Schwarzer Frühling

Frühling sieht anders aus,dachte sie. Obwohl im April das Wetter ja immer verrückt spielte.
Josefine lag in ihrem Bett und schaute sinnend zum Fenster hinaus. Sie sah in der Ferne dunkle Wolken aufkommen und wusste, dass ein Gewitter nicht mehr fern war.
Ein Gewitter ist reinigend, dachte sie, es soll ruhig kommen. Und Frühlingsregen macht schöne Haut.
Das hatte ihre Mutter früher oft gesagt. Wie so vieles, was nicht unbedingt stimmen musste, wie sie manchmal herausgefunden hatte.
Sie betrachtete ihre dünnen Arme und fand, dass sie ziemlich fahl und ein bisschen wie Pergament aussahen. Da würde auch ein kräftiger Regenguss nicht mehr viel ausrichten können.
Im Prinzip war es ihr auch egal. Der Tod stand schon lange an ihrem Bett und beobachtete sie. Ihre Haut spiegelte nur ihren allgemeinen Zustand wider...

„Guten Morgen, Schwesterchen“, hörte sie von der Türe nun die fröhliche Stimme ihrer Schwester Aimée.
Sie wandte ihren Kopf und zwang sich, ein wenig zu lächeln. „Es wird ein Gewitter geben“, sagte sie leise. „Zieh´ den Antennenstecker aus dem Fernseher.“
„Ach Josie, um was du dir immer Sorgen machst“, lachte ihre Schwester. „Wir haben doch einen Blitzableiter. Der wird schon dafür sorgen, dass hier nirgendwo der Blitz einschlägt.“
„Trotzdem....“, protestierte Josefine schwach. „Man weiß ja nie“.

Aimée war nun am Bett angekommen und umarmte Josefine so vorsichtig, als ob sie ein zerbrechliches Ei wäre. Elendig und schwach sieht sie aus, dachte sie. Kein Wunder, sie isst ja auch kaum etwas.

„Soll ich dir ein leckeres Frühstück machen? Du magst doch gerne Omelette. Ich könnte dir eins mit Krabben zubereiten. Habe extra gestern für dich schon mal einige gepuhlt. Und du weißt, wie schwer ich mich immer damit tue.“
Aimée hob den Körper ihrer Schwester ein wenig an, so dass sie sitzen konnte und schüttelte ihr das Kopfkissen auf. Das war ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Nach jeder Umarmung das Kissen aufschütteln. Josefine mochte es, sich dann wieder sanft zurück legen zu können. Dicke, flauschige Kissengeborgenheit.
Dankbar sah sie Aimée an. „Du musst dir nicht immer soviel Mühe machen. Ich habe auch überhaupt keinen Appetit.“
„Der kommt beim Essen“, konterte ihre Schwester. „Und Mühe macht es mir überhaupt nicht. In ein paar Minuten ist alles fertig. Du weißt doch, dass es mir nichts ausmacht. Ich würde sogar mit dir zusammen essen. Na, ist das ein Angebot ?“
Josefine musste wieder lächeln. Das war wirklich außergewöhnlich. Denn sie wusste, dass sie es nur ihr zuliebe tat. Normalerweise aß Aimée morgens nur einen Apfel oder einen Joghurt und hatte überhaupt keine Lust auf das, was die Leute ein normales Frühstück nennen. Das ging alles zu Lasten ihrer Figur, die sie sich unbedingt erhalten wollte, als gefragtes Model.

Auch Josefine hatte jahrelang gemodelt. Sie hatte viel Geld damit verdient. Letztendlich jedoch dafür einen noch höheren Preis gezahlt. Um ihre Maße zu halten, aß sie immer sehr wenig bis gar nichts. Dann kam noch die Magersucht hinzu. Sie konnte und wollte nichts mehr bei sich behalten. Empfand sich ständig als zu dick und erbrach sich direkt nach dem kleinsten Bissen wieder.
Etliche Therapien und Krankenhausaufenthalte hatten nichts gebracht. Sie wurde trotzdem immer dünner. Modeln konnte sie schon lange nicht mehr. Ihre Gesundheit ließ es nicht zu.
Und mit der Zeit verlor sie Stück für Stück ihre einst strahlend weißen Zähne und auch ihre goldblonden, langen Haare fielen ihr nach und nach aus. Sie hatten keinerlei Glanz mehr und wirkten stumpf und leblos. Ihre Augen erschienen riesengroß in dem kleinen hohlwangigen Gesicht.
Josefine war mittlerweile nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Eigentlich hätte sie zwangsernährt werden müssen, wie noch vor 3 Monaten, als sie nur noch 38 kg gewogen hatte. Ihre Nieren machten ihr zu schaffen und auch schwere Herzrhythmusstörungen waren eine Folge ihrer Krankheit.
Nachdem die Ärzte es geschafft hatten, sie wieder so aufzupäppeln, dass sie eigentlich nach Hause hätte entlassen werden können, diagnostizierten sie ihr kurz vor der eigentlichen Abschlussuntersuchung etwas Schreckliches. Speiseröhrenkrebs !
Eine Operation, um die Tumore zu entfernen, wäre bei ihrem noch schwachen Allgemeinzustand nicht in Frage gekommen. Die einzige Alternative hieß Chemotherapie oder Bestrahlung.
Das aber lehnte Josefine entschieden ab. Infolgedessen hatte sie schon bald starke Schluckbeschwerden. Da diese auch mit Schmerzen verbunden waren, ließ sie sich zumindest darauf ein, sich einen Stent setzen zu lassen, ein kleines Kunststoffröhrchen, welcher die Engstelle in ihrer Speiseröhre offen hielt und ihr so wieder das schlucken ermöglichte. Und dem hatte sie auch nur zugestimmt, weil ihr ansonsten wieder die Magensonde hätte gesetzt werden müssen.
Ab da wusste Josefine, dass ihre Tage gezählt waren. Tage, in denen sie anfing rückblickend auf ihr Leben zu schauen.
Wie hatte das alles angefangen? Ihre selbstsüchtige, dominante Mutter hatte ihre Familie von einem Tag auf den anderen verlassen. Nichts war ihr gut genug gewesen und die Quengelei ihrer damals noch kleinen Mädchen war ihr auf die Nerven gegangen.
Ihr Vater fand als Abschiedsgeschenk ihren Ehering und einen Zettel auf dem Tisch. Darauf stand: Sieh zu wie du mit den Gören klar kommst in deiner kleinen spießigen Welt! Ich bin weg.
Von dieser Zeit an begann ihr Vater sich zu verändern. Er fing an zu trinken. Erst nur abends beim fernsehen. Später schon am frühen Nachmittag und sehr viel später rund um die Uhr. Sein Charakter veränderte sich auch.
Josefine und Aimée litten sehr unter seinen Aggressionen, die sich dann bei ihm freisetzten. Er neigte zu jähzornigen Gewaltausbrüchen, die sie stets mit Prügeln zu zahlen hatten, verhängte willkürlich unsinnige Strafen und bald schlichen die Mädchen nur noch, wie um sich unsichtbar zu machen, im Haus herum.
Dann kam der Tag, an dem er sich Josefine eines Tages schnappte und sie zwang ihm sexuell zur Verfügung zu stehen. Sie wäre alt genug, um eine richtige Frau zu werden, meinte er. Und nach anfänglichem Widerstand, den er natürlich, wie es mittlerweile seine Art war, mit roher Gewalt brach, ließ sie alles über sich ergehen. Viele Tage und Nächte lang...
Sie fing an ihren Körper zu hassen. Während andere Mädchen stolz ihren Busen mit Pushup BHs betonten und offenherzig die knappsten Tops trugen, versuchte sie ihre kleinen Brüste zu verbergen und zog es vor, XXL- T-Shirts und weite Schlabberhosen zu tragen.
Nur nicht auffallen. Nur nicht erwachsen werden. Immer klein bleiben - das war ihr Wunsch.
Aber sie war nun mal leider doch schon etwas zu sehr entwickelt für ihren Vater, der sie niemals in Ruhe ließ.
Später war er bei einem Verkehrsunfall, bei dem er betrunken am Steuer gesessen hatte, zu Tode gekommen. Endlich war sie ihren Peiniger los, den sie in manchen Stunden tatsächlich zur Hölle gewünscht hatte. Aber ihre Erleichterung währte nur kurz. Zunehmend machte sich bei ihr ein schlechtes Gewissen breit. Denn schließlich war er ja trotz allem ihr Vater. Sollten ihre Verfluchungen daran schuld gewesen sein, dass ihm so etwas geschehen war ?

Bei einer ihrer ersten und den darauf folgenden Therapien hatte man deshalb versucht, vermehrt an ihren Schuldgefühlen zu arbeiten. Ohne Erfolg. Ihre Mutter hatte sie verlassen. Auch dafür gab sie natürlich sich die Schuld.
Ihr Vater konnte ja gar nicht anders, als sich an ihr zu vergreifen. Er war ja so ein bedauernswerter Mensch, hatte sie am Anfang noch geglaubt. Und schließlich war es ja ihre Schuld, dass Mama weggegangen war...

Aimée hatte sich in all der Zeit rührend um sie gekümmert. Die Ereignisse hatten die Schwestern noch enger zusammen wachsen lassen. Aimée war Josefines Schicksal erspart geblieben. Er hatte sie in Ruhe gelassen, weil sie immer schon stärker und aufmüpfiger gewesen war und sich zu wehren wusste. Nach ein, zwei halbherzigen Versuchen hatte ihr Vater bei ihr aufgegeben.
Prügel hatte Aimée trotzdem bekommen, genauso wie Josefine. Dagegen konnte sie sich nicht wehren.

Und jetzt war sie also am Ende Lebens angekommen. Mit nur 29 Jahren war Schluss. Es fühlt sich gar nicht so schlimm an, dachte Josefine. Sie hatte sich den Tod schlimmer vorgestellt.

Im Hintergrund hörte sie ein dumpfes klirrendes Geräusch. Und dann wie durch Watte den Schrei ihrer Schwester. „Nein, Josie ! Verlass mich noch nicht !“
Doch auch das rückte langsam in weite Ferne. Sie fühlte sich leicht und fröhlich. Keine Spur mehr von Krankheit und Schwäche.
Aimée hatte das Tablett mit dem Frühstück fallen gelassen und stürzte sich auf ihre Schwester, um sie zu umarmen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie hatte sofort erkannt, dass es jetzt soweit war. Der Tod stand neben ihrem Bett und hatte sie in seine Arme genommen. Josefines Hände wanderten über die Bettdecke. Flocken sammeln. Flocken, die nur sie sehen konnte vor ihrem geistigen Auge. Lebensmomente, die sie einfangen, sich noch einmal ansehen und mitnehmen wollte.
„Du darfst mich nicht alleine lassen! Josie, hörst du ! Komm zurück ! Ich liebe dich doch !“
Dann sah sie den entspannten, entrückten Gesichtsausdruck im Gesicht ihrer Schwester. In diesem Moment wusste Aimée, dass sie loslassen musste, damit ihre Schwester in Ruhe gehen konnte.
Alles andere wäre egoistisch gewesen. Sie sollte ihren Frieden finden. Endlich.
Ein greller Blitz erhellte das Zimmer für Sekunden. Dem folgte ein dröhnender Donnerschlag.
„Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass der Blitz hier nicht einschlägt....“

Dann nahm sie Josefines Hand in die ihre und blieb bei ihr sitzen, bis das Gewitter endlich nachließ.


© Tilli Ulenspeel
 

rothsten

Mitglied
Hallo TilliUlenspeel,

ein bedrückendes Thema, das Du hier verarbeitest. Es ist Dir fast gelungen, mich mitfühlen zu lassen. Warum nur fast? Ein Erklärungsversuch:

Wie hatte das alles angefangen?
Was folgt, ist überwiegend eine Erzählung darüber, was passiert ist, was der Grund von Josefines Magersucht ist.

Was ist schlecht daran, die Geschehnisse zu erzählen? --> Du nimmst dem Leser Raum für eigenes Denken, für eigenes Ausmalen, was passieren könnte, und letztlich geht das Einfühlen flöten - das Todesurteil jeder Prosa.

Ich mache es an Sätzen fest:

Ihre [blue]selbstsüchtige, dominante[/blue] Mutter hatte ihre Familie von einem Tag auf den anderen verlassen. Nichts war ihr gut genug gewesen und die Quengelei ihrer damals noch kleinen Mädchen war ihr auf die Nerven gegangen.
Die markierten Adjektive sind Ergebnisse. Warum ist die Mutter so? DAS hättest Du zeigen sollen, dann wäre die Mutter dreidimensional geworden. So bleibt sie ein Strich in der Landschaft, leblos und für den Leser nicht greifbar.

Sieh zu wie du mit den Gören klar kommst in deiner kleinen spießigen Welt! Ich bin weg.
Warum geht sie? Die Frage nach dem Warum ist Dreh- und Angelpunkt in Josefines Lebenskrise. An dieser Krise geht das Mädel zu Grunde, da muss entschieden mehr an Erklärung kommen als ein schlichtes "ich bin dann mal weg, du Spießer".

Der Vater ist deutlich besser dargestellt, da Du ihm mehr Raum widmest. Aber auch hier gibt es Schwächen in seiner Darstellung:

Sein Charakter veränderte sich auch.
Wie? Warum? Wohin?

Mein Fazit:
Dein Schreibstil ist schon brauchbar, abgesehen von kleineren Schwächen wie Füllwörtern und umständlichen, passiven Umschreibungen von Handlungen.

Das Hauptproblem Deines Textes ist meiner Meinung nach die Eindimensionalität Deiner Figuren. Schenk ihnen mehr Leben, mach Dich mit Ihnen vertraut, frage Dich, warum sie sind, wie sie sind etc.

Du hast auf einen Schlag mehrere Texte hochgeladen. Ich rate Dir, erstmal diese zu feilen, bevor Du neue einstellst.

Hoffe, meine Kritik ist für Dich brauchbar.

lg
 



 
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