Schuld

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Fencheltee

Mitglied
Wenn du einmal vom süßen Wein der Bourgeoisie gekostet hast, dann willst du immer mehr davon. Wenn feiner Zwirn deinen satten Bauch wohlig wärmt, dann vergisst du die kalten Nächte am Feuer, in denen du kritische Weisen gesungen hast und ohnmächtig warst vor Wut über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde.

Du beginnst zu glauben, dass du ein akzeptiertes Mitglied der gehobenen Klasse des Bürgertums geworden bist und labst dich an den dir dargebotenen Leckereien. Zur Überheblichkeit verderbend lässt du dich vom Busen der Dekadenz stillen. Dem tristen Palaver schenkst du interessiert dein Ohr und dem schnöden Mammon singst du nun dein Lied. Die elitären Menschen dieser Garde sind begeistert davon, wie gut du das kannst.

Nur noch selten kommt Wehmut in dir auf, die dich für einen kleinen Augenblick lang in die ehemaligen Zeiten zurück verführt. Sie waren nicht nur hoffnungslos, sondern bargen auch viel Gutes. Das Zusammenspiel der damaligen Verhältnisse schuf etwas, dass mit solidarischer Aufbruchsstimmung bezeichnet werden kann. Niemand sang für sich allein. Sobald einer anhob gesellten sich die Kehlen der Gleichgesinnten hinzu, fingen dich auf und hüllten dich in einem Teppich aus aufmunternden Tönen. Es war ein vielseitiger Chor in dem jeder seinen kleinen und wichtigen Beitrag leistete. Niemand war überflüssig und man konnte nichts falsch machen. Jeder half jedem und nahm niemandem was krumm – zumindest fühlt es sich rückblickend so an. Aber du fühlst noch mehr. Überschwängliches Glück durchströmt dich in deiner Erinnerung. So stark, dass dir Tränen in die Augen schießen und du die Lippen aufeinander pressen musst. Du wolltest die Welt verändern und sie zusammen mit deinen Freunden zu einem besseren Ort machen. Die gemeinsame Sache stand im Vordergrund. Besser noch, die Gemeinsamkeit war die Sache. Sie war freundlich, friedlich, laut und voller Enthusiasmus. Die Menschen dieser Zeit wollten sie.

Heute ist alles anders. Du kannst allerdings nicht mehr beurteilen, ob besser oder schlechter. Blind vor dem Elend, das dich umgibt, bist du froh darüber, dass du dir die Hände nicht mehr schmutzig machen musst. Dabei befleckst du sie mit Schuld in jeder Sekunde, die du in diesem Leben lebst.
 
A

aligaga

Gast
Sorry, aber den löchrigen Schuh, mit dem du uns hier ankommen möchtest, musst du dir ganz allein selber anziehen.

Wer's tatsächlich geschafft hat, aus einfachen Verhältnissen nach "oben" zu kommen, und zwar nicht durch einen Lottogewinn, Betrug oder einen Raubmord, sondern durch Begabung, Mut und viel Fleiß, kann über den Schmarren, den du hier ablässt, nur lachen. Was du "Burgeoisie" schimpfst, heißt hierzulande "Mittelstand", und es ist genau der, der unseren Laden am Laufen und den Rubel am Rollen hält. Er zahlt die Steuern, ohne die unser Staat nichts wäre, und er leistet jede Menge Beiträge zum Gemeinwohl. Er kümmert sich um dein Gas, dein Wasser und deine Scheiße, sorgt für Brot, Butter, Milch und Fleisch, bringt deinen Kindern das Lesen und Schreiben bei und schneidet dir den Blinddarm heraus, wenn's pressiert.

Er macht die Musik, die du dir anhörst, dreht die Filme, die du guckst, und schreibt die Bücher und die Zeitungen, die du liest. Wenn dein Auto kaputt ist, repariert er's dir, und wenn du stirbst, bestattet er dich ordentlich, und ein Pfarrer segnet dich.

Das Dumme aus deiner Sicht ist, dass du das alles nicht umsonst bekommst, sondern auch einen Betrag zu leisten hast. Wenn du dafür zu faul, zu dumm oder zu krank bist, musst du gleichwohl nicht ins Gras beißen - das soziale Netz, das hauptsächlich von der von dir verachteten "Burgeoisie" geknüpft wird, kann dich auffangen und solange am Leben erhalten, wie du möchtest.

So schaut's aus, und nicht anders ...

Amüsiert

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Immerhin, dear Fencheltee, ist Dir und manchem der Unsrigen Damaligen aus jener Zeit die gewisse gruppenspezifische Laxheit geblieben. Die Nonchalance in Orthographie:
Das Zusammenspiel der damaligen Verhältnisse schuf etwas, dass mit solidarischer Aufbruchsstimmung bezeichnet werden kann. Niemand sang für sich allein.
. Das kann und sollte Trost sein, wenn auch nicht Trost genug?

Aber vielleicht liege ich auch gar nicht richtig und Du hast einen parodienahen Text auf nostalgiegetränkte Solidaritätserinnerungskultur- und Resignation geschrieben? Gewissen Formulierungen wie Zwirn und Busen deuten in diese Richtung.

grreetse
ww
 

Fencheltee

Mitglied
Wenn du einmal vom süßen Wein der Bourgeoisie gekostet hast, dann willst du immer mehr davon. Wenn feiner Zwirn deinen satten Bauch wohlig wärmt, dann vergisst du die kalten Nächte am Feuer, in denen du kritische Weisen gesungen hast und ohnmächtig warst vor Wut über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde.

Du beginnst zu glauben, dass du ein akzeptiertes Mitglied der gehobenen Klasse des Bürgertums geworden bist und labst dich an den dir dargebotenen Leckereien. Zur Überheblichkeit verderbend lässt du dich vom Busen der Dekadenz stillen. Dem tristen Palaver schenkst du interessiert dein Ohr und dem schnöden Mammon singst du nun dein Lied. Die elitären Menschen dieser Garde sind begeistert davon, wie gut du das kannst.

Nur noch selten kommt Wehmut in dir auf, die dich für einen kleinen Augenblick lang in die ehemaligen Zeiten zurück verführt. Sie waren nicht nur hoffnungslos, sondern bargen auch viel Gutes. Das Zusammenspiel der damaligen Verhältnisse schuf etwas, das mit solidarischer Aufbruchsstimmung bezeichnet werden kann. Niemand sang für sich allein. Sobald einer anhob gesellten sich die Kehlen der Gleichgesinnten hinzu, fingen dich auf und hüllten dich in einem Teppich aus aufmunternden Tönen. Es war ein vielseitiger Chor in dem jeder seinen kleinen und wichtigen Beitrag leistete. Niemand war überflüssig und man konnte nichts falsch machen. Jeder half jedem und nahm niemandem was krumm – zumindest fühlt es sich rückblickend so an. Aber du fühlst noch mehr. Überschwängliches Glück durchströmt dich in deiner Erinnerung. So stark, dass dir Tränen in die Augen schießen und du die Lippen aufeinander pressen musst. Du wolltest die Welt verändern und sie zusammen mit deinen Freunden zu einem besseren Ort machen. Die gemeinsame Sache stand im Vordergrund. Besser noch, die Gemeinsamkeit war die Sache. Sie war freundlich, friedlich, laut und voller Enthusiasmus. Die Menschen dieser Zeit wollten sie.

Heute ist alles anders. Du kannst allerdings nicht mehr beurteilen, ob besser oder schlechter. Blind vor dem Elend, das dich umgibt, bist du froh darüber, dass du dir die Hände nicht mehr schmutzig machen musst. Dabei befleckst du sie mit Schuld in jeder Sekunde, die du in diesem Leben lebst.
 

Fencheltee

Mitglied
Und als du dich am nächsten Morgen vor den Spiegel stellst, hat sich das Bild von dir nicht verändert. Auch können die nebulösen Irrungen der Mitternachtsphilosophen die Kraft der Worte in dir nicht schmälern. Alsdann verbeugst du dich vor deinem orthographisch versierten Publikum und überlässt es anderen das letzte Plädoyer zu sprechen.
 

ackermann

Mitglied
@Fencheltee, eine kleine Unsauberkeit ist mir aufgefallen:

Sobald einer anhob gesellten sich die Kehlen der Gleichgesinnten hinzu, fingen dich auf und hüllten dich [red]in einem Teppich[/red] aus aufmunternden Tönen.
Ansonsten ist mir dieser Text zu ideologisch. Und mit Ideologien will ich mich nicht auskennen. Never ever ...

Gruß, ackermann
 

Fencheltee

Mitglied
Wenn du einmal vom süßen Wein der Bourgeoisie gekostet hast, dann willst du immer mehr davon. Wenn feiner Zwirn deinen satten Bauch wohlig wärmt, dann vergisst du die kalten Nächte am Feuer, in denen du kritische Weisen gesungen hast und ohnmächtig warst vor Wut über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde.

Du beginnst zu glauben, dass du ein akzeptiertes Mitglied der gehobenen Klasse des Bürgertums geworden bist und labst dich an den dir dargebotenen Leckereien. Zur Überheblichkeit verderbend lässt du dich vom Busen der Dekadenz stillen. Dem tristen Palaver schenkst du interessiert dein Ohr und dem schnöden Mammon singst du nun dein Lied. Die elitären Menschen dieser Garde sind begeistert davon, wie gut du das kannst.

Nur noch selten kommt Wehmut in dir auf, die dich für einen kleinen Augenblick lang in die ehemaligen Zeiten zurück verführt. Sie waren nicht nur hoffnungslos, sondern bargen auch viel Gutes. Das Zusammenspiel der damaligen Verhältnisse schuf etwas, das mit solidarischer Aufbruchsstimmung bezeichnet werden kann. Niemand sang für sich allein. Sobald einer anhob gesellten sich die Kehlen der Gleichgesinnten hinzu, fingen dich auf und hüllten dich in einen Teppich aus aufmunternden Tönen. Es war ein vielseitiger Chor in dem jeder seinen kleinen und wichtigen Beitrag leistete. Niemand war überflüssig und man konnte nichts falsch machen. Jeder half jedem und nahm niemandem was krumm – zumindest fühlt es sich rückblickend so an. Aber du fühlst noch mehr. Überschwängliches Glück durchströmt dich in deiner Erinnerung. So stark, dass dir Tränen in die Augen schießen und du die Lippen aufeinander pressen musst. Du wolltest die Welt verändern und sie zusammen mit deinen Freunden zu einem besseren Ort machen. Die gemeinsame Sache stand im Vordergrund. Besser noch, die Gemeinsamkeit war die Sache. Sie war freundlich, friedlich, laut und voller Enthusiasmus. Die Menschen dieser Zeit wollten sie.

Heute ist alles anders. Du kannst allerdings nicht mehr beurteilen, ob besser oder schlechter. Blind vor dem Elend, das dich umgibt, bist du froh darüber, dass du dir die Hände nicht mehr schmutzig machen musst. Dabei befleckst du sie mit Schuld in jeder Sekunde, die du in diesem Leben lebst.
 

ackermann

Mitglied
Jetzt ist mir doch tatsächlich noch was ins Auge gestochen. Für mich die Wurzel allen ideologischen Übels:

Du wolltest Welt verändern und sie zusammen mit deinen Freunden zu einem besseren Ort machen. [red]Die gemeinsame Sache stand im Vordergrund. Besser noch, die Gemeinsamkeit war die Sache.[/red]
Ein sehr schöner Satz, gewissermaßen der Offenbarungseid des Protagonisten. Es ging ihm (dem Proto) nicht um Sinn oder Unsinn, letztendlich war ihm egal, wofür er kämpfte. Die Gemeinsamkeit, das Rudel, die Gleichgesinnten, DAS LAGERFEUER war ihm wichtig. Und das Gefühl, das Richtige zu tun. Aber Gefühle sind eben Gefühle. Und sonst nichts. Und ob die Welt verändert werden will - wer hat sie gefragt?

Gruß, ackermann
 

Lord Nelson

Mitglied
Ein interessantes Beispiel für die kürzlich andiskutierte “du”-Form eines Textes.

In diesem Fall verstehe ich das “du” als gleichbedeutend mit “alle anderen”, also einer breiten Masse, mit welcher sich der auktoriale Erzähler keinesfalls gemein macht.

Doch wo ist dessen Standpunkt? Sind seine Hände unbefleckt? Und wenn ja, woran liegt’s?

Der folgende Kommentar scheint mir das Kernproblem der süßen "Bourgeoisie" recht treffend zusammenzufassen:
Das Dumme aus deiner Sicht ist, dass du das alles nicht umsonst bekommst, sondern auch einen Betrag zu leisten hast.

Derselbe Text, stattdessen in der “wir”-Form verfasst, wäre mit Sicherheit weniger moralinsauer rübergekommen.

Lord Nelson
 

Fencheltee

Mitglied
Dem Geschriebenen zur Folge glaubst du daran, manchmal, aber nicht immer, richtig verstanden worden zu sein. In dem vorerst zuletzt genannten Zitat erkennst du leider keinerlei Anspruch auf Gerechtfertigkeit. Ebenso verkörpert die gewählte du-Form dieses Textes die Anklage an dich selbst, sowie an alle sonstigen, die sich nicht anders fühlen. Aber das überlässt du ausschließlich denjenigen, die eigene Wahrheit für sich darin erkennen können. Diejenigen, denen das nicht vergönnt ist, sei vorsorglich dein Mitleid gewiss. Es bezieht sich deine Schuld auch nicht auf die hier vielmals als gegeben angenommenen Gründe, die dir eher belanglos erscheinen.

Ebenso wie die dir Gleichgesinnten trägst du tatsächlich pflichtbewusst zum gemeinen Wohlergehen deines übergeordneten Umfeldes bei. Gleichermaßen nährt sich dein aus der Bourgeoisie resultierendes Leid von der gedankenlosen Ausbeutung derer, die das zu erreichen versuchen, was du erreicht hast und von dem du gewillt bist nichts abzugeben. Es erscheint dir unwahrscheinlich, dass du der einzige bist, dem auch nur wenige der vielzähligen Beispiele dafür einfallen. Nun ist deine Ansicht in der Tat ideologisch geworden. Insofern ist es richtig, dass du dir diesen Schuh anziehen musst. Du und nur du. Nur kannst du keine Löcher darin erkennen.
 

Willibald

Mitglied
Ackermann! Zwei feine Kommentare! LEICHT und levitierend und flinken Fusses.
Hab Dank. Herzlichen.
ww

Fencheltee, muss mich entschieden entschuldigen: es ist liebenswert, was und wie du schreibst.

Bourgeoise Grüße

ww
 
Wenn feiner Zwirn deinen satten Bauch wohlig wärmt, dann vergisst du die kalten Nächte am Feuer, in denen du kritische Weisen gesungen hast und ohnmächtig warst vor Wut über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde.

Tja, so ist es wohl... Wie leicht wird vergessen, sobald es einem selbst gut geht.

Ich empfinde den Text als sehr aufschlussreich und keinesfalls als "moralinsauer". Auch nicht als ideologisch verklärt und schon gar nicht kann ich mich darüber aufregen.

Eigentlich beweisen die bisherigen Kritiken sogar, wie gut er ist. Denn er trifft mitten ins Mark.

LG SilberneDelfine
 
A

aligaga

Gast
Eigentlich beweisen die bisherigen Kritiken sogar, wie gut er ist. Denn er trifft mitten ins Mark.
Echt jetzt?

Da muss der böhse @ali hell auflachen. In welches Mark welcher morschen Knochen denn? Den Schmarren da beklatschen doch nur solche Zeitgenossen, die den Strom aus den Steckdosen der anderen zapfen und das Maul am allerweitesten aufreißen, wenn ihnen die Gesellschaft etwas abverlangt. Zum Beispiel nicht durch die Führerscheinprüfung zu fallen, wenn sie am Straßenverkehr teilnehmen möchten. Oder ein Billett zu lösen, bevor man in den Zug einsteigt. Der Fahrer desselben, Vater zweier Töchter, hat eine Ausbildung hinter sich gebracht, erscheint pünktlich zum Dienst und bemüht sich, die Fahrgäste sicher ans Ziel zu bringen. Ob dabei der Zwirn über seinem Ranzen spannt, spielt keine Rolle.

@Ali erkennt in der Fahrscheinkontrolle keinen feindlichen Akt, sondern ein notwendiges Übel, das sich gegen gewissenslose Trittbrettfahrer richtet. Zur Hölle mit ihnen!

Quietschvergnügt

aligaga
 
T

Trainee

Gast
Hallo Fencheltee,

ich schließe mich streckenweise Alis Kritikpunkten an. Die "Bourgoisie", also das, was man recht eigentlich darunter versteht, existiert nicht mehr. Jene war, parallel zu den getätigten Geschäften, Kulturträgerin ganzen Nationen, stattete Theater und Opernhäuser aus, war Mäzenin der Kunst.
Sie rekrutierte ihren Nachwuchs nur in den seltensten Fällen aus singenden Pfadfindergruppen. Oder gar aus den sich allmählich herausbildenden Kreisen von Jungkommunisten bzw. anarchistisch gefärbten Zusammenschlüssen. - Was ein Kokettieren damit nicht ausschloss. Denn der Revolte haftet stets etwas Ruchloses, Erotisches an.

Und es gab Ausnahmen, die wie immer, die Regel bestätigen.

Insofern verwendest du aus meiner Sicht einen historisch "falschen" Begriff.
Trotzdem: ein flüssig geschriebener Text, der für meinen Geschmack allerdings zu moralisierend rüberkommt.
Außerdem mag ich es lieber, wenn ich selber denken "darf" und mir die Lösung nicht gleich mitgeliefert wird. ;)

Freundliche Grüße
Trainee
 
Den Schmarren da beklatschen doch nur solche Zeitgenossen, die den Strom aus den Steckdosen der anderen zapfen und das Maul am allerweitesten aufreißen
Hallo aligaga,

Ich glaube, du hast den Text ganz einfach nicht verstanden. Denn es geht um etwas ganz anderes, als das, wogegen du hier wetterst.

Sorry, aber den löchrigen Schuh, mit dem du uns hier ankommen möchtest, musst du dir ganz allein selber anziehen.

Wer's tatsächlich geschafft hat, aus einfachen Verhältnissen nach "oben" zu kommen, und zwar nicht durch einen Lottogewinn, Betrug oder einen Raubmord, sondern durch Begabung, Mut und viel Fleiß, kann über den Schmarren, den du hier ablässt, nur lachen. Was du "Burgeoisie" schimpfst, heißt hierzulande "Mittelstand", und es ist genau der, der unseren Laden am Laufen und den Rubel am Rollen hält. Er zahlt die Steuern, ohne die unser Staat nichts wäre, und er leistet jede Menge Beiträge zum Gemeinwohl. Er kümmert sich um dein Gas, dein Wasser und deine Scheiße, sorgt für Brot, Butter, Milch und Fleisch, bringt deinen Kindern das Lesen und Schreiben bei und schneidet dir den Blinddarm heraus, wenn's pressiert.
Genau darum geht es hier überhaupt nicht, es geht nämlich nicht um einen Angriff auf den Mittelstand.

Außerdem ist es seltsam, andere herunterzuputzen, weil sie zu einem Text eine andere Meinung haben.

LG SilberneDelfine
 
A

aligaga

Gast
Ich glaube, du hast den Text ganz einfach nicht verstanden. Denn es geht um etwas ganz anderes, als das, wogegen du hier wetterst.
Um was geht's denn, @Delfinchen? Nicht nur der böhse @ali erkennt hier sozialneidisches Gefasel und den Wahn, es gäb "Essen ohne Abwasch". Wer auf der ersten Geige spielen möchte, sollte Unterricht nehmen und viel, viel üben. Mit nur ein bisschen auf dem Kamm blasen schafft man's nicht ins Rundfunkorchester, ne?

Außerdem ist es seltsam, andere herunterzuputzen, weil sie zu einem Text eine andere Meinung haben.
Über diesen Spruch kann @ali sich besonders amüsieren. Hier hat erst mal der Autor geputzt, @Delfinchen, und zwar kräftig. Schrob er doch laut und deutelich gleich zu Beginn:
Wenn DU einmal vom süßen Wein der Bourgeoisie gekostet hast, dann willst DU immer mehr davon. Wenn feiner Zwirn DEINEN satten Bauch wohlig wärmt, dann vergisst DU die kalten Nächte am Feuer, in denen DU kritische Weisen gesungen hast und ohnmächtig warst vor Wut über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde
und so weiter.

Hihi - wer's zu etwas bringen möchte, muss mehr drauf haben als bloß "kritische Weisen" zu singen. Der sollte wenigstens ein Handwerk aus dem Effeff beherrschen und den Mut haben, darauf eine Existenz zu gründen, die seine Kinder ernährt und die Gesellschaft am Leben erhält. Auch wenn's nicht jedem passt: Deren Hauptstützen sind immer noch die MitbürgerInnen und Mitbürger.

@Ali stellt sich vor, der Typ käme einem Kfz-Meister, einem Oberstudienrath, einem Orchestermusiker, einem Küchenchef, einem Metzger- oder einem Hauptwachtmeister mit seinem Schmarren. Hoffentlich hat er einen gut sortierten Verbandskasten greifbar. Er wird ihn brauchen ...

Schallend lachend

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Salute, Fencheltee
-
Also gut, der Text ist sprachlich ordentlich gebaut, Grobstruktur, Mikrostruktur, Knickstellen wurden schon angesprochen...

Allerdings kann man mit guten Gründen die Botschaft des Textes sozialromantisch-weinerlich finden. Dem ali ist Formales meist eher wurscht. Er guckt mit Intensität und daraus folgender Inkrepanz zunächst auf die Plausibiliät der Textwelt. Sein Urteil ist hier nachvollziehbar. Meine ich.

Vielleicht ganz interessant. Bis ich 22 war, fand ich diesen Bölltext so richtig gut. Dann fand ich ihn eher richtig doof. Nachvollziehbar ohne dass man genau das Gleiche meinen muss?

Heinrich Böll Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind, und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick.
Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt, aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist – der Landessprache mächtig – durch ein Gespräch zu überbrücken versucht. „Sie werden heute einen guten Fang machen.“ Kopfschütteln des Fischers. „Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.“ Kopfnicken des Fischers. „Sie werden also nicht ausfahren?“ Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpasste Gelegenheit. „Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“ Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich phantastisch.“
Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann nicht aus?“ Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.“ „War der Fang gut?“ „Er war so gut, dass ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen ...“ Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis. „Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?“ „Ja, danke.“ Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen. „Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen“, sagt er, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen ... stellen Sie sich das mal vor .“ Der Fischer nickt.
„Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?“ Der Fischer schüttelt den Kopf. „Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen – eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden ...“, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben, Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann ...“, wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache.
Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. „Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. „Was dann?“, fragt er leise. „Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“
„Aber das tue ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“ Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Heinrich Böll: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral. In: Robert C. Conrad (Hg.): Heinrich Böll. Kölner Ausgabe. Bd. 12. 1959–1963. ©2008 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln
Ohne jetzt rumzuspinnen: Hoffentlich wird niemand in der Fischerfamilie krank und braucht eine gesicherte medizinische Unterstützung und hoffentlich ..

greetse

ww
 
Um was geht's denn, @Delfinchen?
Ich verstehe den Text so: Der Protagonist denkt an vergangene Zeiten, als er selbst so etwas wie ein Revolutionär war, einer der die Welt verbessern wollte, als es ihm selbst noch schlecht ging. Doch dann, aus einem Grund, den der Leser nicht erfährt, kommt er in die Welt der Reichen und wird dekadent. Weil es schließlich schön ist, satt zu sein und feinen Zwirn zu tragen. Da steht, die Welt zu verbessern, auf einmal nicht mehr an erster Stelle.

Wenn feiner Zwirn deinen satten Bauch wohlig wärmt, dann vergisst du die kalten Nächte am Feuer, in denen du kritische Weisen gesungen hast und ohnmächtig warst vor Wut über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde.
Ja, warum sollte man denn noch für eine bessere Welt kämpfen, wenn man doch auf einmal alles hat, was die eigene Welt angenehm macht?

Für mich hält er in diesem Text ein Selbstgespräch, vor allen Dingen wird es klar, wenn er am Schluss von Schuld spricht.

LG SilberneDelfine
 

Willibald

Mitglied
Salute SilberneDelfine,

das mit dem Selbstgespräch dachte willibald auch.
Und das ist jetzt noch eine (wenn auch weniger wahrscheinliche Option).
Warum weniger wahrscheinlich?

Dieser Schluss mit "blind" ist fast zu kräftig für ein Selbstgespräch und aus welcher Position der Klarheit das Ich spricht! Da ist nicht oder fast kaum gleichzeitig Verdrängung möglich:

Heute ist alles anders. Du kannst allerdings nicht mehr beurteilen, ob besser oder schlechter. Blind vor dem Elend, das dich umgibt, bist du froh darüber, dass du dir die Hände nicht mehr schmutzig machen musst. Dabei befleckst du sie mit Schuld in jeder Sekunde, die du in diesem Leben lebst.
greetse

ww
 
A

aligaga

Gast
Ich verstehe den Text so: Der Protagonist denkt an vergangene Zeiten, als er selbst so etwas wie ein Revolutionär war, einer der die Welt verbessern wollte, als es ihm selbst noch schlecht ging. Doch dann, aus einem Grund, den der Leser nicht erfährt, kommt er in die Welt der Reichen und wird dekadent.
Erstens: Ein Burgeois ist nicht zwangsläufig reich oder wohlhabend, sondern einer, der mit sich und der Gesellschaft im Reinen ist. Zum burgeois sein gehören zwei: einer, der's ist, und einer, der ihn darob geringschätzt. Was dazu führen kann, dass jemand bürgerlich wird, eine Familie gründet und es zu einigem Wohlstand bringt, wurde schon ausführlich erläutert, @Delfinchen. Guck nach. Bloß Protestliedchen singen reicht nicht - man muss nicht nur was haben wollen, sondern auch was tun können. Dann klappt's auch mit dem schicken Kleidchen.

Das von uns'rem hochgeschätzten Sir @Willibald zitierte Geböll war schon zu seiner Ursprungszeit Mist, weil der guhte Heinrich nicht den blassesten Schimmer von der Fischerei hatte. Zum einen verkannte er, dass Fischer hierzulande nie wirklich arm, sondern immer schon privilegiert waren. Fischereirechte werden sündteuer gehandelt.

Zum Zweiten: Die von Böll beschriebenen Fangmittel sind passive, d. h., die Tiere fangen sich darin von selbst, und zwar stets und nur über Nacht. Reusen und Körbe werden am Vortag gesetzt und des Morgens entleert. Es machte also überhaupt keinen Sinn, mehrmals am Tag danach "auszufahren".

Zum Dritten: Nicht der Mensch bestimmt den Fischereiertrag, sondern in erster Linie die abschöpfbare Produktivität des Gewässers. Wir hören hier von vier Hummern und zwei Dutzend Makrelen. Unterstellt, der Fischer habe die Schonmaßbestimmungen eingehalten, hat er mithin nicht unter 6 Kilogramm Hummern und zehn Pfund Makrelen gefangen. Selbstvermarktung und einen (heutigen) Preis von 30.- €/kg Hummer lebend und 8.- €/kg Makrele frisch vorausgesetzt, hätte der Fischersmann mit seinen längst abgeschriebenen Reusen und dem längst amortisierten Kahn also samtverbindlich 220.- € erlöst (natürlich schwarz!) und dafür nicht länger als zweimal zwei Stunden gearbeitet. Warum sollte er so dumm sein und das tun, was Böll den von ihm so verachteten "Kapitalisten" (fälschlich) unterstellte? Wo bliebe da die Lebensqualität?

Das Schlimmste, sagt @ali immer, sind die Ignoranz, die Kurzsichtigkeit und, vor allem, die absolute Humorlosigkeit der Revolutionäre. Den Böll hat man, wenn überhaupt, immer nur bitter lachen gehört.

Verachtet dem böhsen @ali die Bürger nicht! Sie sind, auch wenn sie keine Markenkleidung tragen wie jener brave Fischer, die wahren und vor allem die verlässlichen Heleden des Alltags!

Quietschvergnügt

aligaga
 



 
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