Anonym
Gast
Schrei
„Ich schwebe“ rief Annemarie dem Bild zu, das ihr aus dem dreieckigen Spiegel entgegen blickte, sich in den dreieckig geschliffenen Kanten zu Bruchstücken zerteilte.
„Dreidimensional zwischen dem Irgendwo, dem Irrealen meines Lebens, meiner Erinnerung und gleichzeitig in der Realität des Seins.“
Sie schaute sich näher an, runzelte die Stirn, streckte sich die Zunge raus, fing an unkontrolliert zu weinen. Wie Perlenstränge tropften die salzigen Tränen aus den Augen. Liefen zwischen Nase und den stark betonten Wangenknochen zu den Mundwinkeln, auf die Zunge, die versuchte sie aufzufangen.
Das Gesicht, länglich, mit grünen Augen, Schlupflidern, Falten, die dreireihig quer und tief über die Stirn verliefen, war trotz des Schocks das gleiche geblieben. Lediglich die Lippen schienen schmaler, verkniffener, blasser.
Nein, sie hatte sich äußerlich nicht verändert, gar nichts hatte sich geändert. Alles war geblieben, wie seit Lebzeiten. Warum nur war dieser Verdacht, sie wäre ein anderer Mensch geworden, über sie hereingebrochen.
Schon immer waren Träume, Irrealitäten und Fata Morganen Richtschnüre ihres Lebens gewesen. Schon immer war sie in die Einöden einer mitleidslosen Zwischenmenschlichkeit gestoßen worden. Hatte um das Überleben gekämpft, kämpfen müssen.
Ab und zu landete sie in irgendwelchen Oasen. Immer mit dem Wissen, daß diese sehr schnell versandeten, nur Zwischenstationen waren.
Manchmal, nur ganz selten gestattete sich Annemarie ein Gefühl der Wut. Dann, wenn sie zum Bersten angespannt, vor einer Kurzschlußhandlung steht, meint, eine begehen zu können. Fast wie jetzt, als sich ihr Spiegelbild als Gegenüber zu Wort meldet. Ein Anblick der ihr vertraut ist und vor dem sie doch die Augen schließt. Nein, nicht schon wieder, nicht schon wieder dieser Schrei, der..., Angst kriecht spinnenbeinig, über ihren Rücken.
Und da ist er schon. Gespenstisch, wie ein Riesengnom wird er in ihr lebendig, vollführt sich selbst. Lebt auf, wird gewaltig, gewalttätig, wird unerträglich.
Lippen bewegen sich. Eine Zunge hüpft in der Mundhöhle, Töne verlieren ihren Klang im Rachen. Werden zu einem Schrei, der die Luft zurückdrängt, dem Ersticken Platz macht. Ein Schrei, der explodiert, nur in sich hörbar ist. Schrill und laut. Das Trommelfell vibriert unter seinen Schallwellen. Sie krallen sich in den Gehirnwindungen fest. Ein Schrei, der endlos ist, sich immer wieder neu gebärt, immer wieder. Eine Schreispirale, eine Wendel, die sich in unendlichen Höhen verliert und wieder herabstürzt, schneller und schneller.
Annemarie spürt, wie ihr Gesicht grau wird, sich verfaltet, plötzlich um Jahre altert. Spürt, wie die Wirklichkeit zu einer Maske des Grauens wird. Ihre Hände krallen sich um die Ohren. Verzweifelt schnickt sie den Kopf hin und her. Aber der Schrei tönt fort. Immer und immer wieder, immer und immer länger. Schriller! Innen, ganz tief innen. Als hielte sie ihn durch ihre Hände in sich gefangen. Grauen überfällt sie. Zittern. Alles was gewesen war ist fort, weggewischt. Nur der Schrei lebt, ist unsterblich.
Doch plötzlich, mitten in der Atemlosigkeit, der ungezügelten Angst, steht ein Bild vor ihren Augen. Ein Kind auf einer Wiese, einem bunten Ball nachspringend. Lachend, hüpfend, jauchzend. Und wieder ist da ein Spiegelbild. Diesmal ohne Spiegel. Vielleicht ein Wasserloch, ein Tautropfen, ein See. Annemarie erkennt sich. Lange Arme, knochige Knie über wadenlosen staksigen Beinen. Lange Haare, die sich auf die Wogen des Windes legen, den Sonnenstrahlen zur Konkurrenz. Sie spürt Leben, unbändiges, glücklich erfülltes Leben. Lachen bis in die Nervenspitzen hinein. Ein Herz das klopft, sichtbar in pulsierenden Adern.
Sie schreit ihr kindliches Glück heraus. Und der Schrei wirbelt, verwirbelt. Holt sich wieder und wieder ein Echo, im Raum des Alls, einer glücklichen Tagwelt.
Dann ist da wieder der Schrei. Der Urschrei der Angst, der sie erstickt. Doch er gönnt ihr einen kleinen, kurzen Atemzug, bevor er sich erneuert.
Im Spielraum dieses Atemzugs wird sie erinnerungsträchtig zur Frau. Während ein totaler, krampfartiger Schmerz sich über sie legt, weiß sie um neues Leben. Alles ist Vergangenheit, wenn sich diese Woge der Empfindungen über sie ergießt. Alles wird Lust, zu kleinen, spitzen Schreien, die aus ihr herausquellen. Annemarie hält sich fest, krampft ihre Hände in das Muskelfleisch ihres Gegenübers, verschließt ihren Mund am Leib des geliebten Menschen.
Der Schrei in den Dimensionen ihres Menschseins wird sie nie verlassen. Er wird sich einnisten, versinken und kommen, wann er will. Wird ihr zugehörig, Teil von ihr.
Bis dahin ...
„Ich schwebe“ rief Annemarie dem Bild zu, das ihr aus dem dreieckigen Spiegel entgegen blickte, sich in den dreieckig geschliffenen Kanten zu Bruchstücken zerteilte.
„Dreidimensional zwischen dem Irgendwo, dem Irrealen meines Lebens, meiner Erinnerung und gleichzeitig in der Realität des Seins.“
Sie schaute sich näher an, runzelte die Stirn, streckte sich die Zunge raus, fing an unkontrolliert zu weinen. Wie Perlenstränge tropften die salzigen Tränen aus den Augen. Liefen zwischen Nase und den stark betonten Wangenknochen zu den Mundwinkeln, auf die Zunge, die versuchte sie aufzufangen.
Das Gesicht, länglich, mit grünen Augen, Schlupflidern, Falten, die dreireihig quer und tief über die Stirn verliefen, war trotz des Schocks das gleiche geblieben. Lediglich die Lippen schienen schmaler, verkniffener, blasser.
Nein, sie hatte sich äußerlich nicht verändert, gar nichts hatte sich geändert. Alles war geblieben, wie seit Lebzeiten. Warum nur war dieser Verdacht, sie wäre ein anderer Mensch geworden, über sie hereingebrochen.
Schon immer waren Träume, Irrealitäten und Fata Morganen Richtschnüre ihres Lebens gewesen. Schon immer war sie in die Einöden einer mitleidslosen Zwischenmenschlichkeit gestoßen worden. Hatte um das Überleben gekämpft, kämpfen müssen.
Ab und zu landete sie in irgendwelchen Oasen. Immer mit dem Wissen, daß diese sehr schnell versandeten, nur Zwischenstationen waren.
Manchmal, nur ganz selten gestattete sich Annemarie ein Gefühl der Wut. Dann, wenn sie zum Bersten angespannt, vor einer Kurzschlußhandlung steht, meint, eine begehen zu können. Fast wie jetzt, als sich ihr Spiegelbild als Gegenüber zu Wort meldet. Ein Anblick der ihr vertraut ist und vor dem sie doch die Augen schließt. Nein, nicht schon wieder, nicht schon wieder dieser Schrei, der..., Angst kriecht spinnenbeinig, über ihren Rücken.
Und da ist er schon. Gespenstisch, wie ein Riesengnom wird er in ihr lebendig, vollführt sich selbst. Lebt auf, wird gewaltig, gewalttätig, wird unerträglich.
Lippen bewegen sich. Eine Zunge hüpft in der Mundhöhle, Töne verlieren ihren Klang im Rachen. Werden zu einem Schrei, der die Luft zurückdrängt, dem Ersticken Platz macht. Ein Schrei, der explodiert, nur in sich hörbar ist. Schrill und laut. Das Trommelfell vibriert unter seinen Schallwellen. Sie krallen sich in den Gehirnwindungen fest. Ein Schrei, der endlos ist, sich immer wieder neu gebärt, immer wieder. Eine Schreispirale, eine Wendel, die sich in unendlichen Höhen verliert und wieder herabstürzt, schneller und schneller.
Annemarie spürt, wie ihr Gesicht grau wird, sich verfaltet, plötzlich um Jahre altert. Spürt, wie die Wirklichkeit zu einer Maske des Grauens wird. Ihre Hände krallen sich um die Ohren. Verzweifelt schnickt sie den Kopf hin und her. Aber der Schrei tönt fort. Immer und immer wieder, immer und immer länger. Schriller! Innen, ganz tief innen. Als hielte sie ihn durch ihre Hände in sich gefangen. Grauen überfällt sie. Zittern. Alles was gewesen war ist fort, weggewischt. Nur der Schrei lebt, ist unsterblich.
Doch plötzlich, mitten in der Atemlosigkeit, der ungezügelten Angst, steht ein Bild vor ihren Augen. Ein Kind auf einer Wiese, einem bunten Ball nachspringend. Lachend, hüpfend, jauchzend. Und wieder ist da ein Spiegelbild. Diesmal ohne Spiegel. Vielleicht ein Wasserloch, ein Tautropfen, ein See. Annemarie erkennt sich. Lange Arme, knochige Knie über wadenlosen staksigen Beinen. Lange Haare, die sich auf die Wogen des Windes legen, den Sonnenstrahlen zur Konkurrenz. Sie spürt Leben, unbändiges, glücklich erfülltes Leben. Lachen bis in die Nervenspitzen hinein. Ein Herz das klopft, sichtbar in pulsierenden Adern.
Sie schreit ihr kindliches Glück heraus. Und der Schrei wirbelt, verwirbelt. Holt sich wieder und wieder ein Echo, im Raum des Alls, einer glücklichen Tagwelt.
Dann ist da wieder der Schrei. Der Urschrei der Angst, der sie erstickt. Doch er gönnt ihr einen kleinen, kurzen Atemzug, bevor er sich erneuert.
Im Spielraum dieses Atemzugs wird sie erinnerungsträchtig zur Frau. Während ein totaler, krampfartiger Schmerz sich über sie legt, weiß sie um neues Leben. Alles ist Vergangenheit, wenn sich diese Woge der Empfindungen über sie ergießt. Alles wird Lust, zu kleinen, spitzen Schreien, die aus ihr herausquellen. Annemarie hält sich fest, krampft ihre Hände in das Muskelfleisch ihres Gegenübers, verschließt ihren Mund am Leib des geliebten Menschen.
Der Schrei in den Dimensionen ihres Menschseins wird sie nie verlassen. Er wird sich einnisten, versinken und kommen, wann er will. Wird ihr zugehörig, Teil von ihr.
Bis dahin ...