Schneeflocken

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chrissi

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Wieder eine lange Nacht vor mir. Ich sitze in meinem Zimmer und starre aus dem Fenster in die Dunkelheit. Vor wenigen Monaten noch war in diesem Zimmer Zweisamkeit, Gemeinsamkeit, Heiterkeit. Und heute ? Traurigkeit, Einsamkeit, Vergessenheit.

Vergessenheit ? Nein, dafür ist alles noch zu frisch. Und doch merke ich, dass es mir schwer fällt, Dein Gesicht vor meinem geistigen Auge zu rekonstruieren. Fast gerate ich dabei in Panik, als ich es trotzdem versuche. Wann werde ich realisieren, dass Du nicht mehr da bist ? Dass Du nie wieder da sein wirst ? NIE WIEDER....darum kreisen all meine Gedanken. Über den Tod spricht man nicht, jedenfalls nicht vorher. Glauben wir denn wirklich, wir müssen niemals sterben ? Doch, das müssen wir, die einen früher, die anderen später. Bei Dir war es früher und ich kann es nicht begreifen.

"Es war besser so", das sagen mir alle, als ob mich das jetzt trösten würde. Ich weiss, es war ein schwerer Unfall und ich weiss, nichts wäre je wieder so wie früher gewesen. Aber wenigstens warst Du noch da und ich konnte Dein Gesicht sehen. Du hast nur geschlafen und bist nicht wieder aufgewacht.

Nun wirst Du nie wieder aufwachen. Loslassen tut weh, doch ich muss es versuchen. Ich werde versuchen, mich an die vielen schönen Momente zu erinnern, die wir miteinander hatten. Und das waren weiss Gott verdammt viele Momente. Ich hätte am liebsten die Zeit angehalten, damit sie niemals vorbeigehen.

Und eins ist sicher, ich werde diese Momente bestimmt nicht vergessen. Ich habe sie fest eingeschlossen in meinem Herzen. Wann immer ich will, kann ich sie lebendig werden lassen, kann sie fühlen, mich an ihnen aufwärmen, wenn mir so kalt ist wie jetzt.

"Du musst damit fertigwerden", noch so ein schlauer Spruch. Mit Dir werde ich sicherlich niemals "fertigwerden". Und das will ich auch gar nicht.

"Du wirst eine neue Liebe kennenlernen" - das werde ich vielleicht, aber Du wirst für immer einen Platz in meiner Seele haben. Ganz allein für Dich. Ich bemerke, dass es draussen angefangen hat, zu schneien. Ganz sachte und leise fällt der Schnee zur Erde. Ich stehe auf und gehe langsam nach draussen auf den Balkon. Die Dunkelheit umfängt mich und hüllt mich ein. Ich schliesse meine Augen, breite meine Arme aus und wende mein Gesicht den Sternen zu. Dort oben bist Du. Kannst Du mich sehen ? Schaust Du gerade jetzt in diesem Moment auf mich herab und siehst zu, wie die Schneeflocken auf meiner Haut zu Wassertröpfchen schmelzen ?

Ich stelle mir vor, dass jede einzelne Schneeflocke von Dir kommt. Du sitzt dort oben und lässt sie auf mich herabfallen. Ich lächele und öffne meine Augen und ziehe meine Decke enger um meinen Körper.

Morgen ist ein neuer Tag ohne Dich, aber der Schnee wird weiter zur Erde fallen. Von Dir. Für mich. Nur für mich ganz allein. Und jede einzelne Schneeflocke wird mich an Dich erinnern und Du wirst bei mir sein.
 



 
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