Schillernder Schmetterling der Nacht

In dieser unbekannte Stadt mit fremden Straßen, fremden Häusern, fremden Gesichtern versuchte ich Ordnung in mein neues Leben zu bringen. Als erstes wurde die kahle Wohnung mit nagelneuen Möbeln ausgestattet. Kein Fingerzeig deutete auf alte zurückliegende Tage hin. Danach nahm ich das Büro - Fundgrube alter Erinnerungen - in Angriff. Es mußte Platz für Neues geschaffen werden. Ein Erlebnis und ein Gedanke nach dem anderen wanderte im Papiermüll. Nichts als alberne Naivitäten - fort damit!
Plötzlich hielt ich inne. Wie hypnotisiert griff ich nach dem Brief, der gerade im Eimer gelandet war. Ich war dumm genug, mich hinzusetzen und ihn zu lesen. Nicht nur ihn, alle mit den gleichen unverkennbaren Schriftzügen glitten durch meine Finger. Solche Briefe erwecken fatalerweise die Dinge wieder zum Leben. Längst vergangene Hoffnungen, noch immer mit einem Hauch bitterer Süße, fesselten mich.

"Mein Schmetterling", klingt seine Stimme in meinem Ohr. "Ich hab dich total lieb." In meinem Bauch flattert es.
Er wohnt im vornehmen Teil meiner Heimatstadt. Dort stehen alte erhabene Villen. Sie hüten die Geheimnisse vieler Generationen. Alte Bäume säumen die Wege, gepflegte Gärten verstecken sich hinter Hecken und Zäunen. Eine kleine Kirche entsendet jeden Sonntag erneut mit ihren klaren Glockenklängen einen Gruß aus uralten Zeiten.
Wir sitzen den Anstandsabstand wahrend nebeneinander auf seiner Couch. Unsere Füße entspannen auf dem niedrigen Tisch. Ein fernes Bimmeln weht vom kleinen Bahnübergang herüber. Der kommende Zug rauscht summend vorüber ins Land der Träume. Hingerissen sehen wir dem Schauspiel der Gestirne zu. Mit glühenden Versprechungen für den nächsten Tag, küßt die Sonne den Abendhimmel. Verlegen errötet er langsam ob dieser Liebeserklärung. Rein und unberührt blinkt in diesem feurigen Schein die weiße Schneedecke im Garten. Schützend birgt sie das schlafende Leben unter sich.
Angeregt von diesem Bild schleichen sich meine Füße millimeterweise zu seinen. Langsam, kaum merklich folgen seine Füße meinem Beispiel. Der Inhalt unserer Worte dringt nicht bis zu meinem Bewußtsein vor. Mein Verstand scheint in die Füße gerutscht zu sein. Immer dichter gleiten unsere Füße, ganz nah, während ich kaum wage in seine Augen zu sehen. Dafür beobachten uns tausend leuchtende Augen durchs Fenster. Warnend flunkern sie und gleichzeitig schauen sie gemeinsam und doch so fern voneinander sehnsüchtig dem zarten Herantasten zu. Zaghaft berühren zwei fremde Füße einander. Ein schauriges Wohlgefühl breitet sich prickelnd von meinen Füßen über den ganzen Körper aus. Meine Zehen schmiegen sich sanft an seinen Fuß. Diesen zärtlichen Kuß genießend, drückt er meinen. "Mehr!", scheint er zu flüstern. Durch meine Adern scheint nicht länger Blut sondern glühende Lava zu fließen. Eine Weile bin ich wie benommen, während die Füße unbekümmert weiterkuscheln. "Ich hab dich total lieb!", klingt es wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Damit ist auch der restliche Anstand überbrückt. Sanft legt er seinen Arm um mich und zieht mich liebevoll nah zu sich heran. Entrückt in eine Welt, schöner als alle Träume und Phantasien, sinkt mein Kopf auf seine Schulter. Lange und schweigend sitzen wir im wohligen Einvernehmen. Die Zeit steht still.

Ein Leben schien vergangen, als wir erwachten. Er begleitete mich nach Hause. Die Straßen waren leer. Die Häuser dunkel. Jeder vernünftige Mensch schlief, um in wenigen Stunden sein Tagewerk zu verrichten. Vor meiner Haustür dann: ein kurzer Abschied, ein flüchtiger Kuß. Ich stand da und sah ihn in die Dunkelheit entschwinden.
Wie ein Gespenst verfolgte mich diese Erinnerung - selbst heute noch - und die Angst vor der Zukunft auch.
 



 
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