Schuldgefühl

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ENachtigall

Mitglied
Veränderte Version
20.12.2006


Schuldgefühl


Ich brachte dich um

die halbe Welt -
mit meinem Koffer
voller Sanftmut
und deiner verstaubten Schatzkarte
vom Dachboden der Zuflucht - dahin
wo die Bären dich bedrohten
Fische dich flohen
Feuer dich versengten
Wege dich irreleiteten
Weite und Stille dich
gefangen nahmen und
abführten, ins Verließ
einsamster Vorausschau

Ich brachte dich um

meine ungenügende Liebe
ich, die Geisterstadt
ihren Goldrausch ausschlafend
Du, leckgeschlagener Schaufelraddampfer
fast am Anleger, rissest dich los
von der rostigen Ankerkette
brauchtest nochmal
den Rausch des Vorüberziehens
vor dem Sturz in stromschnelle
Zerfallsmomente, dem Versumpfen
in fieberhaften Kämpfen
wo niemandem nichts mehr heilig war

Ich brachte dich um

den Wert der Worte
deine gläsernen Versprechen
zerschnitten Hände, die zu halten
versuchten, was den Lippen
entsprang wie junges Wild
Lüge um Lüge würgtest du
an vergifteter Wahrhaftigkeit
Ein verzerrter Rest von Wir
spiegelte sich in den Splittern
unserer verschrienen Sprachlosigkeit

Ich brachte dich um

die Illusion der Tauglichkeit
einer brüchigen Maske
Ein scheues Ungeheuer
verbarg sich dahinter
Ich vermochte es nicht zu befreien


© Elke Nachtigall





Schuldgefühl (erste Version)


Ich brachte dich um

die halbe Welt -
mit meinem Koffer
voller Sanftmut
und deiner verstaubten Schatzkarte
vom Dachboden der Zuflucht - dahin
wo die Bären dich bedrohten
Fische dich flohen
Feuer dich versengten
Wege dich irreleiteten
Weite und Stille dich
gefangen nahmen und
abführten, ins Verließ
einsamster Vorausschau

Ich brachte dich um

meine ungenügende Liebe
ich, die Geisterstadt
ihren Goldrausch ausschlafend
Du, leckgeschlagener Schaufelraddampfer
am Anleger, rissest dich los
von der rostigen Ankerkette
stürztest in stromschnelle
Zerfallsmomente, gingst unter
in Fiebersümpfen und Feindbildkämpfen
wo niemandem nichts mehr heilig war

Ich brachte dich um

den Wert der Worte
deine gläsernen Versprechen
zerschnitten Hände, die zu halten
versuchten, was den Lippen
entsprang wie junges Wild
Lüge um Lüge würgtest du
an vergifteter Wahrhaftigkeit
Ein verzerrter Rest von Wir
spiegelte sich in den Splittern
unserer verschrienen Sprachlosigkeit

Ich brachte dich um

die Illusion der Tauglichkeit
einer brüchigen Maske
Ein scheues Ungeheuer
verbarg sich dahinter
Ich vermochte es nicht zu befreien


© Elke Nachtigall
12. Dezember 2006
 

ENachtigall

Mitglied
Milko

Geografisch auf den Punkt getroffen. Den anderen Teil Deines Kommentars habe ich noch nicht ganz geknackt. Du hast eine eigenwillige Ausdrucksweise, die ich erst allmählich - mehr sinntastend als wörtlich - verstehe. Danke für Deine Gedanken zum dem Gedicht.

Grüße von Elke
 

rosste

Mitglied
hallo elke,
das gedicht gefällt mir gut.
jemanden "umbringen" führt zu schuldgefühlen. der protagonist reflektiert eine gescheiterte beziehung, er (sie) hinterfragt sich selbst. das wirkt echt und sympathisch.
es ist das gegenteil von dem sooft geschriebenen gedicht: "du bist an allem schuld".
der protagonist steht zu seinem anteil und das macht das ganze glaubwürdig.
vielleicht waren ja die ziele von vornherein sehr unterschiedlich - der eine betreibt "sanftmut", der andere setzt auf eine "verstaubte Schatzkarte".
"wo die Bären dich bedrohten" - ja,
"Fische dich flohen" - vielleicht besser: "Fische dich verjagten".
"meine ungenügende Liebe" - "spärliche Liebe" - passt auch.
"Du, leckgeschlagener Schaufelraddampfer
am Anleger, rissest dich los
von der rostigen Ankerkette" - der dampfer am anleger wird mit staken tauen befestigt. der anker wird nur benutzt, wenn das schiff nicht anlegt. - das gedicht "stimmt" trotzdem, aber dann sind es zwei bilder, eins am kai und eins in ufernähe.
"Zerfallsmomente" und "Feindbildkämpfe" hätte man noch bildlicher darstellen können, aber irgendwie passen diese zwei wörter auch gut als kontrast zu den vielen anderen bildern im gedicht.
"Ein verzerrter Rest von Wir
spiegelte sich in den Splittern
unserer verschrienen Sprachlosigkeit" - das ist klasse und der höhepunkt im gedicht - zerbrochen, ohne worte, umgebracht.
das scheue ungeheuer wurde nicht befreit. und dadurch umgebracht. diese selbstkritik ist es, die so imponiert.
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Elke, wenn zwei auseinandergehen, gibt es zwar stets zwei Schuldige, doch fällt das Eingeständnis der eigenen Schuld nicht leicht. Dein LI ist eine edle Seele, es zieht heran, was heranzuziehen geht, um sich selbst zu beschuldigen. Schön wäre es gewesen, wenn dahinter stünde, das Verlorene auf diese Weise wiederzugewinnen, neu zu beginnen. Aber es ist ein Grabgesang.

So ganz kann ich mich mit deinen Bildern nicht anfreunden. Ein Schaufelraddampfer mit Feindbildkämpfen ist zumindest ein kaum glaubhaftes Bild. Eher würde ich da eine Untiefe vermuten, einen Malstrom, ich würde eben einfach "im Bild" bleiben.

Man spürt ein wenig Krampf, die Bilder sind mir zu gesucht (und nicht immer gefunden), und das nimmt dem Gedicht die Aufrichtigkeit.
Warum nicht einfach sagen: Wir haben Fehler gemacht, ich wie du, und nun sind wir am Ende.
Ich meine, man sollte aufrichtige Verse ohne Versatzstücke schreiben.

Gruß
Hanna
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo @ Stephan (rosste)

der dampfer am anleger wird mit staken tauen befestigt. der anker wird nur benutzt, wenn das schiff nicht anlegt
Da hilfst Du mir sehr weiter, mit diesem Hinweis. Jetzt, wo ich es lese, erinnere ich mich auch wieder daran. An dieser Stelle der zweiten Strophe will ich noch etwas ausbessern.
Deine genaue Auseinandersetzung mit dem Gedicht zeigt mir, dass ich viel von dem hineinlegen konnte, was mir wichtig war.

Schulggefühle anzunehmen - in ertragbaren Maßen - hat etwas Erleichterndes. Der Betroffene entzieht sich nicht, sondern wächst quasi aus der missglückten Lage/Beziehung heraus, ohne die Wurzeln zu kappen. Das gibt etwas Kraft zur Bewältigung der neuen Wege.



Insofern, @ Hanna, ist es für mich kein ganz desolater "Grabgesang". Es ist ein versöhnlicher Abgesang. Ohne einen gesunden Abstand zum Geschehen wäre das nicht möglich. Also ist ein neuer Weg hier längst beschritten worden.
Schön wäre es gewesen, wenn dahinter stünde, das Verlorene auf diese Weise wiederzugewinnen, neu zu beginnen. Aber es ist ein Grabgesang.
Deine Kritk am Bild des "Feindbildkampfes" in Zusammenhang mit dem Dampfer nehme ich dankend an. Daran werde ich, nach gedanklicher Vorarbeit, noch etwas ändern.

Herzlichen Dank für Eure kritischen Hinweise und das Lob!

Liebe Grüße von

Elke
 

wando

Mitglied
hallo nachtigall,

gefällt mir sehr gut, vor allem folgende stelle finde ich große klasse:

...deine gläsernen Versprechen
zerschnitten Hände, die zu halten
versuchten, was den Lippen
entsprang wie junges Wild...

liebe grüße und gesegnete weihnachten

wando
 

ENachtigall

Mitglied
Versprechen

@ Wando

Ich danke Dir sehr für den Kommentar und freue mich, Dir besonders mit der zitierten Stelle gefallen zu haben.

Inzwischen habe ich die von rosste und Hanna genannten Punkte überarbeitet und finde: so ist es fertig.

Die lieben Weihnachtsgrüße möchte ich ganz herzlich erwidern!

Elke
 

rosste

Mitglied
ja, schön elke.

Fische dich flohen - verstehe ich immer noch nicht.
"Fische vor dir flohen" - würde ich verstehen.

lg
 

ENachtigall

Mitglied
Fische

Es ist dasselbe, Stephan. Ich mag diesen Gebrauch des Verbs "fliehen". Er hat so was aktiv Gegenläufiges; verstehe aber gut, dass es manchen zu "gestelzt" vorkommen könnte.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der feine kleine Unterschied zwischen fliehen und flüchten, der im "Zwiebelfisch ABC" sehr schön beschrieben ist.

Ich wünsche schon mal: Ganz muckelige Weihnachten!

Elke
 



 
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