Schulfreunde

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Er hat ja Karriere gemacht, sieh mal an … Er ist sogar gedruckt worden und man liest ihn und zitiert ihn ab und zu … Ich weiß es nun auch, denkt Ben, dem Netz sei Dank. Gedruckt, kaum zu glauben – dieses Würstchen, dieses opportunistische Würstchen!

Ben hatte ihn gleich so eingeschätzt, von den ersten Monaten in der neuen Klasse an. Ulrich war damals schon fünfzehn, aber weniger fortgeschritten als Ben mit seinen vierzehn. Wie sie alle einmal über ihn grinsen mussten: Schiller, Maria Stuart … Ulrich wird uns jetzt seinen Hausaufsatz vorlesen ... Und er kam nur bis: Soll man diese edle Jungfrau töten - als ihn der Deutschlehrer unterbrach: Edle Jungfrau? Maria Stuart? Sag mal, Ulrich, wie alt bist du jetzt?

Dann war er siebzehn und endlich aufgeklärt. Wies den Physiklehrer bei einer Versuchsanordnung auf seinen dicken Finger hin, der ihn gerade behindere, und grinste jetzt selbst. Den Anschluss doch noch gefunden … Immer hechelte er den anderen hinterher. Wo war die Mehrheit, wo die Mitte? Er legte sich nun häufig in den Pausen mit Ben an, widersprach ihm, wenn der mal wieder was Extravagantes von sich gegeben hatte. Ulrich war dann leicht erregbar, neigte zum Stottern. Aber er hatte sich äußerlich herausgemacht.
Das Mickrige seiner Pubertät war verschwunden, er war jetzt ein mehr oder weniger hübscher Ephebe. Gewachsen war er nicht mehr, er blieb einen halben Kopf kleiner als Ben. Er war schlank und kräftig und im Gegensatz zu Ben ein sehr guter Turner. Wie gelenkig er war, bewegte sich mit Anmut, mit Wohlgefallen an sich selbst …

Ben fiel es auf, dass er den anderen neuerdings gern ansah, so beschränkt er ihm noch immer vorkam. Eine Frage arbeitete sich vor – sie war schon länger im Hinterkopf embryonal rumorend da gewesen: Kann es sein, dass ich ein Homo bin? Gefällt er mir deswegen? Es gab gar keinen Kampf mit sich zu bestehen, es wurde eine leichte Geburt - Homosexualität als Kopfgeburt. Er wusste, so etwas gab es eben unter anderem in der Welt, dann war das eben so. Er sah Ulrich immer öfter, immer lieber an und putzte ihn nicht mehr herunter. Jetzt verklärte er seine Unbedarftheit zur liebenswerten Naivität, seine Mittelmäßigkeit zu beneidenswerter Ursprünglichkeit. Er wollte ihm helfen, ihn beschützen. Und Ulrichs Zähigkeit, seine Ordentlichkeit und überhaupt dieses Adrette an ihm, darin würde er, Ben, ihm nacheifern können.

Ben setzte es durch, dass sie in der vorletzten Gymnasialklasse Banknachbarn wurden, und sie blieben es bis zum Abitur. Sie saßen zwei Jahre nebeneinander, beobachteten sich gegenseitig verstohlen, sprachen ab und zu einiges miteinander, taten, als stimmten sie in den meisten Dingen überein. Für Ben war das Illusionäre daran ein zusätzlicher Reiz. Der andere war der andere, einer, nach dem er sich sehnen konnte und der ihm doch nicht zu nahe kam. Einen halben Meter neben ihm die Stunden verträumend, „liebte“ er ihn so aus großer Entfernung …

Das Schlimmste für Ulrich waren die Deutschaufsätze. Er konnte keinen Gedanken entwickeln, da ihm kaum einer je kam. Mit Begriffen tat er sich schwer, mit abstraktem Denken überhaupt. Er las ungern, vielleicht mal etwas von Willi Heinrich. Wiederholt kassierte er bei Klassenarbeiten ein Mangelhaft und begann sich Sorgen ums Abitur zu machen. Ben war einverstanden, beim nächsten Mal rasch ein Konzept für ihn zu entwerfen, mit Materialsammlung, und es ihm zum Ausarbeiten zuzustecken. Das Experiment misslang. Ulrich, vor die Wahl gestellt, entschied sich für das Besinnungsaufsatzthema „Soll Wahrhaftigkeit stets an erster Stelle stehen?“ und bezog wieder seine Fünf. Mit roter Lehrertinte darunter: Extrem hilfloses Herumrudern in einem Sammelbecken von Unverdautem oder Unverstandenem. Wohingegen Ben mit dem verbliebenen „Kriminalromane lesen heute?“ das übliche Sehr gut erreichte.

Ulrich war vom Land, Sohn eines kleinen Beamten. Zwei- oder dreimal besuchte er Ben daheim. Einmal kam er spätabends mit, als Bens Eltern schon schliefen und das Aufbetten unterblieb, um sie nicht zu stören. Zwei junge Burschen in einem schmalen Bett also. Und es spielte sich nichts ab, überhaupt nichts. Auch Ben war auf keine Weise erregt. Kühl, so kühl blieb alles, sie schliefen einfach nur nebeneinander. Bin ich am Ende gar nicht so, fragte sich Ben. Dann konstruierte er sich einen Gegensatz von homoerotisch und homosexuell und kam nach Wochen doch auf die ursprüngliche Auffassung von der Sache zurück. Selbstverständlich „liebte“ er ihn, sehnte sich auch nach seinem Körper. Fast sein ganzes Denken und Fühlen kreiste in diesen Jahren um Ulrich, je länger, desto ausschließlicher.

In den Sommerferien kam Ulrich einmal für eine ganze Woche. Sie übernachteten draußen im Garten in einem Zelt und behielten die zwischen ihnen übliche Distanz weiter bei. Ben las ihm vor dem Einschlafen Texte von Kästner und Tucholsky vor, Gedichte, Prosa, Satirisches, Pazifistisches. Ulrich blieb lau. Das war jetzt ein zunehmend wichtiges Thema: Wie würden sie es mit dem Bund halten? Ben würde alles daran setzen, nicht hinzugehen. Der kleine Beamte wollte, dass sein Sohn Offizier würde - Berufsoffizier. Das musste verhindert werden. Ben stichelte und argumentierte und agitierte. Ulrich – blieb lau. Vielleicht ja, vielleicht nein.

Gleich nach dem Abitur verschwand er doch in einer Kaserne, es war in einer kleinen süddeutschen Stadt. Ben fuhr bald für eine Woche zu ihm. Ulrich holte ihn vom Bahnhof ab, und Ben hatte, als der Zug einlief, eine Sinnestäuschung: sah den geliebten Schulfreund draußen auf dem Bahnsteig im gewohnten Zivil. Tatsächlich trug er Uniform, das war vorgeschrieben. Er hatte jetzt nicht viel Zeit übrig. Am Tag darauf gingen sie stundenlang in der Umgebung spazieren und sprachen über dasselbe wie immer. Was sie studieren könnten, was die anderen so trieben. Ben versuchte wieder, ihm das Militär zu verleiden. Er hatte sich am Ende der Schulzeit angewöhnt, ihn zärtlich anzuschauen, ihm beim Abschied die Hand auf die Schulter zu legen, ihn beinahe zu streicheln. Diesmal war das leider unmöglich: Ulrich ging zwar dicht neben ihm auf die Kaserne zu, doch schon getrennt von ihm durch den hohen Drahtzaun.

Sie sahen sich nie wieder. Ulrich erschien anderntags, es war ein Sonntag, zum verabredeten Termin nicht, er meldete sich auch an den folgenden zwei Tagen nicht im Gasthof. Was war los? Hatten sie auf der Stube abfällige Sprüche gemacht? Oder war der Freund die pazifistischen Reden endgültig satt? Ben sollte es niemals erfahren. Er reiste vorzeitig ab, und als weiter kein Zeichen kam, schrieb er zwei Wochen später denkbar unbefangen, so sollte es scheinen, es sei Ulrich wohl nicht möglich gewesen, noch einmal mit ihm zusammenzutreffen? Der Brief blieb ohne Antwort.

Einige Monate später. Der stolze Ben, einer der Klassenbesten, hatte fern der Heimat schon Schiffbruch erlitten. Die Berufs- und Studienwahl war falsch gewesen. Er schrieb es allen Freunden von früher, und Ulrich schrieb jetzt zurück: dass er sich Vorwürfe mache, seiner eigenen Bequemlichkeit wegen. Ausgerechnet er empfahl dem anderen mehr Selbstvertrauen.

Sie wechselten noch einige Briefe. Sie behandelten, was sie meistens erörtert hatten: Was man studieren oder sonst machen könne, was die anderen trieben. Ben bot mehrfach an, sich bei Gelegenheit wieder zu treffen. Ulrich ging nicht darauf ein. Ben hatte ihm im Herbst geschrieben: Glaube mir, ich könnte Dir niemals zu nahe treten … Im Winter dann: Um mich ist es zuletzt ziemlich einsam geworden … Das Frühjahr kam, als Ulrich zurückschrieb, er werde im Sommer mit einer „Bekannten“ verreisen. Ben in seinem Tagebuch: Einmal muss ich doch den Schlussstrich ziehen, langsam wird die Chose ridicule …

Nichts war vorbei. Ulrich besuchte ihn noch unzählige Male, über Jahre, Jahrzehnte. Wann immer es Ben bei Tag wirklich schlecht ging, begegnete er ihm nachts - im Traum. Und es war dann Beruhigung, Einverständnis, tiefe Befriedigung. Es waren keine sexuellen Träume, natürlich nicht. Ulrich, meinte Ben später, war gar nicht sein Typ gewesen. Sie fuhren im Traum immer gemeinsam irgendwohin, saßen in einer Bahn oder in einem Bus nebeneinander und waren sich, ohne sich aussprechen zu müssen, vollkommen einig. Es war das reinste und tiefste Glücksempfinden, das Ben je geschenkt wurde. Und wie oft: viele, viele hunderte Male, vielleicht tausend Mal und mehr. Bis es allmählich seltener vorkam, sich langsam aus seinem sich dem Alter nähernden Leben zurückzog.

Er erfuhr also erst sehr spät, dass der andere eine richtige Karriere beim Militär geschafft hatte; wenn auch nicht bei der Truppe - bei einem nachgeordneten Amt. Und in jenen Jahren des wiedergeschenkten ewigen Friedens, Ende der Geschichte und so weiter, gab es einen hochwichtigen General, der mit einem Buch auf die überstandene Zeit der Kriegsgefahr zurückblicken wollte, als Rechtfertigung der eigenen bisherigen Existenz. (Danach würde man dann weitersehen.) Der General sah auf Bildern Ulrich, wie man sich ihn älter geworden vorstellen konnte, zum Verwechseln ähnlich. Ulrich, der hohe Offizier, wurde Zuarbeiter des wichtigen Generals und lieferte ihm Beiträge für sein Buch. Reihte Zahlen, zeichnete Skizzen, vollzog Truppenbewegungen nach, die nur in der strategischen Planung des Feindes und vielleicht auch da nie existiert hatten. Wer konnte ihm das Gegenteil beweisen? Sehr hübsch gezeichnet, wie wir da vom Feind abgeschnitten und aufgerollt worden wären, ganz unblutig auf dem Papier. Ulrich, wie Ben ihn in der Schule erlebt hatte, war wieder da: ordentlich bis zur Pedanterie, verliebt in die kleinen Striche. Aus solchem Holz schnitzt man einen Oberst … Sein Stil allerdings war besser geworden. Er, dem früher in jedem zweiten Satz die Syntax aus dem Ruder gelaufen war, schrieb jetzt so gut wie fehlerfrei. Vermutlich hatte er seinerseits einen Zuarbeiter und der vielleicht noch mal einen. Der Apparat stand ja zur Verfügung, der große Apparat, in den er sich passgenau eingefügt hatte.

So erreichen wir eben irgendwann alle unseren Bestimmungsort in dieser besten aller Welten …
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Lieber Arno,

vorneweg: du bist der einzige Autor, dessen Text ich mehrmals gelesen habe. Das Schöne an deiner 'Winterreise' ist, dass man bei jedem Lesen etwas Neues entdeckt und überrascht ist, wie tiefsinnig und facettenreich deine Geschichte ist. Dazu liegt über allem eine Melancholie, die weder larmoyant noch emotionslos daherkommt. Ich sage es nochmal: ein tolles Stück Literatur.

Dummerweise war aufgrund dieser Erzählung meine Erwartungshaltung bezüglich des vorliegenden Textes sehr hoch. Umso enttäuschter war ich, dass sich beim Lesen eben nicht dieses wohlige Gefühl einstellte, dass ich bei der 'Winterreise' empfand.

In der 'Winterreise' ist mir vor allem die Szene nachhaltig in Erinnerung, in der der Sohn seine Eltern aus dem fahrenden Bus heraus in ihrem Wagen sitzen sieht. Es passiert eigentlich nichts, er schaut sie nur an, ohne dass sie sich dessen bewußt sind, aber irgendwie war das für mich ein Sinnbild ihrer Entfremdung, ein sehr eindrückliches dazu (ich bin versucht, es genial zu nennen).

In 'Schulfreunde'gibt es m.E. keine solche Szene. Und dort liegt für mich schon der Hase im Pfeffer: du erzählst nur, aber eher im Stile einer Zusammenfassung, distanziert und emotionslos. Ich als Leser verstehe nicht recht, woher die Anziehungskraft zwischen Ben und Ulrich herrührt. Das 'coming out' ist kein wirkliches, es wird in wenigen Sätzen problemlos abgehandelt, Homosexualität als Kopfgeburt, wie du sagst. Selbst wenn Ben es sich problemlos eingestehen kann, muss er doch um die Reaktionen seiner Umwelt fürchten, aber das wird in keinem Satz erwähnt. Für mich wenig nachvollziehbar.

Die Idee der Geschichte wiederum gefällt mir, Homosexualität ist ein spannendes Thema und ich finde viel Verwertbares in den beiden Protagonisten (Homosexualität in der Bundeswehr). Aber ich würde mir zu jedem Abschnitt (Schule, Bundeswehr, Elternhaus) eine denkwürdige Szene ausdenken und sie dann erzählen.

So platt es vielleicht klingt: Deiner Geschichte mangelt es m.E. an Show wohingegen das Tell überrepräsentiert ist.

Aber keine Angst: Dieser Text lässt mich nicht davon abhalten, deine zukünftigen Texte zu lesen. Dazu war die 'Winterreise' viel zu gut.

Liebe Grüße,

CPMan
 
Danke, CPMan, für die ausführliche Beschäftigung mit dem Text. In deine Reaktionen kann ich mich z.T. gut hineinversetzen, sie dürften also eine gewisse Berechtigung haben. Als Autor versuche ich jetzt dennoch mal auf einige Punkte zu entgegnen.

Der Vergleich mit "Winterreise" erscheint mir problematisch. Dort geht es nur um wenige Tage, ohne dass etwas von Bedeutung passiert. Es ist ein familiäres Stilleben. "Schulfreunde" fasst dagegen die Entwicklung einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Schulfreundschaft über Jahrzehnte hinweg kurz zusammen. Zwangsläufig muss sich das formal auswirken.

Aussagekräftige Höhepunkte? Ja, die sollte es geben, sie sind nur etwas versteckt, wie kleine Kuppen im Wald. In der Schulzeit ist es der Betrugsversuch während der Klassenarbeit (misslingende Kooperation), in der Bundeswehrepisode die Trennung am Kasernentor (Ulrich hinter dem Zaun, der IE außerhalb) und in den Jahrzehnten danach der sich immer wiederholende gleiche beglückende Traum (das Leben ein langer Traum).

Ich gebe zu, das ist äußerst knapp, ja sogar unterbelichtet, und der Gesamtverlauf nur wie ein Überblick aus sehr großer Höhe. Man sollte es als die resignative Erinnerung eines alten Mannes lesen, der keine Lust hatte, den Roman zu schreiben, der sich dahinter verbirgt. Außerdem hat der alte Mann Einzelnes aus dem Komplex schon mal detaillierter isoliert dargestellt (Schummeln bei anderer Gelegenheit, auch der besagte Dauertraum).

Mit der Bitte um Nachsicht für hier und da verursachte Leserfrustration

Arno Abendschön
 
A

Alberta

Gast
Zit: "...Man sollte es als die resignative Erinnerung eines alten Mannes lesen, der keine Lust hatte, den Roman zu schreiben, der sich dahinter verbirgt..."

Lieber Arno Abendschön, wie gerne bin ich Deiner Erinnerung gefolgt - für mich eine sprachlich ausdrucksvolle Schilderung, tatsächlich ein Stoff für einen Roman ...und ich würde gerne den "alten Mann" gerne ermutigen, seine "resignativen Erinnerungen" zu einem Roman zu erweitern.
 
Danke, liebe Alberta, fürs Lob. An ein Romanprojekt ist nicht gedacht. Die aufzuwendende Mühe würde voraussichtlich in keinem vertretbaren Verhältnis zur Wirkung nach außen stehen. Das Thema ist zu speziell und zugleich die damalige Zeit schon zu weit in der Vergangenheit liegend. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass ich später vielleicht noch eine mittellange Erzählung über ein Quartett von Schülern verfasse.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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