Schweigsam

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Schweigsam

Sie wirft die Tür zu seinem Zimmer mit einem fröhlichen Lächeln auf und läuft zielstrebig zu einem großen, bequemen Sessel. „Heute habe ich dir was Neues mitgebracht. Ich habe dir doch genau angesehen, dass dir das letzte Buch nicht gefallen hat. Zu viel Kitsch und Liebe. Auch wenn ich glaube, dass dir das insgeheim gefällt, du alter Romantiker. Gib es ruhig zu.“
Sein Blick ist unergründlich. „Überredet, ich verrate es dir. \'Eine wie Alaska‘ von John Green. Es gibt höchstens ein bisschen Liebe, versprochen. Dafür ganz viel Schuld und Gewissensbisse. Wird dir gefallen.“

Während sie liest, wandert ihr Blick durch sein Zimmer, bleibt an den leeren Wänden hängen. Auf dem Nachttisch ein gerahmtes Bild von ihm als kleiner Junge, eingekesselt zwischen seinen Eltern, im Hintergrund ein Weihnachtsbaum. Zahnpastalächeln reiht sich an Zahnlücke reiht sich an Zahnpastalächeln. Sie erinnert sich an sein altes Zimmer, an die vielen Fotos. Fotos von ihr und den Anderen, Fotos von lauen Sommerabenden und Ferienlagern am See. Immer mittendrin er, mit seinem ansteckenden Lachen. Es kommt ihr vor, als seien diese Aufnahmen eine Ewigkeit her.

Als sie vom vielen Vorlesen heiser wird, gießt sie sich ein Glas Wasser ein. „Möchtest du auch was? Oder hast du noch?“, fragt sie und betrachtet die durchsichtige Flüssigkeit, die aus dem Beutel durch den Schlauch tropft. TROPF, TROPF. „Sie sollten dir echt mal was Vernünftiges in den Beutel füllen, oder wenigstens etwas mit Geschmack!“ Sie sieht ihn lächeln. „Wusst‘ ich‘s doch! Tu nur weiter so, ich verrate dich nicht.“

Sie rollt sich zufrieden auf dem Sessel zusammen, zieht die Knie an und liest weiter vor, Geschichten aus dem Internat, Geschichten von drei Freunden, die nur Unsinn im Kopf haben, Geschichten von Tragödien und die Frage, wer sie hätte verhindern können. Die tropfende Flüssigkeit wird in ihrem Kopf immer lauter, fängt an zu dröhnen, TROPF TROPF, TROPF und lässt sie immer wieder in der Zeile verrutschen. Das Geräusch erinnert sie an den Regen, der in der Nacht gegen die Scheiben des Fiat Pandas getropft ist. Dicke blaue Rauchschwaden zogen durch den Innenraum des Kleinwagens, als sie zu sechst durch die Nacht fuhren und sich so frei fühlten.

Sie kann sich nicht mehr erinnern wessen Idee es gewesen war, aber noch ganz genau daran, dass sie nach dieser Nacht nur noch wenige Worte miteinander gewechselt hatten. Zu fünft saßen sie im Büro ihres Schulleiters vor dem Schreibtisch aus dunkler, alter Eiche, die Blicke starr auf ihre Fußspitzen gerichtet. Zwei Polizisten stellten Fragen, der Schulleiter stand mit undurchschaubarer Miene am Fenster, ihre Eltern warteten vor der Tür. Der Regen der Nacht war längst getrocknet.
Als ihr die Augen zufallen, steht sie auf und öffnet ein Fenster. „Du musst öfter lüften!“ Sie weiß, dass er sie hört und sie weiß, dass er theatralisch seufzend ein Fenster öffnen wird. Eines Tages. Schon lange behält sie dieses Wissen für sich. Zu verletzend waren in der Vergangenheit die mitleidigen Blicke, die solche Sätze hervorgerufen haben. Sie hätte schreien wollen.

„Ich komme morgen wieder.“

Auf dem Gang trifft sie Schwester Rita. „Was hast du ihm heute vorgelesen?“ „Einen Roman, den wir gerade in der Schule lesen. So verliert er den Anschluss nicht.“ „Weißt du, es tut ihm gut, dass du für ihn da bist.“

Sie lächelt die dicke, gutmütige, ältliche Schwester an, dreht sich um und verlässt zügig den nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel riechenden Flur. „Sie kommt jeden Tag hierher, von Anfang an. Sie hat dem Jungen sicher schon an die hundert Bücher vorgelesen. Sie gibt die Hoffnung nicht auf.“, hört sie Schwester Rita leise zu ihrer Kollegin sagen. Aber sie weiß, es ist keine Hoffnung. Es ist Gewissheit. Gewissheit, das Wort rinnt durch ihr Bewusstsein, als sie durch die Pforte auf die Straße tritt. TROPF TROPF. Dicke Regentropfen perlen von ihrem Kopf, laufen ihr Haar und ihr Gesicht herab und vermischen sich auf den Wangen mit salzigen Tränen, als sie auf ihr Fahrrad steigt und in ihr neues Leben zurückfährt.
 



 
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