre Kontrahendin zurück. »Sonst überlege ich mir vielleicht noch, ob es nicht wirklich besser für dich wäre, wenn sie dich für einige Zeit hier behalten!«

Auch ohne heruntergezogene Augenbrauen verfehlte ihr furchteinflößender Gesichtsausdruck, aus dessen Mitte zwei strahlend blaue Augen hervorstachen, seine Wirkung nicht. Vivian lief bei diesem Anblick ein eiskalter Schauer den Rücken hinab.

»Mein Anwalt meint, wir haben gute Chancen«, stachelte sie abwehrend, worauf sich in Lydias Gesicht ein hämisches Grinsen formte.

»So? Sagt er das, ja?« zog sie diese Aussicht mit überheblichem Tonfall in Zweifel. »Und du bist sicher, daß du diesen Prozeß tatsächlich gewinnen willst? ... Also schön«, gab sie sich nun einlenkend. »Es ist deine Entscheidung. Du kannst natürlich deine jämmerliche Identität als Vivian Bellings aufrechterhalten und dich gemeinsam mit Jason für den Mord an Vivians Eltern verantworten. ... Oder du gibst diese lächerliche Maskerade endlich auf und läßt dir statt dessen von mir helfen.«

»Wir ... wir sind es nicht gewesen«, widersprach Vivian beinahe kleinlaut, als die in ihr Gedächtnis eingebrannten Traumbilder von der schrecklichen Gewalttat einen heftigen Gefühlsausbruch hervorriefen.

Ihre Atmung beschleunigte sich zusehens, der Puls schlug ihr längst bis zum Hals, und in Sekunden war sie schweißdurchnässt. Vom Haaransatz aus liefen die zu einem Rinnsal vereinigten Tropfen über die Stirn und von den Augenbrauen abgelenkt seitlich an ihrem Gesicht hinunter. Ihre Kleidung nahm die Feuchtigkeit auf und begann sofort am Körper festzukleben. Aus den genäßten Augen strömten immer neue Tränen unaufhaltsam an ihren erröteten Wangen hinab, die sich mit dem Schweiß vermischten und auch durch ein ruckartiges Hochreißen ihres Kopfes gen Zimmerdecke nicht zu bändigen waren.

»Du weißt es noch nicht, oder? Jason hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Allerdings hat er darin auch seine Komplizin schwer belastet«, versetzte Lydia ihr einen Hieb, der sie durch Mark und Bein erschütterte.

Wieder schossen Vivian die Tränen in die Augen, und ihr Hals zog sich zusammen, daß sie beinahe kein Wort mehr hervorbrachte.

»Das ... das ... kann nicht sein!« krächzte sie fassungslos.

»Sieh´ es doch endlich ein! Er hat dich benutzt! Wahrscheinlich liegt die echte Vivian zerstückelt auf dem Grund irgend eines Sees. Er ist ein Mörder, das hat er selber zugegeben! Aber du mußt dich da nicht hineinziehen lassen! Hör´ doch auf mich!« Sie beugte sich näher zur Trennscheibe vor. »Ich weiß, ich hab´s dir nicht immer einfach gemacht. Vielleicht bin ich sogar mit daran schuld, daß du deiner Familie den Rücken gekehrt hast und nun sogar deine Herkunft leugnest. Aber ich bin deine Schwester, und ich will dir doch helfen!«

Vivian war noch zu keiner Antwort fähig. Ihre bislang aufrechte Köperhaltung, die in Verbindung mit einer lebendigen Mimik und aktiven Gestik ihren selbst aufgezwungenen Optimismus wiederspiegelte, war einer unübersehbaren Ernüchterung gewichen. Sie zeichnete sich in verkrampften Gesichtszügen ab und setzte sich in den vorhängenden Schultern fort. Ihre Körpersprache war nun einsilbig, bedächtig, vorhersagbar und schien gelenkt von der freiwilligen Hingabe an den aufkeimenden Haß, der sie nach dem Verrat an ihrem Vertrauen erfüllte. Niemals wieder würde sie sich in seinen Armen sicher und geborgen fühlen.

»Du willst mir helfen?« fragte sie skeptisch, ohne Lydia dabei anzusehen.

»Ja, das will ich!« bekräftige diese mit überlegener Entschlossenheit. Sie wußte, daß sie alle Trümpfe in der Hand hielt. »Allerdings stelle ich ein paar Bedingungen«, wurden prompt Vivians Befürchtungen bestätigt, daß sie die Katze noch nicht vollständig aus dem Sack gelassen hatte.

»Wenn hier jemand ins Gefängnis gehört, dann du!« erklärte sie mit ungeschminkter Verbitterung und wischte sich mit dem Ärmel die Spuren ihrer Gemütsverfassung aus dem Gesicht. »Was verlangst du?«

»Ich halte es für sinnvoll, daß die mir nach deinem spurlosen Verschwinden übertragene Vermögenspflege deines Erbteils bestehen bleibt und mit deinem Einvernehmen notariell beglaubigt wird.«

»Meinen Erbteil!« lachte Vivian zynisch. »Du meinst wohl Merendas Erbteil. Das ist doch der Name, oder?«

»Darüberhinaus erwarte ich, daß du versprichst, niemals wieder deine Identität zu leugnen und mich natürlich ohne Widerrede in allen Maßnahmen unterstützt, die ich nach deiner Entlassung zur Einhaltung und Kontrolle der gerichtlichen Auflagen für nötig erachte. Ansonsten findest du dich schneller wieder hier ´drin als dir lieb ist!«

»Ich kann also zwischen Gefängnis und einem goldenen Käfig wählen«, hielt Vivian sarkastisch fest. »Soll das etwa dein Angebot sein?«

»Wenn du es so sehen willst?« gab sich die Gefragte keine Mühe, ihr zu widersprechen. »Aber du wirst verstehen, daß ich nicht einfach meinen Kopf für dich hinhalte, während du, mir nichts, dir nichts, so weitermachst wie bisher. Ich werde gut für dich sorgen, und du sollst alles bekommen, was du brauchst, ... aber ich werde nicht zulassen, daß du weder mich noch dich selbst jemals wieder in solche Schwierigkeiten bringst!«

»Du verdammtes Biest!« reagierte Vivian aggressiv, bevor sie sich wieder einen gemäßigten Tonfall abrang. »Geht es um viel Geld? Wie hoch ist denn dieses Erbe?«

»Unser Vater hinterließ uns ein achtstelliges Vermögen«, antwortete Lydia mit der Nüchternheit einer Geschäftsfrau.

»Wow!« entfuhr es Vivian beeindruckt von dieser Summe, die folglich zwischen 10 und 99 Millionen Dollar liegen mußte.

»Ich warte auf eine Antwort«, erklärte Lydia sachlich.

»Du willst Merendas Erbteil, richtig? Das sollte dir schon noch ein bißchen mehr wert sein«, pokerte Vivian.

»Es geht nicht darum, was ich will. Du mußt dich entscheiden.«

Ihr Blick war bewegungslos, ohne jede sichtbare Emotion.

»Du verlangst zuviel!« wehrte sich Vivian.

»Ach wirklich? Dann bleibst du also lieber für den Rest deines Lebens im Gefängnis? So verrückt kannst du nicht sein! Mach´ dir doch nichts vor. Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Das solltest du in keiner Sekunde vergessen, in der du mit mir sprichst!« warnte sie, und ihr Blick verfinsterte sich. »Und jetzt will ich endlich eine Antwort!«

»Ich muß darüber nachdenken«, vermied die unter Druck Gesetzte mühsam jede andere Reaktion, während sich ihre verdeckte Hand zu einer Faust ballte.

»Ich gebe dir eine Minute«, antwortete Lydia kaltherzig, und nachdem sie demonstrativ den Hörer abgelegt hatte, lehnte sie sich mit abgewandtem Blick zurück.

Das gestellte Ultimatum war hart und viel zu kurz, und in typischer Weise spiegelte es Lydias grausame Unnachgiebigkeit und ihr unerträgliches Verlangen nach Dominanz wieder. Sie hatten sich einmal so sehr gemocht. Ihre gemeinsamen Ausflüge, die langen, tiefgreifenden Gespräche, ihr fröhliches, herzhaftes Lachen und der süßliche Duft ihrer Haare, die sie auf ihrem Gesicht spürte, wenn sie sich zur Begrüßung umarmten, waren alles angenehme Erinnerungen. Doch ihr bisheriger Bezug zu einem bis dahin nicht erfahrenen Glücksgefühl verkehrte sich nun ins Gegenteil und ließ wie eine aufgedeckte Intrige nichts übrig als den Schmerz über die Enttäuschung eines mißbrauchten Vertrauens.

Ihr getrübtes Urteilsvermögen erlaubte keinen klaren Gedanken und verhinderte ein berechnendes Abwägen der zur Auswahl stehenden Alternativen. Ihre Entscheidung war nicht überdacht und ging einher mit dem Streben eines unbeugsamen Besiegten, der seine unehrenhafte Unterwerfung und die Auslieferung eines ganzen Volkes dessen unmittelbarer Vernichtung vorzog. Sie scheute ein sinnloses Ende und würde statt dessen den Kampf wieder aufnehmen, wenn die Zeit dafür gekommen war.

Vorsichtig klopfte sie mit dem Hörer gegen die Trennscheibe und machte so auf sich aufmerksam.

»Du hast gewonnen«, erklärte sie dann. »Ich kapituliere. Aber auch ich stelle ein paar Bedingungen«, versuchte sie ihre Position zu stärken.

»Keine Bedingungen«, unterstrich Lydia mit einem ablehnenden Kopfschütteln. »Über die Gewährung gewisser Freiheiten, die dir vielleicht jetzt vorschweben, werden wir uns erst unterhalten, wenn ich es für richtig halte.«

Vivian mußte schlucken, und nicht nur ihre Nackenhaare, alles in ihr sträubte sich. Doch sie wollte auf keinen Fall ins Gefängnis. Auf keinen Fall ins Dunkel, in dem die Schatten auf sie lauerten. Um nichts in der Welt wollte sie dahin zurück.

»Also gut, ... Schwesterherz. Ich werde tun, was du verlangst«, willigte sie nach einer Verzögerung und mit vorgespielt gebrochenem Widerstand schließlich ein.

»Das Versprechen«, erinnerte Lydia kühl.

Vivians Hals zog sich weiter zusammen, und ein gewaltiger Kloß begann sich darin zu formen. Erst nach einem mehrmaligen Räuspern fand sie ihre Stimme wieder.

»Was willst du hören?«

»Ich verspreche, niemals wieder meine Identität als Merenda Carolyn Kereth zu leugnen oder diesbezügliche Zweifel Dritter zu unterstützen«, gab Lydia den Text vor.

Für diese nicht sichtbar verkreuzte Vivian als imaginären Schutz die Finger, während sie widerwillig die verlangten Worte eines Versprechens wiederholte, dessen Einhaltung für sie selbstverständlich undenkbar war.


- Ende von Teil 4 -
 

visco

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Hinweis der Autorin:

Hier also die schicksalhafte Begegnung, die Vivians Leben verändern wird: sie trifft auf Lydia, deren Schwester seit einiger Zeit vermißt wird, und welcher Vivian fatalerweise ähnlich sieht.
Ich hoffe, hier findet sich auch die Erklärung für Vivians Traum vom Beginn der Geschichte.
Hier gibt´s nun auch die Aufklärung, wessen Vivian beschuldigt wird, und inwiefern die Begegnung mit Lydia für Vivian schicksalhaft sein wird.

Was mich interessiert:
Wie sind die Ortsbeschreibungen?
Wie sind die Dialoge?
Kann man sich in Vivian hineinversetzen?
Wie hättest DU an ihrer Stelle entschieden?

Viele Grüße,
Viktoria.
 



 
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