Scrooge vs. Dutschke - Anekdote von 1968

Die amerikanische Garnison in Mannheim-Sandhofen lud Mannheimer Bürger, darunter viele Honoratioren – versteht sich! – zu einem Adventsgottesdienst ein. Als Einlage war – was die Deutschen nicht wussten – das Auftreten einer Dickensschen Figur geplant: Scrooge, der böse, alte, von Geiz und Visionen Geplagte, sollte einen Monolog halten, damit den GIs wie ihren Gästen der Sinn für den eigentlichen Gehalt des Weihnachtsfestes geschärft würde. Man bestimmte ein jüngeres Mitglied des Armeechores, stattete ihn mit Bart und etwas vernachlässigter Kleidung nach der Mode von 1870 aus. Der lernte sein Sprüchlein und betrat zur festgesetzten Zeit das Gotteshaus – aber da war alles umsonst gewesen: Die Deutschen, die auf den hinteren Bänken saßen, hielten ihn nämlich für einen „randalierenden Studenten“! Blind vor Wut pöbelten sie ihn an, hysterisches Gezeter erhob sich und der junge GI rettete sich vor ihren Handgreiflichkeiten unter seine Kameraden im Chor. Es muss noch längere Zeit gedauert haben, bis man die neurotischen Tölpel vom wahren Sachverhalt überzeugt hatte. Ein Herr, der partout nicht davon lassen wollte, es müsse sich hier um einen Dutschkisten handeln, stürzte zum nächsten Telefon und alarmierte die Redaktionen mehrerer Zeitungen. Diese hielten es nicht für nötig, die Information zu überprüfen; es erschienen sensationelle Artikel. Das Skandälchen zog noch Kreise.
 
Hallo Arno,

ich wünsche dir noch einen frohen Festtag, und ich gratuliere dir zu dieser Anekdote.

Scrooge vs Dutschke: Also, du hast mich auf ein paar Gedanken gebracht:
>Dutschke-Hysterie. Mal nachdenken. Nochmal nachdenken. The Young Rascals.

hysterisches Gezeter bei der Vorführung:
Hysterie: was sagt das Lexikon? Hysterie = neurotische Störung. Nerven. Die Psychologen verbinden die Störung mit verschiedenen negativen Vorstellungen des Patienten. Scrooge, z.B., ist von ängstlichen Visionen geplagt.

Dutschke: störte die Ruhe und den Genuss am wieder erlangten Wohlstand; bei den Bürgern entstand möglicherweise eine Vorstellung vom Abstieg. Bei diesem missverstandenen Monolog in der Garnison erfolgen Hysterie und Handgreiflichkeiten.
:Wenn du den Menschen etwas wegnimmst, dann musst du ihnen etwas anderes geben. Sonst werden die Scrooges hysterisch.
Zum Beispiel musst du überzeugend darlegen:
ein bisschen vom Wohlstand weg – ein bisschen Freude hinzu. Win-Win.
Dutschke wollte umverteilen, so wie ich das verstehe. Er hat anscheinend nicht überzeugend dargelegt, was die Geber fürs Weggeben bekommen. Er war wohl ein schlechter Verkäufer.

Scrooge: ist alt, grantig, geizig (Wikipedia: Dickens: A Christmas Carol). Er bekommt Besuch von seinen Geistern. Danach wird er spendabler, und er wird eingeladen. Scrooge gibt also Geld und bekommt Freude. DieGeister in der Geschichte sind gute Verkäufer. Win-Win.

Mal nachdenken.
Scrooge, der Bewahrer. Dutschke, der Veränderer. DieGeister, das Unterscheidungsvermögen.
Die Moral von Scrooge vs Dutschke:
Geiz vs Freigebigkeit?
Zehn Euro spenden!
Hört sich gut an, besonders zu Weihnachten. Super Umverteilung in memoriam Herrn Rudi.

(Hüstel)
Jetzt stellt sich mir doch noch eine Frage.
Sind zehn Euro ok? Oder wie viel soll einer denn jetzt geben?
DieGeister aus Dickens` Geschichte befragen:
Sie werden nicht ganz deutlich: Scrooge hat geteilt, aus Einsicht heraus. Er gibt von seinem Geld und erfährt die Wirkungen von Tugenden.
Und noch etwas sagen sie: er gab aus vollem Säckel. - Oha. Was heißt das jetzt??
Teilen funktioniert am besten aus einer Position der Fülle heraus. - Hm.

Klar. Geld allein macht nicht glücklich, aber beruhigt ungemein. Sicherheit und so.
Money makes the world go round.
Solange money da ist. Hoffentlich knickt die Konjunktur nicht ein.
Zehn Euro zu Weihnachten – ok. Kann auch ein bisschen mehr sein.
Höhere Steuern? Man muss vom Netto auch etwas für die Rente zurücklegen. Jeder braucht heutzutage ein Risiko-Polster.

Also, die Anekdote hat`s wirklich in sich.
Habe ich noch eine Frage frei?
Vielleicht sind DieGeister mit ihren Antworten heute in Spendierlaune, weil Weihnachten ist.
How can I be sure, in a world that is constantly changing?

Einen besinnlichen Abend und liebe Grüße. Rhondaly.
 
Danke, Rhondaly, für gute Wünsche, günstige Beurteilung und vor allem die an den Text geknüpften zahlreichen Fragen. Wer da immer eine einfache Antwort wüsste ... Die beschriebene Situation ist wohl eine Art von grundlegendem Missverständnis, das die Beteiligten im Nu ein bisschen alt aussehen lässt, die einen zu misstrauisch, die anderen zu naiv - und gleichzeitig den Unbeteiligten zu immer neuen Überlegungen verführt. Mich würde z.B. interessieren, wie Soldaten und deutsche Gäste den Eklat hinterher im Kopf verarbeitet haben.

Ein wenig erinnert die Geschichte auch an die bekannte Vorstellung, wie es Jesus von Nazareth ergehen würde, träte er in seiner gewohnten Weise in unserer Gegenwart auf. Vermutlich übel.

Schöne Abendgrüße
Arno
 



 
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