Schrei im Vakuum
Ich höre die federnden Absätze Frau Dr. Rötels auf den Fließen, das Knirschen von Metall des sich drehenden Schlüssels. Das Klacken des ersten Riegels, das Klacken des zweiten.
Frau Dr. Rötels, schlank, mit fest zurückgebunden Haaren, kommt mit wehendem, weißen Kittel auf mich zu und quittiert meinen Blick mit einem sanften Druck auf die Schulter. Die menschliche Berührung tut gut, nach all den entbehrungsreichen Monaten hier in der Anstalt, in denen sie mich mehrmals täglich behandeln, wie sie es nennen.
Sie geben mir drei mal täglich Elektroschocks in anschwellenden, pulsierenden Dosen, Infusionen, Beruhigungsmittel und psychosensible Substanzen. Sie messen dabei meine Gehirnströme. An meinem kahl rasierten Schädel wimmelt es von Saugnäpfen, Kabeln und Dioden. Es juckt wie eine Kompanie Läuse. Doch ich kann mich nicht wehren, liege angeschnallt auf dem Rücken. Mit Licht- und Dunkeltherapie versuchen sie meine biologische Uhr zu manipulieren.
Die Medikamente erschweren es mir, meinen Körper zu verlassen. Sie packen mich in einen Ballen aus klebriger Watte.
Wie unter Wasser gepresst höre ich sie sprechen.
Sie reden von Schizophrenie, doch ich weiß, ich bin gesund!
Ich habe den Entschluss gefasst, diesem Zustand ein Ende zu setzen.
In halbwegs klaren Phasen denke ich über Fluchtmöglichkeiten nach.
Fr. Dr. Rötels ist mein Schlüssel dazu.
Ich rieche ihr blumiges Parfüm. Es schwappt über mich und verdrängt für Sekunden den Geruch von Desinfektionsmittel und Katheder.
Lächelt sie mich an?
Hastig lenkt sie ihren Blick über die Schulter auf den Aufseher und nickt ihm knapp zu. Worauf der sich umdreht und schweigend den Raum verlässt, ohne zu vergessen, die weiß lackierten Metalltüren wieder zu verriegeln.
Es fing alles harmlos an, damals - mit einer Anzeige.
"Menschen mit übersensibler Wahrnehmung für wissenschaftliche Studie gesucht. Aufwandsentschädigung!"
Die paar Kröten, die es dafür gab, konnte ich gut gebrauchen. Doch seitdem hatte ich sie am Hals.
Mein Name ist Benjamin Hillen und ich bin ein einfacher Mann.
Ich kann meinen Körper verlassen und in die Totenwelt reisen.
Nicht nur dort hin, auch in andere Himmel, die sich dahinter befinden und doch mitten unter uns sind.
Ich bin nicht verrückt, das weiß ich, obwohl sie mich in diese Zelle eingesperrt haben. Und nein, mit ihren Maschinen können sie nicht herausfinden, wie es funktioniert.
Ich glaube, sie haben Angst davor, dass es alle machen, bevor sie wissen, wie es geht. Deshalb sperren sie mich weg!
Es ist nicht besonders schwer in die anderen Welten zu gelangen und bedarf keiner besonderen Technik. Es braucht lediglich ein reines Herz. Ich kann es steuern. Es passiert fast wie von selbst. Ich liege einfach da und konzentriere mich auf meinen Atem. Im Frieden mit mir und der Welt warte ich auf das helle Flackern, welches dem Zucken eines Stroboskops unter meinen geschlossenen Liedern gleicht und das Austreten meines feinstofflichen Körpers ankündigt. Es zieht mich hinaus aus meinem Rumpf. Ich drehe mich zur Seite und bin draußen. Meist warte ich unter der Zimmerdecke, blicke noch einmal auf meinen sanft schlafenden Leib. Nun genügen einfache Gedanken und ich bin dort, wo ich sein möchte.
Es gibt unzählige Welten. Mein irdisches Leben wäre zu kurz, um alle zu schauen.
Oft bin ich in der Totenwelt unterwegs, der Welt, vor der sich viele Menschen so sehr fürchten. Städte, Wälder und Flüsse - alles ist dort in mattes Licht gehüllt.
Die Seelen, die sich in dieser Zone aufhalten, scheinen meiner Anwesenheit besonders zu bedürfen. Sie haben nicht bemerkt, dass sie gestorben sind, sondern hadern mit sich und ihrem Schicksal und vergessen darüber ihre eigentliche Herkunft. Stattdessen oszillieren sie als Geister in den Häusern und Versammlungsräumen ihrer Hinterbliebenen, lungern um die Lebenden, saugen von deren Energien und Gefühlen, spannen auf Toiletten und in den Betten der Liebenden und können doch nicht mehr daran teilhaben. Sie sind emotionale Junkies. Voller Selbstmitleid übersehen sie dabei die Tür zu den hellen Dimensionen dahinter. Ich blicke sie tief und voller Achtung an. Ich habe den Eindruck, in ihnen reift eine Veränderung.
Ich weiß, dass der feinstoffliche Austritt jedem Menschen möglich ist. Er ist ein natürlicher Vorgang aller menschlichen Geschöpfe. Allerdings nicht für Verblendete, die lieber saufen, Fleisch essen, lügen und betrügen. Heute weiß ich viel mehr. Es gibt Menschen und andere Wesen, die diese natürlichen Anlagen und ihre Verbreitung verhindern wollen. Sie versuchen die Begabung im Dunkeln des menschlichen Bewusstseins zu halten.
Sie schimpfen mich besessen.
In Wahrheit fürchten sie sich vor der Realität und davor, dass sie für all ihre Taten verantwortlich sind.
Deshalb sitze ich hier in dieser Anstalt.
Dr. Rötels und ich sind nun alleine.
Das Neonlicht legt sich über ihr spitzes Gesicht.
Ihr menschlicher Kern ist durchlässig, das spüre ich. Sie löst meine Fixierungsbänder an den Armen. Jetzt brennen die wunden Stellen darunter.
"Ich bewundere und bemitleide sie," sagt sie plötzlich.
"Ich möchte kein Mitleid", antworte ich schwach aber klar, "ich möchte ihr Mitgefühl."
Ich sehe sie an, fast scheu erwidert sie meinen Blick.
"Ich bitte sie, heute das Doxepin auszusetzen."
Sie presst die Lippen aneinander, so als müsse sie überlegen.
"Woher wissen Sie?"
"Sie haben mit Dr. Beringer darüber gesprochen."
Unsere Blicke verhaken sich kurz.
"Wir haben es nie in Ihrem Dabeisein erwähnt?"
"Damit - war ich tatsächlich nicht anwesend."
Ich hebe meine wunden Arme, soweit es die gelockerte Fixierung zulässt. Sie schaut auf die offenen Druckstellen, ihre strengen Gesichtszüge werden für einen Atemzug unklar.
Schnell fasst sie sich wieder, streift ihren Kittel glatt und hakt den Infusionsbeutel über dem Bett aus, um ihn in den Mülleimer zu werfen und einen frischen aus dem Wandschrank zu nehmen.
Während sie zu überlegen scheint, schlitzt sie mit dem spitzen, lackierten Daumennagel die Verpackungsfolie auf und pellt sie ab.
Sie stiert mich an, als vermute sie irgendwo tief in mir den feinstofflichen Körper. Ein Austritt gelingt jedoch damit schon seit Wochen nicht mehr, seit sie mich mit Medikamenten voll pumpen.
Sie hängt wortlos die Infusionsflasche auf und stellt die Dosierung nach. Sie zögert, nimmt das Desinfektionsspray, sprüht damit auf meine Druckstellen. Sie wird Doxepin spritzen.
Ich zucke zusammen, ziehe die Arme zurück und meinen Atem zischend ein. Stattdessen reibt sie eine Salbe auf die Wundstellen. Langsam klingt der Schmerz ab. Sanft drückt sie meine Arme zurück, zieht die Schnallen wieder an. Ich bin überrascht.
Fr. Dr. Rötels hämmert dreimal gegen die Metalltür. Der Schlüssel dreht sich, dann verlässt sie schweigend den Raum. Das Rumpeln der Riegel hallt in meinem Kopf nach. Das Licht geht aus. Ich liege in absoluter Schwärze. Sie hatte Mitgefühl mit mir!
Die sirupartige Dunkelheit fließt in mich hinein, ich tauche nach innen und gleite in einen schlafähnlichen Zustand ab. Ein Lichtpunkt erscheint in der Ferne, wächst und formt sich zu dem Umriss einer Person. Ich erkenne darin eine Frau mit Schürze und einem sorgsam gebundenen Dutt. Das Bild ist nun klar. Es ist Mutter. Sie schiebt dampfende Töpfe über den Herd und legt neue Holzscheite nach, damit das knisternde Feuer nicht erlischt. Vater kann ich auch sehen. Er zerhackt nebenan das frisch geschlachtete Schwein in große Stücke und kocht das Blut zu Metzelsuppe.
Plötzlich kann ich mich erinnern - bin vier Jahre alt, sitze in kurzer Latzhose auf der Küchenbank und spiele mit einem selbst geschnitzten Holzpferd.
Weil es mich interessiert, was Mutter so treibt, ist es mir ein natürliches, ganz nah heranzukommen, das kochende Wasser direkt von oben zu betrachten, obwohl ich doch gleichzeitig in der Ecke auf der Bank spiele. Es zischt und brodelt und die Würste reiben sich wie tanzende Aale.
Ich schwebe über den Töpfen, denke mir nichts dabei, denn ich kann auch einfach durch die Wand zu Vater in die Metzgerstube fliegen oder, wenn ich will, einfach in der Wand stecken bleiben und die Schichten und Hohlräume aus Holz, Ziegel und Putz betrachten. Ein Gedanke genügt und ich bin da. Ich bin mir noch unsicher, wie oder warum es geschieht, aber die Wirklichkeit des Erlebten bezweifele ich nicht mehr.
Jahre vergehen. Die Zeit bedeckt mein Herz, wie Unkraut ein sich selbst überlassenes Beet. Ich bin erwachsen und habe die Fähigkeit des Austritts verlernt. Der Krieg ist gerade vorüber und viele schöpfen neuen Mut mit dem Aufschwung der Wirtschaft. Auch ich bin sehr beschäftigt.
Schließlich sehe ich Emma. Blicke voller Ehrfurcht auf diese zarte Person, betrachte ihre funkelnden, dunklen Augen und die Sommersprossen auf ihren Schultern, die sie oft mit einem verschmitzten Lächeln unter ihren wallenden, braunen Haaren versteckt! Mein Traumkörper scheint augenblicklich zu zerfasern, so sehr pulsiert er.
Sie lächelt mich an! Ich möchte sie berühren, doch meine Hand greift ins Leere. Ich liebe sie und weiß um dieses Geschenk.
Da reißt es mich zurück, meine Seele schreit stumm in ein Vakuum, Emmas Umrisse flackern, bis sich auch noch das letzte Wölkchen auflöst.
Ich öffne die Augen, höre das Knistern elektronischer Überwachungsgeräte, bin wach. Ich strecke die Beine und Arme, stöhne leise auf und spüre wieder Knochen, Druckstellen und Wunden meines geschundenen Körpers.
Der Plan, den ich fasse, ist gefährlich. Das Risiko zu scheitern, den Kontakt zu meinem irdischen Körper dabei für immer zu verlieren und damit zu sterben, ist groß. Noch nie habe ich mich von meiner Physis so weit entfernt.
Um den Tod zu imitieren, so dass sie es glauben werden, muss ich bis an die Grenzen dieser Welt gehen, sie vielleicht sogar überschreiten.
Ob ich Emma jemals wieder sehen kann, weiß ich nicht.
Ein unermesslich starkes Gefühl innerer Verbundenheit wallt erneut in mir auf. Tränen füllen meine Augen, ich schluchze, schmecke Rotze. Ein pochendes, schmerzhaftes Zittern schüttelt mich und drückt als schwarzer Klumpen auf meine Mitte.
***
Patient 53 des 'Munich Engineering Anomalies Research Institut' kollabiert um 22.54 Uhr.
Sofort sind Dr. Rötels und ich als Leitender Chefarzt der Forschungsabteilung des Institutes für außersinnliche Wahrnehmung anwesend und leiten die Reanimation ein! Die Elektroschocks, die wir durch den Defi schicken, reißen den Brustkorb des Mannes fast auseinander. Doch er springt auch nach dem dritten Versuchen nicht an. Der Herzschlag bleibt auf Nulllinie. Gottverflucht, wir verlieren ihn!
Schweißnass bin ich unterm Kittel.
"20 mg Amiodaron! - Rötels! Verdammt, was ist los?"
Rötels starrt mit aufgerissenen Augen auf den Patienten. Was ist in sie gefahren?
"Rötels!", schreie ich.
Sie zuckt zusammen, stellt sich dämlich an und schaufelt Luft in die Spritze.
"Schnell, frisch aufziehen!", schreie ich. Sie vermasselt gerade die letzte Chance auf WB, bis sie endlich die Spritze setzt.
Kurz flackert die Linie auf dem Defibrillator auf, dann schnurrt bloß noch ein flacher Strich über den kleinen Monitor. Ich atme schwer, Rötels glotzt mich mit hochrotem Kopf an! Scheiße, wir haben ihn verloren. Die Arbeit eines halben Jahres ist futsch!
***
Krematorium Ulm im Auftrag des Militärforschungszentrums Süd, 7 Tage später.
Ich schaue von oben auf die mit grauen Tüchern bedeckten, fein säuberlich nebeneinander aufgebahrten Leichen. Ich komme von weit her, dort wo Zeit und Raum keine Rolle spielen, fühle mich matt und ausgelaugt. Doch ein unsichtbares Band hält mich noch immer an meinen grobstofflichen Leib.
Fünf Körper liegen da, meiner ist der zweite von links. Er ist nackt, hat eine Wunde am Bauch und eine am Schädel, die provisorisch zu geklammert wurden.
Ob ich die Schmerzen ertragen kann, wird sich gleich zeigen. Ich habe keine andere Wahl.
Ich spüre, wie mich mein Körper ansaugt und fahre hinein.
Mit einem Schlag bin ich drin. Luft, heiß wie Lava, strömt in die Lunge und verbrennt mein Ich. Das Herz lodert, es explodiert, ein nie da gewesener Schmerz macht mich rasend. Ich schreie, reiße das Tuch von mir, strample, die Augen zugepresst. Es ist jetzt nur Schmerz, sonst nichts.
Ich drücke mich von der Bahre ab.
Taumle. Knicke ein. Stürze zu Boden. Qual.
Ich nehme all meinen Glauben zusammen. Alles, was mir noch geblieben ist, nach meiner langen Reise: Meine Seele und die Liebe zu Emma!
Irgendwie erreiche ich die Tür, zerre am Griff. Sie lässt sich öffnen, Gott. Ich torkle hinaus. Taste mich den langen Gang entlang. Noch eine Tür. Die letzte schon?
Das unvorstellbar grelle Sonnenlicht verbrennt meine Augen.
Klare, frische Luft kühlt meinen entzündeten Körper. Ich laufe hinaus. Bin zu geblendet, um etwas zu sehen, geschweige denn mich umzublicken, zu vergewissern, ob sie folgen. Das einzige, was jetzt zählt ist meine Freiheit - und Emma!
Ich höre die federnden Absätze Frau Dr. Rötels auf den Fließen, das Knirschen von Metall des sich drehenden Schlüssels. Das Klacken des ersten Riegels, das Klacken des zweiten.
Frau Dr. Rötels, schlank, mit fest zurückgebunden Haaren, kommt mit wehendem, weißen Kittel auf mich zu und quittiert meinen Blick mit einem sanften Druck auf die Schulter. Die menschliche Berührung tut gut, nach all den entbehrungsreichen Monaten hier in der Anstalt, in denen sie mich mehrmals täglich behandeln, wie sie es nennen.
Sie geben mir drei mal täglich Elektroschocks in anschwellenden, pulsierenden Dosen, Infusionen, Beruhigungsmittel und psychosensible Substanzen. Sie messen dabei meine Gehirnströme. An meinem kahl rasierten Schädel wimmelt es von Saugnäpfen, Kabeln und Dioden. Es juckt wie eine Kompanie Läuse. Doch ich kann mich nicht wehren, liege angeschnallt auf dem Rücken. Mit Licht- und Dunkeltherapie versuchen sie meine biologische Uhr zu manipulieren.
Die Medikamente erschweren es mir, meinen Körper zu verlassen. Sie packen mich in einen Ballen aus klebriger Watte.
Wie unter Wasser gepresst höre ich sie sprechen.
Sie reden von Schizophrenie, doch ich weiß, ich bin gesund!
Ich habe den Entschluss gefasst, diesem Zustand ein Ende zu setzen.
In halbwegs klaren Phasen denke ich über Fluchtmöglichkeiten nach.
Fr. Dr. Rötels ist mein Schlüssel dazu.
Ich rieche ihr blumiges Parfüm. Es schwappt über mich und verdrängt für Sekunden den Geruch von Desinfektionsmittel und Katheder.
Lächelt sie mich an?
Hastig lenkt sie ihren Blick über die Schulter auf den Aufseher und nickt ihm knapp zu. Worauf der sich umdreht und schweigend den Raum verlässt, ohne zu vergessen, die weiß lackierten Metalltüren wieder zu verriegeln.
Es fing alles harmlos an, damals - mit einer Anzeige.
"Menschen mit übersensibler Wahrnehmung für wissenschaftliche Studie gesucht. Aufwandsentschädigung!"
Die paar Kröten, die es dafür gab, konnte ich gut gebrauchen. Doch seitdem hatte ich sie am Hals.
Mein Name ist Benjamin Hillen und ich bin ein einfacher Mann.
Ich kann meinen Körper verlassen und in die Totenwelt reisen.
Nicht nur dort hin, auch in andere Himmel, die sich dahinter befinden und doch mitten unter uns sind.
Ich bin nicht verrückt, das weiß ich, obwohl sie mich in diese Zelle eingesperrt haben. Und nein, mit ihren Maschinen können sie nicht herausfinden, wie es funktioniert.
Ich glaube, sie haben Angst davor, dass es alle machen, bevor sie wissen, wie es geht. Deshalb sperren sie mich weg!
Es ist nicht besonders schwer in die anderen Welten zu gelangen und bedarf keiner besonderen Technik. Es braucht lediglich ein reines Herz. Ich kann es steuern. Es passiert fast wie von selbst. Ich liege einfach da und konzentriere mich auf meinen Atem. Im Frieden mit mir und der Welt warte ich auf das helle Flackern, welches dem Zucken eines Stroboskops unter meinen geschlossenen Liedern gleicht und das Austreten meines feinstofflichen Körpers ankündigt. Es zieht mich hinaus aus meinem Rumpf. Ich drehe mich zur Seite und bin draußen. Meist warte ich unter der Zimmerdecke, blicke noch einmal auf meinen sanft schlafenden Leib. Nun genügen einfache Gedanken und ich bin dort, wo ich sein möchte.
Es gibt unzählige Welten. Mein irdisches Leben wäre zu kurz, um alle zu schauen.
Oft bin ich in der Totenwelt unterwegs, der Welt, vor der sich viele Menschen so sehr fürchten. Städte, Wälder und Flüsse - alles ist dort in mattes Licht gehüllt.
Die Seelen, die sich in dieser Zone aufhalten, scheinen meiner Anwesenheit besonders zu bedürfen. Sie haben nicht bemerkt, dass sie gestorben sind, sondern hadern mit sich und ihrem Schicksal und vergessen darüber ihre eigentliche Herkunft. Stattdessen oszillieren sie als Geister in den Häusern und Versammlungsräumen ihrer Hinterbliebenen, lungern um die Lebenden, saugen von deren Energien und Gefühlen, spannen auf Toiletten und in den Betten der Liebenden und können doch nicht mehr daran teilhaben. Sie sind emotionale Junkies. Voller Selbstmitleid übersehen sie dabei die Tür zu den hellen Dimensionen dahinter. Ich blicke sie tief und voller Achtung an. Ich habe den Eindruck, in ihnen reift eine Veränderung.
Ich weiß, dass der feinstoffliche Austritt jedem Menschen möglich ist. Er ist ein natürlicher Vorgang aller menschlichen Geschöpfe. Allerdings nicht für Verblendete, die lieber saufen, Fleisch essen, lügen und betrügen. Heute weiß ich viel mehr. Es gibt Menschen und andere Wesen, die diese natürlichen Anlagen und ihre Verbreitung verhindern wollen. Sie versuchen die Begabung im Dunkeln des menschlichen Bewusstseins zu halten.
Sie schimpfen mich besessen.
In Wahrheit fürchten sie sich vor der Realität und davor, dass sie für all ihre Taten verantwortlich sind.
Deshalb sitze ich hier in dieser Anstalt.
Dr. Rötels und ich sind nun alleine.
Das Neonlicht legt sich über ihr spitzes Gesicht.
Ihr menschlicher Kern ist durchlässig, das spüre ich. Sie löst meine Fixierungsbänder an den Armen. Jetzt brennen die wunden Stellen darunter.
"Ich bewundere und bemitleide sie," sagt sie plötzlich.
"Ich möchte kein Mitleid", antworte ich schwach aber klar, "ich möchte ihr Mitgefühl."
Ich sehe sie an, fast scheu erwidert sie meinen Blick.
"Ich bitte sie, heute das Doxepin auszusetzen."
Sie presst die Lippen aneinander, so als müsse sie überlegen.
"Woher wissen Sie?"
"Sie haben mit Dr. Beringer darüber gesprochen."
Unsere Blicke verhaken sich kurz.
"Wir haben es nie in Ihrem Dabeisein erwähnt?"
"Damit - war ich tatsächlich nicht anwesend."
Ich hebe meine wunden Arme, soweit es die gelockerte Fixierung zulässt. Sie schaut auf die offenen Druckstellen, ihre strengen Gesichtszüge werden für einen Atemzug unklar.
Schnell fasst sie sich wieder, streift ihren Kittel glatt und hakt den Infusionsbeutel über dem Bett aus, um ihn in den Mülleimer zu werfen und einen frischen aus dem Wandschrank zu nehmen.
Während sie zu überlegen scheint, schlitzt sie mit dem spitzen, lackierten Daumennagel die Verpackungsfolie auf und pellt sie ab.
Sie stiert mich an, als vermute sie irgendwo tief in mir den feinstofflichen Körper. Ein Austritt gelingt jedoch damit schon seit Wochen nicht mehr, seit sie mich mit Medikamenten voll pumpen.
Sie hängt wortlos die Infusionsflasche auf und stellt die Dosierung nach. Sie zögert, nimmt das Desinfektionsspray, sprüht damit auf meine Druckstellen. Sie wird Doxepin spritzen.
Ich zucke zusammen, ziehe die Arme zurück und meinen Atem zischend ein. Stattdessen reibt sie eine Salbe auf die Wundstellen. Langsam klingt der Schmerz ab. Sanft drückt sie meine Arme zurück, zieht die Schnallen wieder an. Ich bin überrascht.
Fr. Dr. Rötels hämmert dreimal gegen die Metalltür. Der Schlüssel dreht sich, dann verlässt sie schweigend den Raum. Das Rumpeln der Riegel hallt in meinem Kopf nach. Das Licht geht aus. Ich liege in absoluter Schwärze. Sie hatte Mitgefühl mit mir!
Die sirupartige Dunkelheit fließt in mich hinein, ich tauche nach innen und gleite in einen schlafähnlichen Zustand ab. Ein Lichtpunkt erscheint in der Ferne, wächst und formt sich zu dem Umriss einer Person. Ich erkenne darin eine Frau mit Schürze und einem sorgsam gebundenen Dutt. Das Bild ist nun klar. Es ist Mutter. Sie schiebt dampfende Töpfe über den Herd und legt neue Holzscheite nach, damit das knisternde Feuer nicht erlischt. Vater kann ich auch sehen. Er zerhackt nebenan das frisch geschlachtete Schwein in große Stücke und kocht das Blut zu Metzelsuppe.
Plötzlich kann ich mich erinnern - bin vier Jahre alt, sitze in kurzer Latzhose auf der Küchenbank und spiele mit einem selbst geschnitzten Holzpferd.
Weil es mich interessiert, was Mutter so treibt, ist es mir ein natürliches, ganz nah heranzukommen, das kochende Wasser direkt von oben zu betrachten, obwohl ich doch gleichzeitig in der Ecke auf der Bank spiele. Es zischt und brodelt und die Würste reiben sich wie tanzende Aale.
Ich schwebe über den Töpfen, denke mir nichts dabei, denn ich kann auch einfach durch die Wand zu Vater in die Metzgerstube fliegen oder, wenn ich will, einfach in der Wand stecken bleiben und die Schichten und Hohlräume aus Holz, Ziegel und Putz betrachten. Ein Gedanke genügt und ich bin da. Ich bin mir noch unsicher, wie oder warum es geschieht, aber die Wirklichkeit des Erlebten bezweifele ich nicht mehr.
Jahre vergehen. Die Zeit bedeckt mein Herz, wie Unkraut ein sich selbst überlassenes Beet. Ich bin erwachsen und habe die Fähigkeit des Austritts verlernt. Der Krieg ist gerade vorüber und viele schöpfen neuen Mut mit dem Aufschwung der Wirtschaft. Auch ich bin sehr beschäftigt.
Schließlich sehe ich Emma. Blicke voller Ehrfurcht auf diese zarte Person, betrachte ihre funkelnden, dunklen Augen und die Sommersprossen auf ihren Schultern, die sie oft mit einem verschmitzten Lächeln unter ihren wallenden, braunen Haaren versteckt! Mein Traumkörper scheint augenblicklich zu zerfasern, so sehr pulsiert er.
Sie lächelt mich an! Ich möchte sie berühren, doch meine Hand greift ins Leere. Ich liebe sie und weiß um dieses Geschenk.
Da reißt es mich zurück, meine Seele schreit stumm in ein Vakuum, Emmas Umrisse flackern, bis sich auch noch das letzte Wölkchen auflöst.
Ich öffne die Augen, höre das Knistern elektronischer Überwachungsgeräte, bin wach. Ich strecke die Beine und Arme, stöhne leise auf und spüre wieder Knochen, Druckstellen und Wunden meines geschundenen Körpers.
Der Plan, den ich fasse, ist gefährlich. Das Risiko zu scheitern, den Kontakt zu meinem irdischen Körper dabei für immer zu verlieren und damit zu sterben, ist groß. Noch nie habe ich mich von meiner Physis so weit entfernt.
Um den Tod zu imitieren, so dass sie es glauben werden, muss ich bis an die Grenzen dieser Welt gehen, sie vielleicht sogar überschreiten.
Ob ich Emma jemals wieder sehen kann, weiß ich nicht.
Ein unermesslich starkes Gefühl innerer Verbundenheit wallt erneut in mir auf. Tränen füllen meine Augen, ich schluchze, schmecke Rotze. Ein pochendes, schmerzhaftes Zittern schüttelt mich und drückt als schwarzer Klumpen auf meine Mitte.
***
Patient 53 des 'Munich Engineering Anomalies Research Institut' kollabiert um 22.54 Uhr.
Sofort sind Dr. Rötels und ich als Leitender Chefarzt der Forschungsabteilung des Institutes für außersinnliche Wahrnehmung anwesend und leiten die Reanimation ein! Die Elektroschocks, die wir durch den Defi schicken, reißen den Brustkorb des Mannes fast auseinander. Doch er springt auch nach dem dritten Versuchen nicht an. Der Herzschlag bleibt auf Nulllinie. Gottverflucht, wir verlieren ihn!
Schweißnass bin ich unterm Kittel.
"20 mg Amiodaron! - Rötels! Verdammt, was ist los?"
Rötels starrt mit aufgerissenen Augen auf den Patienten. Was ist in sie gefahren?
"Rötels!", schreie ich.
Sie zuckt zusammen, stellt sich dämlich an und schaufelt Luft in die Spritze.
"Schnell, frisch aufziehen!", schreie ich. Sie vermasselt gerade die letzte Chance auf WB, bis sie endlich die Spritze setzt.
Kurz flackert die Linie auf dem Defibrillator auf, dann schnurrt bloß noch ein flacher Strich über den kleinen Monitor. Ich atme schwer, Rötels glotzt mich mit hochrotem Kopf an! Scheiße, wir haben ihn verloren. Die Arbeit eines halben Jahres ist futsch!
***
Krematorium Ulm im Auftrag des Militärforschungszentrums Süd, 7 Tage später.
Ich schaue von oben auf die mit grauen Tüchern bedeckten, fein säuberlich nebeneinander aufgebahrten Leichen. Ich komme von weit her, dort wo Zeit und Raum keine Rolle spielen, fühle mich matt und ausgelaugt. Doch ein unsichtbares Band hält mich noch immer an meinen grobstofflichen Leib.
Fünf Körper liegen da, meiner ist der zweite von links. Er ist nackt, hat eine Wunde am Bauch und eine am Schädel, die provisorisch zu geklammert wurden.
Ob ich die Schmerzen ertragen kann, wird sich gleich zeigen. Ich habe keine andere Wahl.
Ich spüre, wie mich mein Körper ansaugt und fahre hinein.
Mit einem Schlag bin ich drin. Luft, heiß wie Lava, strömt in die Lunge und verbrennt mein Ich. Das Herz lodert, es explodiert, ein nie da gewesener Schmerz macht mich rasend. Ich schreie, reiße das Tuch von mir, strample, die Augen zugepresst. Es ist jetzt nur Schmerz, sonst nichts.
Ich drücke mich von der Bahre ab.
Taumle. Knicke ein. Stürze zu Boden. Qual.
Ich nehme all meinen Glauben zusammen. Alles, was mir noch geblieben ist, nach meiner langen Reise: Meine Seele und die Liebe zu Emma!
Irgendwie erreiche ich die Tür, zerre am Griff. Sie lässt sich öffnen, Gott. Ich torkle hinaus. Taste mich den langen Gang entlang. Noch eine Tür. Die letzte schon?
Das unvorstellbar grelle Sonnenlicht verbrennt meine Augen.
Klare, frische Luft kühlt meinen entzündeten Körper. Ich laufe hinaus. Bin zu geblendet, um etwas zu sehen, geschweige denn mich umzublicken, zu vergewissern, ob sie folgen. Das einzige, was jetzt zählt ist meine Freiheit - und Emma!