Schulzeit auf dem Dorf

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pittipu

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Schulzeit auf dem Dorf

Aufgewachsen bin ich in einem Dorf mit 300 Einwohnern. Die Lage in einem von Wäldern umgebenen Talkessel, in der Mitte die Kirche, stand für Abgeschlossenheit. Aus den Nachbardörfern kannte ich keine Gleichaltrigen, dort hatten wir keine Verwandten und auch die Familien hatten dort keine Freunde. Es gab 12 Bauernfamilien, die jeweils zwischen 20 und 30 Hektar bearbeiteten. Ein Bauer arbeitete noch mit Pferden, die übrigen hatten einen Traktor. Ihr Leben hart, auch von Neid und Missgunst geprägt und kannte wenig Fröhlichkeit. Es gab im Dorf einen Bäcker, zwei kleine Krämerläden, einen Installateur und Spengler und einen Schreiner am Dorfrand. Und eine Gastwirtschaft in der Dorfmitte, die eine Bauersfamilie nebenbei betrieb. Die anderen Männer arbeiteten fast ausschließlich in dem drei, vier Kilometer entfernt liegenden Metallfabrik. Die Bauernfamilien ausgenommen, gingen nur die unverheirateten Frauen einer Berufstätigkeit nach. Nach der Heirat blieben sie im Haus. Für das soziale Leben gab es einen Fußball- und einen Gesangverein, einmal im Jahr eine Kirmes und von fast überall her sichtbar die Kirche für die überwiegend katholische Bevölkerung. Es gab zwei als Außenseiter am Dorfrand lebende Familien, von denen man sagten, sie würden SPD wählen. Die Versammlungen der örtlichen CDU fanden im Pfarrhaus statt, und so war alles auf Linie.
In die Schule kam ich 1959. Die Schule war ein moderner Bau, etwas außerhalb des Dorfes auf einer Anhöhe gelegen. Das längliche Gebäude war zweigeteilt: Links, zugänglich über eine breite Treppe, waren die Schulräume, im rechten Drittel wohnte der Lehrer mit seiner Familie. Der Klassenraum war im ersten Stock, der Raum darunter wurde nie benutzt und blieb verschlossen. Damals begann das Schuljahr nach Ostern, und am ersten Schultag bekam ich eine backblechgroße Brezel. Im Jahr darauf gab es eine Schultüte mit Süßigkeiten, was ich besser gefunden hätte. Meine jüngere Schwester bekam dann gar eine Brezel und eine Schultüte. Im Dialekt hieß es übrigens „der Brezzel“, also maskulin.
Alle ungefähr 25 schulpflichtigen Kinder wurden von einem, Lehrer in einem Raum unterrichtet. Nicht ganz, es gab noch den Pfarrer, der zwei Stunden Katechismus pro Woche lehrte. Im ersten Schuljahr waren wir zu sechst; es war der erste geburtenstarke Jahrgang. Im sechsten und siebten Schuljahr gab es jeweils nur einen Schüler. Die ältesten waren 14, und nach der Schule begannen sie eine Lehre oder als Hilfsarbeiter zu arbeiten. Ich erinnere mich noch an Gespräche, denen ich zuhörte, wonach ein Lehrling 90 Mark im Monat verdiente.
Die Ausstattung eines Erstklässlers war bescheiden. Man hatte einen ledernen Ranzen, eine Schiefertafel mit angehängtem Schwamm sowie Griffel in einem hölzernen Griffelkasten. Keine Schulbücher. Eine Seite der Schiefertafel hatte Linien zum Schreiben, mit Begrenzungen für die Kleinbuchstaben, die andere Seite hatte Rechenkästchen. Lesen lernten wir nach der sogenannten Ganzwortmethode, einer damals neuen pädagogischen Mode, die an Schülern ausprobiert wurde. Dazu bekamen wir einen Kasten mit ausgeschnittenen Wörtern, die wir zu Sätzen zusammenzulegen hatten. Das Lesen brachte ich mir damit selbst zu Hause bei.
Der erste Lehrer, Herr Klakowski, war aus dem Osten gekommen und ging bald wieder weg. Er unterrichtete auch seine eigenen drei oder vier Kinder, und sie sollten wohl bessere Schüler sein als die Bauernkinder, die zu Hause nur den breiten Dialekt des Dorfes sprachen. Einmal rief er seinen ältesten Sohn an die Tafel und fragte ihn, wie viel eins geteilt durch zwei sei. Dieser wusste keine Antwort. Da fragte er mich, stell dir vor, ein Kuchen für zwei Leute, wie viel Kuchen bekommt jeder? Er malte dann sogar einen Kreis, den er in zwei Hälften teilte, an die Tafel. Nachdem ich geantwortet hatte, jeder bekommt einen halben Kuchen, fing er an, fürchterlich auf seinen Sohn einzuschlagen. Dieser duckte sich, hielt Hände und Arme vor Gesicht und Kopf, um sich vor den Schlägen zu schützen. Dabei schimpfte der Lehrer, „siehst du, der Kleine im ersten Schuljahr weiß das …!“ Noch heute schäme ich mich dafür. Hätte ich geantwortet, ich weiß es auch nicht, hätte ich den Sohn vor der Prügelattacke bewahrt.
Nach gut sechs Monaten Schule wurde ich an den Tegernsee verschickt. Zur Erholung nannte man das. Ich galt als schlechte Esser. Schon kurz nach meiner Geburt hatte man mich ins Krankenhaus einliefern müssen, weil ich die Nahrung verweigerte. Wahrscheinlich fühlte ich mich von Mutter und Welt nicht gewollt. So fuhr ich mit einer Gruppe wohl ebenfalls ausgemergelter Kinder im Zug Richtung Oberbayern. Es war November, und zum ersten Mal sah ich schneebedeckte Berge. Das Heim lag direkt am See, Bootshaus und Bootssteg in Sichtweise. Alles war winterlich grau. Fräulein Kluge und Fräulein Feuerlein waren die Betreuerinnen. Zu Beginn des Aufenthaltes wurden wir gewogen, und das Ziel bestand darin, möglichst viel an Gewicht zuzulegen.
Ob ich wirklich ein schlechter Esser war, weiß ich nicht. Vielleicht war ich nur angeekelt von dem täglichen Spinat, der mir immer wie ein Kuhfladen vorkam. Wahrscheinlich entsprach ich nicht dem damaligen Ideal eines gesunden Kindes. Nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit war Futtern angesagt. Viel Speck über den Knochen galt als Zeichen von Gesundheit und Wohlbefinden. Am Tegernsee war also das Essen mein Problem. Oft schmeckte es mir nicht. Die Reste wurden am nächsten Tag zu einer Suppe verkocht. Was mir am Vortag nicht geschmeckt hatte, wurde dann zum Ekel. Man zwang mich, so lange am Tisch zu sitzen, bis der Teller leergegessen war. Regelmäßig kotzte ich dann in den Teller. Während alle anderen schon aufgestanden waren, musste ich vor dem vollgekotzten Teller sitzen bleiben. Ich weinte und die stillen Tränen kullerten in den Teller. Nach einer gewissen Zeit hatte dann immer jemand vom Küchenpersonal ein Einsehen und entließ mich.
An zwei Erlebnisse erinnere ich mich. Mit der Seilbahn fuhren wir auf den Kufstein. Bis über die Knie versank ich im Schnee. Auf einer Hütte gab es zu Mittag eine Tomatensuppe. Nie zuvor hatte ich Tomatensuppe gesehen, und natürlich ekelte ich mich davor. Wider Erwarten schmeckte sie jedoch köstlich. Das zweite war, als wir vor der Entlassung gewogen wurden, löffelten wir Unmengen von Suppe in der Hoffnung, damit das Gewicht zu steigern.
Unsicher bin ich, ob ich schon gut lesen und schreiben konnte. Ich war der Jüngste im Heim, und Fräulein Kluge und Fräulein Feuerlein schrieben unpersönliche Briefe für mich nach Hause; mir geht es gut etc. Ebensolche unpersönlichen Briefe kamen retour, die sie mir dann vorlasen.
Nicht vergessen habe ich Susanne. Sie war einige Jahre älter und hatte schon die Ahnung eines Busens. Sie war an einer Grippe erkrankt und saß mit fieberrotem Gesicht im Bett. Ein Arzt wurde gerufen, und es wurde dann erzählt, sie habe vor dem Arzt ihr Nachthemd ausziehen müssen. Für mich war dies eine Quelle nicht enden wollender Phantasien.
Jeden Samstag mussten alles Jungs, und die Mädchen natürlich auch, aber getrennt nach Geschlechtern, in eine wandhoch gekachelte Großraumdusche. Wir mussten uns nackt ausziehen, und ich schämte mich vor den anderen. Ich stellte mich immer etwas abseits in eine Ecke. Die beiden Ältesten, sie waren schon zwölf, brachten jede Woche vor, zusammen mit den Mädchen duschen zu wollen. Auch mir gefiel diese Vorstellung, und mit nackten Mädchen hätte ich mich nicht geschämt.
Wenige Tage vor Weihnachten kam ich dann wieder nach Hause. Meine Eltern holten mich dem Auto am Bahnhof ab. Es schneite, und die Scheibenwischer hatten Mühe, eine klare Sicht zu geben. Ich sehe mich noch, hinter den beiden Vordersitzen, in der Mitte auf der Kardanwelle stehend, in das Schneetreiben schauen.
Das Schuljahr ging dann normal weiter, und an den Beginn des zweiten Schuljahres kann ich mich noch erinnern. Wir, jetzt Zweitklässler, spielten ein Theaterstück für die neuen Erstklässler. Schulbänke wurden zu einer Guckkastenbühne zusammengestellt. Es gab darin eine Frühstückszene, die mir sehr gut gefiel. Ich durfte nämlich ein Ei und ein Blutwurstbrot mit Senf essen.
Herr Klakowski ging dann weg, zu Höherem berufen. Danach hatten wir zwei Lehrer jeweils für ein halbes Schuljahr. Der erste, ein gestandener Pauker, kam aus einem Nachbardorf, der zweite frisch von der Ausbildung, ein Herr Möllemeyer.
Herr Möllemeyer bescherte mir das zweite traumatische Erlebnis meiner jungen Schulkarriere. Am Ende des Schuljahres musste er Zeugnisse schreiben, aber die vielen Fächer, die auf dem Zeugnisformular standen, waren nie unterrichtet worden. So auch das Fach Musik. Um eine Note zu vergeben, rief mich Herr Möllemeyer nach vorne, ich sollte ein Lied singen. Ich fing an zu weinen und bekam dann in Musik die Zeugnisnote „Mangelhaft“.
Danach kam Herr Brünert. Herrn Brünerts Frau arbeitete halbtags, und gegen Mittag holte er sie von der Arbeit ab, musste aber vorher gekocht haben. So spielten wir stundenlang auf dem Schulhof. Lange vor Weihnachten wurden Geschenke gebastelt: Bastuntersetzer, gepresste Blätter gerahmt und und. Vor Ostern wurden ausgeblasene Eier bemalt. Es gab einen Schulgarten, und periodisch musste das Schulgelände vom Unkraut befreit werden. Oft tagelang. Der Lehrer ging mit uns Pilze suchen, und noch heute kenne ich alle Baumarten und Getreidesorten. Jeden Tag mussten wir eine Seite Schönschreiben. Der Inhalt war egal, es musste nur kalligraphisch aussehen. Schönschreiben war Nervensache. Ein falscher Strich, ein Klecks, das bedeutete: Seite herausreißen und von neuem beginnen. Manchmal hatte das Schönschreibheft nur noch wenige Seiten. Schrieb man schön genug, wurde man suspendiert, fing man wieder an zu schmieren, gab es wieder Schönschreiben.
Gelernt habe ich in den vier Jahren Volksschule nicht viel. Danach auf dem Gymnasium hatte ich Probleme, die aber nicht nur auf den Schulunterricht zurückzuführen waren. Wir lernten die deutsche Grammatik mit Begriffen wie Tuwort, Dingwort, Eigenschaftswort, Umstandswort usw. Und Kopfrechnen. Alle mussten aufstehen, der Lehrer gab eine Rechenoperation vor, und wer als erster die Antwort sagte, durfte sich setzen. Oder: Wir mussten uns im Flur mit dem Rücken an die Wand stellen, Der Boden war mit Platten belegt, und ein älterer Schüler stellte die Rechenaufgabe, und wer als erster die Antwort wusste, durfte seine Füße auf die nächste Bodenplatte setzen … bis man dann mit dem Gesicht an der Wand stand.
Als ich zehn Jahre alt war, wurde ich aufs Gymnasium geschickt. Geschickt, war der richtige Ausdruck, denn es war mir gleichgültig. Eltern und Lehrer hatten entschieden; ich selbst spürte keinen Ehrgeiz. Ich wäre auch auf der Volksschule geblieben, und die Frage, was nach vier weiteren Schuljahren gekommen wäre, stellte sich mir nicht.

Mein Schulfreund Karl kam ebenfalls aufs Gymnasium. Wir waren die ersten Gymnasiasten des Dorfes. Meiner, wenn auch nicht mehr sehr deutlichen Erinnerung nach, musste er nicht geschickt werden. Für ihn wie für seinen Vater stand fest, dass er aufs Gymnasium gehen würde. Sein Onkel war Volksschullehrer im nächsten Dorf, und so wusste man in der Familie, dass mehr Bildung ein besseres Leben bringen konnte.

Das Gymnasium war in der nächst grösseren Stadt, ungefähr 30 Kilometer entfernt. Morgens um sechs mussten wir mit dem Fahrrad bis zum nächsten Bahnhof fahren, dann weiter mit dem Zug, und dort vom Bahnhof zu Fuss durch die halbe Stadt zu dem auf einer Anhöhe gelegenen Schulgebäude. Nach sechs Stunden Unterricht war ich dann um halb drei zu Hause. Und das bei Regen, Schnee und sengender Hitze. Lag hoher Schnee, fuhren wir in der Spur des einzigen Autos, das bereits unterwegs gewesen war. Bei der ersten Fahrt, es war im April 1963. war es morgens um sechs noch bitterkalt, und ich hatte keine Handschuhe angezogen.

An Sexta und Quinta sind nur wenige Erinnerungen geblieben. Der Schulweg war anstrengend und die Mitschüler blieben mir fremd. Sie kamen mir grösser und stärker vor. Zu Hause hatten sie schon Kühlschrank und Fernseher, und in der Schule sprachen sie über den gesehenen Sendungen. Mit ihren Eltern fuhren sie in Urlaub, an die Nordsee und an die Strände des Mittelmeers. Ich konnte nicht mitreden. Einen Fernseher gab es zu Hause nicht, und die grossen Ferien musste ich bei langweiligen Tanten oder im Zeltlager verbringen.

Obwohl ich keinen Salto drehen konnte und Angst vor einer einfachen Rolle vorwärts hatte, hielt ich mich sich selbst nicht für unsportlich. Ich wolle nicht wahrhaben, wie ungeschickt ich war. Die Quittung gab es immer bei den Bundesjugendspielen. Nie erreichte ich die nötige Punktzahl für eine Urkunde. Ich warf wie ein Mädchen, und beim Weitsprung hatte ich Angst, nicht den Absprungbalken zu treffen. Karl hingegen bekam regelmässig eine Ehrenurkunde mit der faksimilierten Unterschrift des Bundespräsidenten. Wurden im Sportunterricht Mannschaften gebildet, bestimmte der Lehrer die zwei Stärksten, die sich in einigen Metern Abstand gegenüber stellten, dann aufeinander zugingen, indem sie eine Fusslänge vor die andere setzten, und wer den letzten vollen Fuss platzieren konnte, durfte beginnen, seine Mitspieler zu wählen; er wählte dann den, den er für den Stärksten hielt; dann kam der andere, dessen Fuss nicht mehr in die Lücke gepasst hatte, zum Zug. Wer gewählt worden war, stellte sich hinter seinen Anführer. Zuletzt wurden die Schwachen aufgeteilt. Regelmässig blieb ich verloren in der Mitte stehen und wurde dann mitleidig der einen oder anderen Mannschaft zugeschoben. Manchmal hatte der Lehrer Mitleid und bestimmte die zwei Schwächsten, damit sie Fuss um Fuss aufeinander zugingen und dann die Mannschaft wählten. Dann dufte ich die Stärksten hinter mich stellen.

Einmal veranstaltete der Lehrer ein Fussballturnier mit regulären elf Spielern pro Mannschaft. Nur zwei waren in keiner Mannschaft untergekommen, Holger Schaaf und ich. Holger Schaaf sah mit seinen zehn, elf Jahren schon aus wie ein Gelehrter: Brille, Igelfrisur und krummer Rücken. Er las Bücher wie „Götter, Gräber und Gelehrte“ und „Die Bibel hat doch recht“. Während des Turniers schlichen dann Holger Schaaf und ich unter den mitleidigen Blicken des Sportlehrers am Spielfeldrand auf und ab.

Vom Unterrichtsgeschehen bekam ich offenbar wenig mit. Wahrscheinlich träumte ich. Ab und zu versuchte ich, aus der Dämmerung aufzutauchen. Ich nahm mir vor, mich zu melden und etwas zu sagen. Mitarbeit nannte man das. Ich fühlte mich gut, wenn ich etwas fragen oder beitragen konnte. Leider hielt der Elan nie lange vor. Unter den zahlreichen Klassenarbeiten litt ich nicht. Nur die Ergebnisse waren allzu oft bedrückend. Die Noten waren nie gut, und manche waren ausgesprochen schlecht. Anders Karl. Was aber mein Verhältnis zu ihm nicht beeinflusste.

Nur einmal. Da wäre ich vor Scham am liebsten im Boden versunken. Karls Vater, ein strenger und schroffer Charakter, den man nie lachend oder scherzend erlebte, hatte mit seiner Isetta uns beide ausnahmsweise vom Bahnhof abgeholt. Karl-Heinz erzählte seinem Vater sofort, er habe eine Eins in Mathe und eine Zwei in Englisch geschrieben. Stolz und Freude strahlten aus dem Gesicht des Vaters. Ich stand daneben und sagte nichts, bei mir waren es eine Fünf und eine Sechs gewesen.

Nicht nur den gemeinsamen Schulweg, auch die Nachmittage verbrachten Karl und ich oft zusammen. Jahrzehnte später, als ich zufällig einmal Karls ältere Schwester traf, sagte diese, ich habe damals wohl kein Zuhause gehabt, da ich immer bei ihnen gewesen sei. Es tat weh, das zu hören.

In der Schule kam keine Freude auf. Nach Weihnachten kam der Blaue Brief, mit dem die Nichtversetzung angedroht wurde. Ich hatte die Illusion, meine gelegentlichen Wortmeldungen im Unterricht könnten die schlechten Klassenarbeiten kompensieren.

Am Ende der Quinta konnte ich dann am letzten Schultag zu Hause bleiben. Das Zeugnis über die Nichtversetzung war am Tag zuvor mit der Post gekommen. In meiner unendlichen Traurigkeit hackte ich stundenlang Feuerholz klein. Am Nachmittag kam die Grossmutter hinzu. Sie habe es gerade von Karls Grossmutter erfahren; sie selbst habe ja wie immer von nichts gewusst.

Am Wochenende kam dann der Vater nach Hause und versuchte mit ernster Ansprache das Problem zu lösen. Ein Internat wurde vorgeschlagen. Wortlos, ohne nach Einzelheiten zu fragen, ohne eine Meinung zu äussern, stand ich da mit gesenktem Kopf, bis die mahnenden Worte des Vaters ein Ende gefunden hatten.

Ich kam dann noch einmal in die Quinta, mit neuen Lehrern und neuen Mitschülern. Sonst änderte sich nicht viel, Auch der Schulweg mit Karl blieb gleich.

Gegen Ende des Schuljahres zog unsere Familie weg. Mit Karl sprach ich nicht darüber. Als wir am letzten Schultag auf der Heimfahrt auseinandergingen, ich bog nach links ab, Karl hatte noch etwas geradeaus zu fahren, sagte er wie jeden Tag einfach „Tschüss“. Kein Händedruck, kein „Wir bleiben in Verbindung“, kein „Wir schreiben uns“.

Meine Mutter hatte mich von der Schule abgemeldet und dabei mit dem Klassenlehrer gesprochen, einem der vielen Pädagogen, die es mit denen hielten, die sowieso schon gut waren. „Wenn Ihr Sohn sich nicht anstrengt, wird er die Schule nicht schaffen.“ Meine Mutter empörte sich über den Pädagogen, aber ganz Unrecht sollte er nicht gehabt haben.

Waren es glückliche Zeiten? Aus dem Rückblick, eher nein. Es waren andere Zeiten. Wir hatten keinen Fernseher und keinen Kühlschrank. Die Bäckersfamilie hatte den ersten Fernseher im Dorf, anlässlich der Olympiade 1960 in Rom. Die Familie saß im Wohnzimmer und schaute Leichtathletik, wir Kinder verfolgten das Geschehen durch das offene Fenster von draußen. Kurzzeitig gab es eine zweite Gastwirtschaft, und in beiden Lokalen stand ebenfalls ein Fernseher. Meine Mutter empfand es als skandalös, dass die Leute nach der Chorprobe in der Wirtschaft blieben, um Familie Hesselbach zu sehen. Zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils brachte der Lehrer die ganze Schule dort vor den Fernseher, und wir verfolgten stundenlang den Einzug der geistlichen Gewänder in den Petersdom. Die Familie von Karl bekam dann auch einen Fernseher, das wird aber schon 1965 gewesen sein. Seine ältere Schwester schaute dann am Samstagnachmittag den Beat Club mit Uschi Nerke und Manfred Sexauer und wippte dazu rhythmisch auf dem Stuhl. Und die Großmutter kommentierte die Fußballübertragungen mit der klassischen Bemerkung, warum man denn nicht jedem Spieler einen Ball gäbe.
Kühlschränke hatten dann fast alle, nur wir nicht. Ich schämte mich deshalb vor meinem Schulfreund und log ihm einmal vor, unser Kühlschrank stünde oben auf der Treppe. Im Sommer war die Butter weich, und im Winter machte meine Mutter draußen im Schnee Schokoladeneis.
Stundenlang konnte man auf der Durchgangsstraße Ball spielen. Es gab kaum Autoverkehr, auch wenn manchmal ein Huhn totgefahren wurde. Der Vater von Karl-Heinz fuhr eine Isetta, der Bürgermeister einen Messerschmitt Kabinenroller und manchmal sah man ein Goggomobil. Mein Vater fuhr einen alten VW Käfer, den er von seinem Onkel bekommen hatte; die Scheibenwischer waren oben befestigt, und wollte man abbiegen, ließ man den orangefarbenen Winker seitlich ausfahren; Blinker gab es noch nicht. Begegneten sich zwei Autofahrer mit dem gleichen Auto an einer Kreuzung, hielten sie an und begrüßten sich. Auch bei uns nahm der Wohlstand zu. Mein Vater fuhr dann einen immer stinkenden DKW und schließlich einen Ford Taunus 17M mit Weißwandreifen und Lenkradschaltung. Ein Telefon hatten nur der Pfarrer und der Bürgermeister.
Es war eine Zeit des Mangels. Zum Frühstück Wurst oder Käse zu essen, war Tabu. Fleisch gab es maximal zweimal die Woche, davon einmal Gulasch, das man strecken konnte. An einem Sonntagshuhn aß die Familie zwei Tage; montags wurden die Knochen geschabt, und es gab Frikassee. Auf das Schulbrot bekam ich Butter, einen Tag mit Salz, den anderen mit Zucker. Nur bei den Bauern gab es reichhaltiges Essen. Vor Karl-Heinz, der aus einer Bauernfamilie kam und immer dick Wurst auf dem Brot schämte ich mich deswegen und sagte dann, ich hätte wieder Käse auf dem Brot.
Es war nicht üblich, dass Kinder Taschengeld erhielten. Fand eine Trauung statt, sperrten wir Kinder das Kirchengelände mit einem Seil ab, und die Hochzeitsgesellschaft musste sich den Durchgang erkaufen, indem sie Münzen warf. Wir stützten uns dann auf die Pfennigmünzen, holten uns blutige Kniee und Hände. Die Stärksten und Schnellsten rafften am meisten. Manchmal wurde eine Handvoll Münzen etwa abseits geworfen, und die ganze Kinderhorde stützte dann dorthin, fiel auf- und übereinander, und am Ende des unwürdigen Schauspiels hatte man dann plus minus eine Mark in Pfennigen in der Hand, die man sparen sollte.
In Urlaub fuhr niemand. Man kannte den Ausdruck nicht. Die Bauern waren unabkömmlich, und die Männer arbeiteten samstags noch den halben Tag. Hatten sie Urlaub, bestellten sie den der Selbstversorgung dienenden Garten oder führten Arbeiten am Haus aus.
Wir wussten, dass es andere Länder gab. Ein beliebtes Spiel von uns Kindern bestand darin, Hauptstädte abzufragen. Ich kannte sie alle. Die ersten Ausländer, die ich sah, waren die endlosen Panzerkolonnen mit amerikanischen Soldaten. Stundenlang standen wir am Straßenrand und schauten den lauten stinkenden Ungeheuern aus Metall nach. Es muss im Winter 1963/64 gewesen sein, ich sprach schon etwas Englisch, da kamen amerikanische Soldaten zum Manöver. Außerhalb des Dorfes an einem Bach hatten sie ihr Lager aufgeschlagen. Es war kalt, und die Zelte wurden mit Warmluftgebläsen geheizt. Baumlange Schwarze boten mir Kekse, Schokolade und Bier an. Ihre selbstverständliche Freundlichkeit gefiel mir.
Um die gleiche Zeit müssen die ersten Italiener in unsere Gegend gekommen sein. Auf halber Strecke zwischen unserem Dorf und dem Bahnhof war ein Barackenlager für die „Gastarbeiter“ errichtet worden. Morgens und sechs gingen die armen Kerle zu Fuß die zwei bis drei Kilometer bis zur Metallfabrik, in der sie arbeiteten. Geld für Fahrräder hatten sie noch nicht. Vor den dunkelhäutigen Gesichtern hatte ich Angst. Ältere Jungs hatten mir gesagt, die Italiener seien gefährlich, jeder trage ein Messer und würde damit ohne zu zögern zustechen. Würde ich einen Italiener sehen, sollte ich „Porco Dio“ schreien und dann kräftig in die Pedale treten. Den Fluch verkniff ich mir, aber jedes Mal, wenn ich in der morgendlichen Dunkelheit mit dem Fahrrad einen Italiener überholte, versuchte ich so schnell wie möglich Distanz zu gewinnen. Die Angst legte sich, als ein entfernter Verwandter begann, sonntags seine italienischen Kollegen einzuladen. Er spazierte mit ihnen durch das Dorf und gab Sprachunterricht: „Das Kuh“ und zeigte dann mit dem Finger auf das Braunvieh.
Für Kinder gab es kein Freizeitprogramm. Stets musste ich im Haushalt mithelfen: Schuhe putzen, Geschirr spülen, Feuerholz im Hof zerkleinern, mit Sack und Sichel losziehen, um Hasenfutter zu holen, zum Bäcker gehen und ähnliches mehr.
War das Wetter schön, war man draußen. Man streifte durch die Gemarkung, schnitt Stöcke, baute Flitzebogen und Drachen, schnitzte Schiffchen aus der Fichtenrinde, staute Bäche. Meist jagte man einem Ball hinterher, zwei gegen zwei, oder drei gegen zwei, weil es so wenige Kinder gab. War ich nicht draußen oder gar krank mit einer der unzähligen, aber normalen Kinderkrankheiten, dann las ich. Ich verschlang alles, was ich bekommen konnte, von Karl May bis Faust II, von dem wir eine sehr schön illustrierte Ausgabe hatten, und ich versuchte, die Verse zu den Bildern zu finden. Karl May hatte es mir angetan. Es dauerte nur wenige Jahre, dann hatte ich die 70 Bände durch. Ich lebte mit Winnetou und Kara Ben Nemsi, wobei mir die nationalistisch gefärbte christliche Milde schon auf den Nerven ging. Für mich musste Winnetou nicht Christ werden, und ich wollte es nie verstehen, das Kara Ben Nemsi den Bösewicht immer wieder laufen ließ, um ihn dann fünf Bände hindurch zu verfolgen. Deshalb gefielen mir noch besser die Erzählungen, die in China, in Mexiko, in Afrika und auch in Deutschland spielten. Meine Eltern waren Mitglieder einer Buchgemeinschaft, und so gab es eine bescheidene Ansammlung von Büchern. Manche las ich, Wilhelm Busch konnte ich auswendig, andere blätterte ich nach erotisierenden Stellen durch. Der Erlebnisbericht eines katholischen Priesters, der den Dachauer Todesmarsch überlebt hatte, war zutiefst prägend. Leider ist die Nachkriegsbroschur nicht mehr vorhanden, und es würde mich auch interessieren, wie sie in unseren Haushalt gekommen war.
Über das Weltgeschehen war ich informiert. Täglich las ich die Zeitung, von Politik bis Sport. Und wir hörten Radio. Den Bau der Berliner Mauer, die Kubakrise, verfolgten wir mit dem Ohr am Radio. Meine Mutter hatte Angst vor einem neuen Weltkrieg. Und natürlich auch die Fußballübertragungen. Den Sturm der brasilianischen Weltmeisterelf von 1962 mit Zagallo, Pelé, Vava, Garincha und Didi habe ich nie vergessen. Die Mutter meines Vaters, die über uns wohnte, hatte noch ein großes altes Radio. Auf einer erleuchteten Glasplatte standen die Sender, die man anwählen konnte. Beromünster, ein Klang wie ein Zauberwort.
Als ich dann etwas älter war, wurde ich während der Sommerferien, die damals vier Wochen dauerten, zu den bigotten Tanten geschickt. Zunächst 1964 Tante Paula, streng, selbstgerecht und rechthaberisch, kalt, ohne Herz und Humor. Der Onkel war Nazi und versuchte immer noch, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Er unterstützte die gerade gegründete NPD. Trafen Männer zusammen, sprachen sie über ihre Kriegserlebnisse und wie die verlorenen Schlachten hätten gewonnen werden können. Er hasste die Amerikaner, sprach davon, ich weiß nicht mehr, in welcher Situation, dass er gerne noch sieben, acht von ihnen mit seiner MP zu Tode gebracht hätte. Es gab Fernsehen, das Programm begann jedoch erst um 20 Uhr mit der Tagesschau, die ich mit dem Onkel schaute und dabei das Weltgeschehen kommentiert bekam. Von heute aus gesehen entbehrt es nicht der Komik, dass er angesichts des Tonkin-Zwischenfalls mit dem Vietcong sympathisierte. Sonst war es öde, zu lesen gab es nur Hitlers „Mein Kampf“ und die Bibel, letztere zum Glück mit Holzschnittillustrationen. Das mythische Geraune um Hitlers krude und verworrene Ideen empfand ich als völlig deplatziert. Ich wusste, dass das Hirngespinst von Lebensraum im Osten unzähligen Millionen von Menschen das Leben gekostet hatte, und ich kannte keine Juden, die ich für irgendein Unglück hätte verantwortlich machen können.
Im Jahr darauf kam ich zu Tante Elisabeth. Es war gleich öde. Mir sind noch zwei Episoden in Erinnerung. Die erste ist, dass der Onkle in Garten ein Mäusenest entdeckte und alle neugeborenen, noch blinde Mäuse mit dem Spaten abstach. Das Zweite, dass man mich eines Sonntagnachmittags ins Kino schickte. Es wurde ein Western gezeigt. Ich schloss ständig die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie die in den Bauch Geschossenen tot hinwegkugelten. Die Filmtoten gingen mir so nahe wie richtige Tote. Als ich in der Pause aufs Klo musste, ging ich nicht mehr in den Kinosaal zurück. Von seinem Haus aus hatte der Onkel das Kino mit dem Fernglas beobachtet. Ich war zu früh wieder zu Hause. Da ich nicht sagen wollte, dass der Film schrecklich war, tat ich so, als hätte ich geglaubt, mit der Pause wäre der Film zu Ende.
Nazi-Onkel und verklärende Kriegserzählungen konnten meiner Sensibilität nichts anhaben. Prägend und bis heute unvergesslich war die täglichen Berichte in der Lokalzeitung über den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ich war mittlerweile elf, zwölf Jahre alt und wusste, was Bogner-Schaukel und Schwarze Wand waren.
Die Schulzeit auf dem Dorf, bis zum dreizehnten Lebensjahr, war es Heimat? Wo ich mich geboren fühlte und wohin ich wieder zurückwollte? Entschieden Nein. Es gab zu viele Tabus, keine offenen Gespräche, keine wirkliche Freundschaft, keine Geborgenheit außerhalb von Büchern und Träumen. Als Jugendlicher bin ich nur noch zweimal zurückgekommen. Karl hatte mich zu seiner Konfirmation eingeladen, und zur Beerdigung meiner Großmutter.
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo pittipu, herzlich Willkommen in der Leselupe!


Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von ENachtigall

Redakteur in diesem Forum
 
Bravo, pittipu! So viel authentischer Stoff, der dem Thema angemessen hier dargeboten wird: lakonisch, schnell hintereinander erzählt. Im Ergebnis entsteht ein detailliertes, dunkel getöntes Bild einer Zeit, die so weit weggerückt ist, sowohl nach Jahren als auch durch die totale Veränderung fast aller Lebensumstände. Es ist beinahe ein Vexierbild, zugleich fern und nah, je nachdem, wie der Blick auf die Verhältnisse gerade gerichtet ist, aus heutiger Perspektive oder sich ins Damalige hineinversetzend.

Ein bisschen meckern könnte ich schon: mehr Gliederung des sehr langen Textes durch blockhafte Absätze, bitte. Insoweit bist du uneinheitlich verfahren. Am besten ist es in der Mitte gelungen. - Es sind nur wenige Tippfehler drin: in der Metallfabrik (1. Absatz), wir stürzten uns auf die Pfennigmünzen (Hochzeitsepisode). All das fällt fast nicht ins Gewicht.

Den dokumentarischen Wert des Textes veranschlage ich ziemlich hoch. Ich bin etwa um dieselbe Zeit Schüler gewesen und habe vieles wiedererkannt.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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