Schneeatem und Sonnenwende

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para_dalis

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Schneeatem und Sonnenwende

Die Straße ist ebenso holprig wie damals.
Keinen Abend kam sie mit heilen Knien nach Hause. Schuld waren die Schlaglöcher und das alte Rad des Bruders. Das ist nun schon Jahrzehnte her und Esther kann nicht einmal genau sagen, was der eigentliche Grund für den Besuch ihres alten Heimatdorfes ist. Vor mehr als dreißig Jahren war sie glücklich, dass sie dem Dorf und den Bewohnern den Rücken kehren konnte.
Die Bewohner des Dorfes waren ihr immer ein wenig unheimlich, als Mädchen schon, und selbst jetzt, als erwachsene Frau beschleicht sie ein ungutes Gefühl, als sie die noch immer von den inzwischen alt gewordenen Menschen bewohnten Häuser erblickt. Sie fährt die Straße entlang und von beiden Seiten strecken sich ihr zartgliedrige, weiße Finger entgegen.
Es liegt Reif. Der Winter hält auch in dem kleinen Dörfchen Einzug. Esther fährt nur Schritttempo, überlegt, ob sie zu Fuß weiter geht. Sie stellt ihren Wagen am ehemaligen Dorfkonsum ab. Das Haus verfällt. Es war nicht immer ein Dorfkonsum. Esther lernte erste Buchstaben, erste Worte, als das Haus weniger dem Erwerb von Lebensmittel diente, sondern den Wissensdurst neugieriger Erstklässler stillte. Zur Toilette musste man über den Hof. Im Winter rannte man vor Kälte und im Sommer, um dort schnell wieder weg zu kommen. Das Örtchen war ein Versammlungsort von Ungeziefer und man hielt es vor Gestank kaum aus.
Es war einfach nur widerlich, den Abort zu benutzen und man rannte eben, weil der Drang nach Erleichterung unerträglich wurde und man rennen musste.
Eine Frau im dicken Pelz und leicht schwankendem Gang nähert sich ihr. Sie sieht aus wie ein dicker Braunbär, schmunzelt Esther. Wie ein Bär, dem der eigene Pelz zu schwer ist. Und ein wenig wie ein Seemann, mit ihrem wiegenden Gang.
Esther kennt die Frau nicht. Es muss eine Zugezogene sein. Sorgfältig streift sich Esther wollene Handschuhe über ihre kalten Finger, zieht sich die Mütze tiefer ins Gesicht und schlingt um ihren Hals einen warmen Schal. Sie streift die Pumps von den Füßen und bindet ihre derben Schuhe. Gut, dass ich daran gedacht habe, denkt sie. Die Wege jenseits der Straße werden nicht besser geworden sein mit den Jahren. Mit einem merkwürdigen Gefühl zwischen Freude und Angst schließt sie ihren Wagen, nimmt ihre Tasche, wirft sie über die Schulter und macht sich auf den Weg. Alte Pfade will sie gehen. Alte Erinnerungen herauf beschwören? Ungute Erinnerungen ablegen?
Die Frau im dicken Pelz ist im Nebel verschwunden, der sich plötzlich wie eine Vorahnung über das Dorf legt. Es ist heller Tag und dennoch scheint es, als ob die Nacht erste Zeichen schickt. Esthers Schritt verlangsamt sich, als sie sich dem Haus des Eigenbrötlers nähert. "Hansi, Hansi!" hört sie die Kinderschreie im Ohr. "Hansi hat den Arm verloren, Hansi hat den Arm verloren!" summt es in ihrem Kopf.
Hansi, Esther kennt bis heute nicht seinen genauen Namen, ängstigte nicht nur die Kinder im Dorf. Hansi spinnt, sagten die Erwachsenen, wenn sie im Dorfkrug ihr Bierchen tranken. Vor Hansi muss man sich in Acht nehmen. Hansi hätte einmal zu tief ins Glas geschaut, erzählten sich die Leute hinter vorgehaltener Hand. Ein Häcksler trennte ihm den Arm vom Leib.
Schaute er der Dorfschönen nach, als sein Arm in den Häcksler geriet? Das ist nicht geklärt, es ist so vieles nicht geklärt. Wenn sie Hansi hänselten, wedelte er mit seinem Stumpf. Glatt war der Stumpf und vorn zugenäht, nein, er wirkte eher wie mit nachlässigen Stichen zugezogen. Und Hansi bekam diesen traurigen Blick aus seinen schwarzen Augen. Die Brauen zogen sich zusammen und sein Mund wurde schmal. Die Augen blickten traurig und der Stumpf hing an seiner rechten Körperhälfte.
Einmal lugten sie und ihre Freunde neugierig durch ein Fenster von Hansis Behausung. Hansi stand vor einem großen, mannshohen Spiegel und bemühte sich mit der linken Hand, der einen, die ihm geblieben war, die Knöpfe seiner längst verschlissenen und zu klein gewordenen Uniform zu schließen. Hansi war damals, noch zweiarmig, Zugbegleiter und in unserer Fantasie verlor er so manches Mal seinen Arm auf den Schienen. Er war nicht einfach in den Häcksler gekommen.
Vielleicht hatte er ja ebenso wie wir Pfennige auf die Schienen gelegt, um sie von den darüber hinweg brausenden Zügen platt zu drücken. Vielleicht hatte er den herannahenden Zug nicht gehört und dieser fuhr ihm dann den Arm ab. Und Hansi schleppte sich blutend zum nächsten Gehöft. In unserer Fantasie war alles möglich. Oder Hansi rettete einem kleinen Hündchen das Leben, das sich zwischen den Schwellen verklemmte und bekam dabei seinen Arm nicht frei, als der Zug nahte. Vielleicht wollte Hansi auch der Dorfschönen einen in voller Blüte stehenden Kirschzweig brechen und übersah bei seiner Mutprobe den Baum, welcher ihm den Arm abriss, als er sich aus dem Zugfenster lehnte. Wer weiß das schon. Ich werde Hansi danach fragen, denkt Esther. Er wird mir nichts tun, ich bin kein Kind mehr. Und sicher erkennt er mich nicht, es sind mehr als dreißig Jahre ins Land gezogen. Er wird nicht mehr wissen, dass ich mit am lautesten schrie. Damals war ich klein und rundlich, mit kurzgeschorenem Haar und Schorf an den Beinen. Ich wirkte immer wie ein Bengel. Ich werde ihn einfach fragen. Ich werde ihn fragen, wie er seinen Arm verlor.
Und Esther läutet an Hansis Tür.
Hans-Georg Münsterfeldt liest sie.
Seit wann hat er ein Schild an der Tür? Und Hans-Georg heißt er also.
Esther schellt erneut.
"Moment, Moment" tönt eine brummige Stimme.
"Ich komm ja schon, ich komm ja schon."
Schlurfende Schritte nähern sich.
Hansi muss inzwischen weit über siebzig sein, denkt Esther. Wir waren zu dieser Zeit sechs oder sieben, Hansi wohl an die vierzig. Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein grauer Kopf mit buschigen Augenbrauen, die Haut faltig und voller Altersflecken, erscheint im Türrahmen. Ein kleiner, krumm gewordener alter Mann sieht Esther an. Er muss geschrumpft sein, denkt sie, er war ein Hüne, damals...
"Gut, dass du kommst, Esther," sagt Hans-Georg Münsterfeldt. "Ich habe schon auf dich gewartet."
Hansi öffnet einladend die Tür. "Ich gieße uns einen Tee auf, vielleicht magst du dich inzwischen setzen?"
"Woher wussten Sie, dass ich den Weg zu Ihnen finde?" entgegnet Esther.
"Mein Kind, manche Dinge weiß man einfach."
Und Hans-Georg schlurft müden Schrittes in eine Richtung, in der Esther die Küche vermutet. Das Pfeifen des Teekessels reißt sie aus ihren Gedanken. Dampfend und wohlriechend steht der Tee auf dem kleinen Tisch neben dem Spiegel, indem sie damals Hansi beobachteten.
"Ja, Esther. Ich bemerkte wohl, dass ihr mir zugeschaut habt, als ich mühsam meine Uniform schloss." Hört sie die Stimme Hans-Georgs.
"Und ich spürte auch, selbst durch die Scheibe meines Fensters, dass du mir gern behilflich gewesen wärst. Als einzige dieser schreienden, plärrenden Quälgeister."
Esther schaut beschämt zu Boden. Sie hatte den Mut nicht und schrie im Chor mit den anderen Kindern.
"Glaube nicht, mir sei entgangen, was über mich gesprochen wurde. Die Gerüchte drangen auch zu mir." Leise wiegt Hansi seinen Kopf von rechts nach links und links nach rechts. Tick Tack, Tick Tack, wie ein Uhrpendel, denkt Esther.
"Hin und Her Hin und Her, Hansis Arm ist nicht mehr schwer!" Noch so ein Singsang, der sich plötzlich als Erinnerung in Esthers Kopf festsetzt. Was waren wir grausam.
"Esther, Esther, ihr seid sehr grausam zu mir gewesen." Hans-Georg Münsterfeldt blickt Esther gerade in die Augen. Schwarze, leicht trübe, alte Männeraugen treffen auf strahlendes Blau. Ein Blau, indem sich Tränen des Bedauerns sammeln. "Du musst jetzt nicht weinen, Esther, ihr wusstet es nicht besser. Und - ich werde dir nun die Wahrheit erzählen. Die Wahrheit meines verlorenen Arms. Trink einen Schluck Tee, mein Kind. Er wird dich wärmen."
"Es war kurz nach meinem fünfunddreißigsten Geburtstag." Hans-Georg räuspert sich. "Verliebt war ich damals, in eine wunderschöne Frau. Lana hieß sie und sie war eine Aussiedlerin. Sie arbeitete hier in einer unserer Textilfabriken. Morgens stieg sie in den 5.32 Uhr Zug um auf Arbeit zu gelangen. Der 15.45 Uhr Zug brachte sie wieder in ihre Unterkunft. Täglich sah ich Lana und sie sah mich, doch mehr als ein verstohlenes Lächeln konnte ich ihr nie entlocken. Eines morgens hielt ich vergebens nach ihr Ausschau. Auch an den folgenden Tagen fuhr Lana nicht mit dem Frühzug und auch nicht einen Zug später. Sie fuhr bei keinem meiner Kollegen mit, die ich nach Lana fragte. Etwas Schlimmes war geschehen. Es konnte gar nicht anders sein. Ich machte mich also auf die Suche nach meiner einzigen großen Liebe. Ich musste sie finden. Ich lief durch die Straßen der Stadt und glaubte verrückt zu werden. Ich tauschte meinen Dienst, fuhr täglich mit einem anderen Zug und quälte all meine Kollegen mit Fragen. Keiner hatte Lana gesehen. Lana war und blieb verschwunden. Meine Suche begann im Frühjahr, der Zeit der tauben Nesseln, der Gänseblümchen im grünen Gras und der Ostermärsche. Viele Menschen kreuzten meinen Weg. Mit rudernden Armen, ja Esther, damals hatte ich noch zwei von diesen," und Hans-Georg wedelte mit seinem Stumpf vor Esthers Nase, "beschrieb ich Lanas Gestalt und versuchte mit meinen Worten ihre Schönheit sichtbar zu machen."
Esther lauscht gespannt, ihr Tee ist längst kalt, ihre Wangen sind von Rot überzogen. Ungeduldig mit den Füßen wippend wartet sie auf die Fortsetzung der Geschichte. "Ich fragte viele Menschen, ich bereiste viele Länder. Ich machte Bekanntschaft mit Lügnern, Hehlern und Betrügern. Mit Scharlatanen. Mit ehrlichen Menschen. Und ich lernte einen großen Dichter kennen. Er war Jude aus dem deutschsprachigen Raum Rumäniens. Seine Gedichte mag ich heute noch." Hans-Georg kramt in einer Schublade seiner alten Kommode und unter Stöhnen und Ächzen hält er Esther schließlich ein kleines Bändchen hin. "Die Niemandsrose" liest sie. Und den Namen des Dichters. Esther schließt die Augen und all die Familiengeschichten ihrer Großeltern stehen bildhaft vor ihr. Sie sieht die Stiefel in Höhe des Kopfes ihrer Mutter, die damals ein Kind war. Auch Mutter sprach oft davon. Später las las Mutter in einem Gedichtband. Lichtzwang. Auch daran kann sich Esther gut erinnern. "Also auch in Wien und Paris suchten sie nach ihrer Lana?" Beredtes Schweigen ist die Antwort.
"Weißt du, die Begegnung mit ihm, dem Dichter, war eindrucksvoll. Ich, ein einfacher Eisenbahner. Belesen zwar, doch aus einem winzigen Dorf, im Gespräch mit ihm. Der kurz danach von einer Brücke sprang. Und ertrank. Traurig. Traurig."
Und Hans-Georgs Kopf bewegt sich wieder im Takt eines imaginären Uhrenpendels. "Auf meiner Suche konnte er mir jedoch nicht behilflich sein. Lana fand ich auch nicht in Paris." Schweigen.
Hans-Georg ist in seinen Erinnerungen versunken. "Aber ihr Arm, Herr Münsterfeldt, wie verloren sie denn nun ihren Arm? Und fanden sie nun Lana?"
Esthers Ungeduld wächst. "Mein Arm... ich kann mich nicht erinnern. Eines morgens wachte ich an einem Bahndamm auf und der Arm war fort." Hansi sieht Esther schmunzelnd in die Augen.
"Du glaubst mir nicht. Du möchtest wie all die anderen eine Geschichte hören. Du möchtest die Wahrheit. Warum möchtest du die Wahrheit? Nutze deine Fantasie, mein Kind."
Esther erhebt sich und steht vor dem alten Mann mit dem Stumpf an der rechten Seite seines Körpers. Sie ist nicht schlüssig, ob sie verärgert oder belustigt sein soll.
"Setz dich, Esther, setz dich. Was hast du erwartet? Ich habe dir viel erzählt in dieser Stunde. Benutze deine Fantasie."
Herr Münsterfeldt wendet seinen Blick in Richtung Küche und ruft mit sanfter Stimme:
"Können wir bitte noch Tee haben?"
Die Tür öffnet sich. Eine schlanke, weißhaarige Frau bringt ein Tablett.
Herr Münsterfeldt legt mit einer zärtlichen Geste seine linke Hand auf die Wange der Frau.
"Danke Lana. Setz dich zu uns..."
(c)hh
 

Zefira

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Halle para_dalis,

danke für diese wunderbare Geschichte. Das ist wirklich rund und herrlich erzählt, verdient eine Höchstwertung.

Das einzige, was mir nicht so gefällt, ist der Titel; ich finde ihn ein bißchen zu blumig für einen Text, der Abgründe öffnet. Ich hätte etwas Schlichteres gewählt wie "Heimkehr" o.ä.

Nur so ein Gedanke ...
... ist trotzdem eine phantastische Geschichte.

lG, Zefira
 

majissa

Mitglied
Hallo para_dalis,

ich nutze ja auch meine Phantasie, habe aber bisher keine Erklärung für den Verlust des Armes parat. Es braucht aber auch keine Erklärung, denn deine Story kommt ohne sie aus. Mit dem ersten Teil, ungefähr bis zur Frage „Ungute Erinnerungen ablegen?“ wecktest du durch vage Andeutungen und unheimlich anmutende Kindheits-Flashbacks geschickt meine Neugier. Zeitweise dachte ich sogar an ein Kannibalendorf, was einerseits auf ein Zuviel an Phantasie auf Seiten des Lesers, andererseits auf dein erzählerisches Talent hindeutet. So hielt sich die Spannung bis zum Schluss und sogar noch darüber hinaus, weil ich immer noch über Münsterfeldts Arm nachdenke. Den Leser soweit zu bringen, dass er sich nach dem Ende noch etliche Gedanken macht, ist eine bemerkenswerte Leistung. Doch nicht nur nach dem Lesen, sondern auch währenddessen, ja, eigentlich durch den ganzen Text hindurch, hatte ich das Gefühl, mich hinter jedem Punkt, nach jedem Komma, auf eine Überraschung gefasst machen zu müssen. Du lässt viel Raum für Spekulationen und das machte die Geschichte äußerst lebendig. Der häufige Tempuswechsel und zuweilen auftretende Wortwiederholungen taten dem keinen Abbruch. Natürlich hätte man die äußere Form der bewegten Handlung anpassen, sprich, mehr Absätze einbauen können, aber das erachte ich hier nicht für notwendig, weil man die Szenen (Vergangenheit/Gegenwart) gut auseinanderhalten kann.

Kleinigkeiten:

„...und selbst jetzt, als erwachsene Frau beschleicht sie ein ungutes Gefühl, als sie die noch immer von den inzwischen alt gewordenen Menschen bewohnten Häuser erblickt. Sie fährt die Straße entlang und von beiden Seiten strecken sich ihr zartgliedrige, weiße Finger entgegen. Es liegt Reif.“

Das klingt, als würden sich Esther die Finger alter Menschen entgegenstrecken. Du meinst aber den Reif, oder? Ich frage hier nur dem Verständnis halber und nicht, weil mich eine evtl. Doppeldeutigkeit hier stören würde. Im Gegenteil – das ergäbe sogar ein starkes Bild.

„Sorgfältig streift sich Esther wollene Handschuhe über ihre kalten Finger, zieht sich die Mütze tiefer ins Gesicht und schlingt um ihren Hals einen warmen Schal. Sie streift die Pumps von den Füßen und bindet ihre derben Schuhe. Gut, dass ich daran gedacht habe, denkt sie.“

„...und schlingt einen warmen Schal um ihren Hals“, klingt besser. Wäre ich pedantisch, könnte ich noch anmerken, dass du auf „warm“ und „Hals“ verzichten könntest. Ein Schal ist ja für den Hals da und soll zudem noch wärmen. Also ist das eigentlich überflüssig. „...und bindet sich einen Schal um.“ reicht vollkommen. „...gedacht habe, denkt sie.“ könnte man durch „...gut, dass ich sie mitgenommen habe, denkt sie.“ ersetzen.

Liebe Grüße
Majissa
 

para_dalis

Mitglied
Hallo Zefira
Hallo majissa!
;-)

Vielen Dank für Eure Meinungen.
Ich werde nun ein wenig weiter "basteln".

"weiße Finger und Reif"
;-)
Ja, ich meine den Reif. Als ich die Bäume jedoch sah, fühlte ich mich wirklich an alte Finger, an alte, zartgliedrige Hände erinnert.
majissa, gut erkannt. ;-)

Ich wünsche Euch eine gute Woche,

viele Grüße
Heike
 



 
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