Schneeschmelze (Eine Weihnachtsgeschichte)

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KultUrknall

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Der Schnee schmilzt vor dem Fenster. Das neue Jahr ist da und der Frühling zu früh dran. Was gestern noch weiß war, verschwimmt im grauen Matsch, fördert allmählich die Welt wieder zu Tage. Eigentlich hatte ich die Schmelze schon vor drei Tagen erwartet, als sie im Fernsehen davon geredet haben. Seitdem habe ich kein Auge mehr zugemacht. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte, aber die Nervosität kratzt mir ständig im Nacken. Eigentlich wusste ich, dass der Winter, der Schnee nicht ewig bleiben würde, aber irgendwie hatte ich es wohl gehofft.
Damit ist jetzt Schluss. Endgültig. Ich sollte aufstehen und etwas unternehmen. Weglaufen vielleicht, oder wenigstens Clarissa anrufen. Sie sollte mittlerweile nach Marokko übergesetzt haben. Kein Schnee mehr für Clarissa.
Dabei war es eigentlich alles ihre Schuld. Sie hat den Mann nachts im Wohnzimmer überrascht. Sie war es, die den Kerzenständer gepackt hat, den wir Ostern von meinen Eltern geschenkt bekommen haben. Sie hat ihn genommen und damit zugeschlagen. Einfach so. Mich hat sie erst wach gemacht, als alles vorbei war. Sie hätte ja keine Ahnung gehabt, es sei schließlich dunkel gewesen. Immerhin hätte es auch ein Einbrecher sein können, oder? Immer wieder hat sie das gesagt und dabei an ihren Haaren gekaut. Geweint hat sie gar nicht.
Wir haben ihn dann in den blutigen Teppich gewickelt, und in den Werkzeugschuppen gebracht, bevor die Kinder wach wurden. Eine Nacht später habe ich ihn bei den Radieschen vergraben, direkt neben dem Gartenzaun zur Strasse. In derselben Nacht ist der Schnee gekommen und uns hat alles unter sich begraben.
Jetzt sind Clarissa und der Schnee weg. Übrig bleibt das zugeschaufelte Loch, für alle sichtbar. Ich kann schon die Fragen der Nachbarn hören. Das Tuscheln. Die Mutmaßungen. Gerade bei dem Medienrummel, der nach jener Nacht losgebrochen ist. Alle haben nach ihm gesucht. Die Polizei. Die Zeitungen. Das Fernsehen. Überall die Bilder von ihm. Weinende Kinder. Clarissa ist kurz vor Neujahr gefahren, hat ihre Koffer gepackt und ist zum Flughafen. Als ich mit den Kindern von meiner Mutter zurückkam, war sie schon in der Luft. Kein Brief. Keine Erklärung. Eine Freundin hat mir dann gesagt, wo sie hin ist. Die Druckwelle dieser Winternacht hat sie weggespült.
Der Weg vor dem Haus ist schon ganz frei. Erstaunlich, wie schnell der Schnee verschwindet. In ein paar Stunden werden sie das Loch sehen und ich werde immer noch hier sitzen. Warum musste Clarissa damals auch wach werden? Warum unbedingt ins Wohnzimmer schleichen? Alles wäre noch wie früher, der Schnee könnte eilig schmelzen und Clarissa wäre dem Weihnachtsmann nie begegnet.
 
hi

Erst deine zweite Geschichte hier...
Nun gut. Fürs erste kann ich nur sagen - super Einfall, gut ausgearbeitet, schön geschrieben, nichts zu meckern!
Ausgesprochen unterhaltsam!!!
Freu mich schon auf mehr, bis bald

Markus
 

Andrea

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8 von 10 Punkten

Gefällt mir ausgesprochen gut; nur ganz am Anfang vielleicht ein bißchen viel Schneegeschmelze, und dann das Ende.. der allerletzte Teilsatz ist schön, aber die Fragen davor und wieder der Hinweis auf das eilige Schmelzen sind weniger gelungen. Da müßtest du ein klein wenig kürzen.
 



 
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