Schnee zu Ostern

Schnee zu Ostern
In den Ecken lag noch der Schnee. Schmutzig grau kauerte er sich in den windgeschützten Ecken. Wenn ein Sonnenstrahl in diese dunklen Ecken fingerte, blitzten silbern kleine Kristalle auf. Sie mochte es nicht glauben, aber die Sonne weckte auch aus dem Schmutz noch ein Glänzen. Morgen ist Ostern. In dieser steinernen Straße, in dieser himmelsfernen Schlucht zwischen den ragenden Häusern sah sie noch nichts davon. Die wenigen Krokusse auf dem schmalen Dreieck des Parks waren hier vergessen.
Ostern, war das nicht Frühling, Leben in bunten Farben? Sie hätte so gerne ihre Hände ausgestreckt nach Leben, aber ihre Arme waren so steif und schwer, sie war so tot, so leichenstarr. Daß ihre Beine sie noch trugen, das konnte sie nicht gelten lassen. Sie bewegten keine lebendige Frau durch diese bedrängende Enge der Straßenklamm. Auf ihren kalten Füßen lastete lebloses Fleisch, nichts als lebloses Fleisch. Sie hastete durch diesen kalten Morgen und legte sich in immer neuen Anläufen zurecht, wer und was sie denn sei. Aber sie fand sich nicht bei allem Suchen und Mühen. Ihre Gedanken holperten und stolperten in engen, geschlossenen Kreisen. Sie war sich selbst abgestorben, das war sie.
Corinna hatte sie begraben. Jeden Tag hatten sie telefoniert. Sie brauchten einander, seit sie sich damals im Kindergarten begegnet waren. Corinna, die mit niemandem auch nur ein Wort sprach, seit ihre Mutter sie dort im fremden Zimmer ablieferte, weil sie jetzt Arbeit gefunden hatte, endlich wieder Arbeit. Corinna, die mit ihrem stählernen Willen jedem Versuch widerstand, dort zu leben, wo sie nicht heimisch werden wollte. Drei Jahre lang hatte sie es geschafft, nicht ein Wort zu irgend jemandem zu sagen. Auch mit ihr redete sie keine Silbe. Aber sie nahmen sich bei den Händen und wichen sich nicht von der Seite. Sie schaukelten zusammen, sie holten sich zusammen das Wasser für die Tuschfarben, sie tauschten ihre Frühstücksbrote und die Apfelhälften. In der Puppenecke legten sie gemeinsam ihre Kinder in die Karre, Corinna ganz schweigsam, und sie redete und redete. Sie brauchte jemanden, dem sie alles erzählen konnte, ihre Angst vor den starken und lauten Jungen, die ihr immer alles kaputt machten und dann so gemein lachen konnten, ihren Neid auf ihre großen Geschwister, die immer alles durften, was ihr verboten war, ihrem Haß auf die beutelige Spielhose, die sie unbedingt im Kindergarten tragen sollte.
Sie waren durch die Grundschule zusammen gegangen, hatten sich bei dem blöden Rechnen gegenseitig den Frust gestanden, später hatten sie sich beide die ersten Lippenstifte in der Parfümerie an der Ecke gekauft, sie probierten die ersten BH’s miteinander aus, und es machte nichts, daß die eine mehr hatte als die andere. Mit den Jungs im Park flirteten sie gemeinsam. Und als die Lehre sie trennte, gab es das Telefon. Jeden Tag. Aber nun gab es keinen An-schluß unter dieser Nummer. Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Wie sah sie nur aus, die schöne Corinna, mit ihrem kahlen Kopf! Und geholfen hatte das alles nicht. Dreiundzwanzig Jahre Jugend wurden vom Krebs zerfressen. In die tiefe Grube hatte sie eine Amaryllis geworfen. Eine weiße Blüte. Als sie auf den Sarg fiel, gab es häßliches Geräusch.
Als sie den aufgerissenen Brief in Nurmis Tasche fand, beneidete sie Corinna. Sie erkannte die Handschrift ihrer Schwester, sie kannte sie gut. Das ‚D‘ immer mit so einem eitlen Schnörkel. Und sie konnte sich nicht beherrschen, so wie damals, als sie zwei Tage vor Weihnachten am Schlafzimmerschrank ihrer Eltern den Schlüssel stecken sah. Sie mußte einfach die Tür aufmachen, und dann war der ganze Heilige Abend verdorben, weil man Freude und Überraschung so schwer simulieren kann, und sie mußte doch so tun, als wäre das Skateboard ein ganz unverhofftes Geschenk. Nie wieder wollte sie ihrer Neugier folgen, das brachte nichts Gutes. Aber diesen Brief mußte sie lesen. Außerdem war er ja schon geöffnet, da gilt das Briefgeheimnis nicht mehr, oder? Und dann schoß ihr die Röte ins Gesicht ob der Schamlosigkeit ihrer Schwester. Sie hätte sich nie getraut, in einem Liebesbrief so ins Detail zu gehen. Das also machte Nurmi, wenn er angeblich mit seiner Band probte. Deswegen sollte sie das Kind nicht haben, und es erschien ihr in schmerzhaften Alpträumen immer noch, nach zwei Jahren immer noch. So lange ging es schon zwischen den beiden, der Brief war ein Jubiläumsglückwunsch. Sie hatte, noch bevor er von der Probe zurückkam, die große Reisetasche vom Schrank im Schlafzimmer geholt, ohne das Bett der Lüge eines Blickes zu würdigen, sie stopfte ihre Wäsche, die Hosen und die Pullover hinein, warum hatte sie nur die Armanihose vergessen, das tat ihr immer noch leid, aber die lag bei der Wäsche zwischen seinen verdammten Jeans, die sie ihm noch waschen wollte. Und dann zog sie die Tür ins Schloß.
Jetzt, auf dem Wege von der Nachtschicht in ihr leeres Zimmer, sprang sie wieder der Schmerz an. Schneidend kalte Regentropfen stachen in ihr Gesicht. Vereinzelte Schneeflocken taumelten herunter. Da traf sie der blendende Strahl. Irgend jemand hatte dort ober ein Fenster geöffnet, in dem sich die Sonne spiegelte. Sofort standen sie wieder vor ihren Augen, die Osterausflüge, als ihr Vater noch lebte. Wochenlang hatte er vom Osterspaziergang geschwärmt, Ostereier muß man im Wald suchen, wie kann der Hase in die Stadt kommen, da muß er sich ja fürchten, überfahren zu werden mit seinem schweren Korb voller bunter Eier. Frühling wird jetzt, und man muß sehen, wie sich das Leben wieder durchsetzt. Und in der frühen Morgensonne fuhren sie los, aufgeregt und gespannt, und als das Auto über den Waldweg schwankte, trieb der Schnee gegen die Windschutzscheibe, und ihr Vater sagte das Wort, das Mama nicht hören mochte. Sie spürte ihre kalten Finger, wenn sie im Unterholz der noch kahlen Bäume die bunt leuchtenden Eier in ihren Korb sammelte.
Die Menschen machen sich ein falsches Bild von Ostern, plötzlich wußte sie es in deutlicher Schärfe. Alle die bunten Postkarten zu Ostern waren verlogen. Das springende Leben tapsiger Lämmer, die farbiger Fülle bunter Frühlingsblumen, das grelle Grün der Wiesen, diese Bilder eines immerwährenden Paradieses waren nicht echt. Niemand kann Ostern anknipsen wie eine Nachttischlampe. Das war Ostern: Leben aus welkem Laub, Schneeflocken und Regentropfen im dünnen Strahl der Frühlingssonne. Das war schon richtig: die stille lastende Trauer des Karfreitags und dann der Ostermorgen. Erst das Sterben ermöglicht Leben – sie hatte es nie verstanden, damals im Konfirmandenunterricht. Sie empfand den schmerzgekrümmten Leib am Kreuz immer nur als ein grausames Schreckensbild. Wie können Menschen nur andächtig werden bei so einem furchtbaren Anblick. Sie hätte immer nur wütend werden können vor diesem kalten Greuel. Nun erst verstand sie etwas von diesem ewigen Geheimnis. So tot, wie sie nun war, so ohne Vertrauen zu einem anderen Menschen, so bar jeder Hoffnung, so abgestorben jeder Zuversicht, so würde sie Ostern erleben können.
So tat sie an diesem Morgen noch dreierlei. Im Blumengeschäft kaufte sie sich drei Krokusse für ihre Fensterbank. Im Kaufhof leistete sie sich eine Thermoskanne für den Kaffee am Ostermorgen. Und dann rief sie Karin an, die dicke Karin mit den immer traurigen Augen, und lud sie ein zum Osterausflug. Noch nie hatte Karins Stimme so fröhlich geklungen wie bei der Verabredung zum nächsten Morgen um sechs.
 
@ Rudolf Wolter

Ich würde den Text zur leichteren Lesbarkeit stärker in Absätze (Sinnabschnitte) unterteilen.

Inhaltlich wird anhand der Vier-Jahreszeiten-Natur und dem Alltag von Menschen das Osterwunder geschildert. Es dürfte dem Verfasser also darum gehen, diese religiöse Botschaft ins Alltägliche zu transportieren.

Der Text ist inhaltlich und sprachlich einwandfrei "hergestellt", und so kommt es bei mir allerdings auch an: als "hergestellt", als äußerlich, als quasi mühsam "produziert".
Es kommt nicht die Art von innerer Überzeugung des Autors herüber, die mich als Leser begeistern könnte. Der Text "ist" trocken, und er verbleibt zum allergrößten Teil in einer depressiven, traurigen Atmosphäre von Dunkelheiten, die lediglich kontrastierend von wenigen, dann grellen Lichteinflüssen schlaglichtartig erhellt werden, wie ein Gemälde in dunklen Farben, in dem einige übermäßig helle Lichttupfen sitzen, die zwar blenden, aber nicht wärmen.

Wenn das Osterwunder, falls es denn ein Wunder sein soll, funktionieren soll, dann muss es auch zB in den Tropen funktionieren, wo es keinen Winter, Frühling usw. gibt, es muss Tag und Nacht funktionieren, im Fröhlichsein, in ekstatischer Freude und in tiefster Trauer, bei 60Grad unter null ebenso wie in Saunahitze. Es muss auch sogar im ganz schlichten Alltag arbeiten.
Und das heißt, und das stimmt mit seinem magischen Gehalt überein, es muss suggestiv sein und wirken, ein "Amulett".

Ein Wunder, das über die Ratio transportiert werden soll, kann nicht funktionieren. Und ein trauriger Alltag, der sich lediglich ein wenig erfröhlicht, weil aus losen Zusammenhängen heraus wieder mühsam Hoffnung geschöpft wird "für ein paar Meter Leben weiter", das ist kein Wunder, sondern lediglich ein Trostpflaster, dessen Wechsel-Notwendigkeit vorhersehbar ist.

Im religiösen Bild bleibend, ist Gottes Welt als komplett-seiend zu verstehen.
Das im Text geschilderte Wunder ist aber einseitig, indem es von Trauer zu Fröhlichkeit führt. "Hoffnung aus Angst und Verzweiflung" wäre sein Rezept.
Das Osterwunder aber greift viel tiefer, indem es Angst, Verzweiflung, usw. als Schimären von Unverstand behauptet. Man muss -nach dem Osterwunder- nicht mühsam den Weg aus diesen vermeintlichen Dunkelheiten heraus finden, sondern man muss begreifen, dass diese scheinbaren Dunkelheiten überhaupt nicht existieren, denn "vor dem Auge Gottes" ist alles licht und warm, und der Traurige lästert bereits Gott mit seiner Trauer, weil er damit beweist, dass er nichts wirklich verstanden hat.

"Ein Kind trägt die Welt, leicht und spielend, nicht ein muskelstarker Atlas schleppt sie mühsam und keuchend auf seinen Schultern", das wäre in etwa die Botschaft.

Und nicht nur kommt aus Dunkelheit Licht, sondern es kommt aus Licht auch Dunkelheiten. Aus Tod wird zwar Leben, aber aus Leben wird auch Tod. Alle diese scheinbar unvereinbaren Gegensätze fallen in der Osterbotschaft zusammen, denn es ist schlicht "Alles Eins", und nichts kann davon wirklich verschieden sein, oder abgespalten.
Immer, wenn man solches meint, dann ist bereits dieses Meinen oder Empfinden ein Anzeichen dafür, dass man nicht wirklich "verstanden" hat.
Vermeintliche Finsternisse sind nicht Gegensätze zu Gott, der alles umfasst, sondern lediglich größere Entfernungen von ihm.

Die ganze Welt singt ein "geheimes" Lied, und jeder kann es hören, wenn er nur Augen und Ohren aufsperrt, denn es ist auch in ihm selbst, und dieses Lied ist das eines immerwährenden Werdens. Nichts ist jemals fertig oder zu Ende, und deshalb steht hinter jedem Tod neues Sein, und hinter jedem Sein neuer Untergang.

"Die Sonne erzeugt auch aus schmutzigem Schneematsch helles Licht", wie im Text ausgedrückt, ist nicht diese Wahrheit, denn was "schmutzig" scheint, ist es gar nicht. Selbst der übelste Dreck dieser Welt, und davon gibt es ja übergenug, ist ja nur lediglich "Idee Gottes", also "bei ihm", "von ihm". Und, wenn das so ist, dann leuchtet der "Dreck" aber nicht erst in der Sonne, sondern aus sich selbst heraus, auch in finsterer Nacht.

Und sein Leuchten ist wie das So-Sein alles Seienden nichts anderes als ein ständiges, unablässiges Gebet.

( ...
Natürlich ist solche "Botschaft" nicht wirklich zu transportieren, wenn man von Menschenopfern und symbolischem Kannibalismus ausgeht, von dunklen, kalten Kirchen, in denen traurige Lieder gesungen werden, in denen es trockne Oblaten gibt und steriles Hantieren, statt dionysischer Fülle, und bei deren Verlassen man über saubere Friedhöfe wandelt, deren Sterilität den Tod bereits überwertig erscheinen lässt.
Eine Gesellschaft, die den Tod anonymisiert hat, lebt auch nur noch anonym, denn eines ohne das andere ist nicht zu haben. Nur wer den vollen Ernst des Todes plastisch begreift, der kann den ebenso vollen Ernst des Lebens begreifen.

Osterbotschaft heute, das wären helle, beheizte Kirchen mit der Bass-Architektur einer 2000-jährigen Geschichte, das wären billige Holzbänke im Kirchenschiff schnell aufgestellt, und den Altar beiseite gerückt in einen Winkel, denn die laute, fröhliche, chaotische Armenspeisung, dreckig, speckig mit allem Schmutz der Welt an den Holzbänken, dies wäre der Altar, an dem lebendiger Glaube stattzufinden hätte. Das wären die Toten, Tiere und Pflanzen, mit zum Mahl geladen, die Aufführung der Symphonie des Lebens in ihrer ganzen Breite. Das wären die Asylanten, Penner, Kranken und Migranten mitten daruntergesetzt bei jeder Messe. Und "Messe", das wären nicht Trauerlieder und tränenrührige, dümmliche Predigten, sondern die Verkündung der allumfassenden Freude durch ganz plastisches und gegenständliches, hemmungsloses Ausleben eben dieser Freude und damit ihr tatsächliches erleben-Können durch körperliches und mentales wirklich-Sattwerden, durch ein ekstatisches sich-Besaufen und sich-Vollfressen an diesem Gott. Es gibt nämlich keine "Freude", es sei denn, man lebt sie, und wo Freude ist, da ist immer auch Hoffnung.

Es brauchte keine Kirchenlieder und keine Bibeln, keinerlei alte Worte der Heiligen, denn all das ist tot und nur tot. Die Predigten, Weisheiten, Metaphorien für das Sein Gottes mitten in dieser Welt würden sich unter den Leuten ganz von selbst schreiben, immer wieder neu in ihrem miteinander-Tun, in 1000 Texten und Sprachen, und zwar in Worten und in Taten der Gegenwart. Gott ist nicht "von Gestern" und nicht von Übermorgen, sondern er ist gegenständlich immer präsent, plastisch gegenwärtig in jedem Augenblick (oder er ist überhaupt nicht),

denn, wo immer ein paar fröhlich zusammen sind, da ist ER auch mittendrin und feiert mit. Gott ist das Singen, das sich mühelos von selbst singt, wenn es gelebt wird.
... )

PS: Nicht falsch verstehen. Ich selbst bin unreligiös, sowas wie ein Agnostiker oder bestenfalls Pantheist. Und es ist ja irgendwie auch lächerlich, wenn ein Nichtchrist Christen sagen will, wie es eigentlich richtig ginge mit ihrem Geschäft. Wenn ich jedenfalls Bischof wäre, dann wären meine Kirchen voll, und ich müsste gerade in der heutigen Zeit anbauen, und das nicht nur zur Ostermesse.
 



 
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