Sechs Tage im November (2/2)

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Till Braven

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Fortsetzung von "Sechs Tage im November (1/2)"


Elfter November.
Mitten in der Nacht endet mein Schlummern, hinter dem Fensterloch herrscht Dunkelheit. Im Raum brennt die Lampe, so wie stets nach der Dämmerung, denn man wird sie nur bei Tage ausschalten.
Ich setze mich auf die Liege, und ich wünschte mir, daß ich Schreibzeug hätte, denn dann bräuchte ich mir meine Überlegungen während dieser Phase nicht im Gedächtnis zu merken, sondern könnte sie, so wie in einem Tagebuch, notierend niederlegen. Aber diese Möglichkeit bleibt mir verwehrt, nicht weniger jene, einen Brief an die Menschen draußen abzuschicken. Auch habe ich, seit meiner Festnahme, mit Niemandem reden können, sonst hätte ich sicherlich nach einem Stift und einigen Bögen Papier gefragt, jedoch nicht wissend, ob in diesem Gebäude ein derartiger Wunsch gewährt werden würde, bedenkt man dabei doch, daß ich bei meiner Ankunft nicht einmal die Möglichkeit bekommen habe, kurz zu telefonieren.
Es dürfte sich um einen Irrtum gehandelt haben, als man mir am ersten Tag versicherte, es würde in Bälde jemand erscheinen, der ein Gespräch mit mir führen wolle, um einige Ungereimtheiten abzuklären. So erscheint es mir doch zusehens ungewöhnlich, wegen einer derartigen Lappalie eben so zu verfahren, indem der Auszufragende wie vergessen dahockt, über Tage hinweg.
Daher betrachte ich immer wieder die Zelle. Jede Einzelheit, und sei sie noch so scheinbar unbedeutend, will ich gesehen haben, um sie zu einem späteren Zeitpunkt beschreiben zu können.
Den Raum habe ich mit meinen eigenen Schritten mehrere Male vermessen. Sollte ich mich von meiner Lagerstätte erheben, so sind es drei Schritte bis zu der dicken Tür, durch die man mir die Mahlzeiten zuschiebt, es sind genau zwei Schritte bis zu der Wand, in deren Mauerwerk über mir die Fensterluke eingelassen ist. Mithin sind es exakt fünf Schritte vom Fenster zu Tür. Dagegen mißt die Länge zwischen den Querwänden, zurückgelegt zwischen Bett und Klobecken, drei Schritte, wenn diese nicht allzu lang geraten, oder eben derer zwei, sobald man ausladender zutritt.
Dazu die Wände, die als Ganzes betrachtet, nüchtern und kühl wirken, zeigen, wenn man sich ihnen nähert, feine Spuren der Bearbeitung. Immer wieder trifft der suchende Betrachter auf fahle Bleistiftstriche, in denen ein Name oder ein Datum aufgezeichnet worden ist, oder einfach auf simple Striche, teils geritzt, in weiteren Fällen jedoch mit einem Schreibstift hinterlassen, die sich, mal zahlreicher, daneben sogleich in geringerer Anzahl, verstreut über die Wandflächen finden lassen. Ich habe sie inzwischen alle studieren können, und so absurd dies auch klingen mag, es raubt diesem Zimmer seine anfängliche Abseitigkeit.
Ich komme also auf die naheliegende Idee, selbst für jeden Tag, den ich an diesem Ort verbringe, einen Strich in den Putz zu kratzen, und dies auch, um eine Gedächtnisstütze für mein gedankliches Tagebuch zu gewinnen. Doch werde ich den Einfall nicht sogleich in die Tat umsetzen, vielmehr scheint es mir besser, dafür bis zu den taghellen Stunden zu warten.
Die erste Einschrammung wird für jenen Tag in die Wand geschabt werden, an dem ich an der Bushaltestelle wartend eingeholt worden bin.
Ein weiterer Strich daneben für den Tag, an dem ich hier zum erstenmal erwachen sollte.
Daneben der Riß für den Tag, an dem ich in Sorge gefallen bin.
Schließlich eine Kerbe für den Tag, der heute seinen Lauf nehmen wird.

Bei einer späteren Gelegenheit fand sich Nina bei mir ein, denn es gab erneut etwas zu verspeisen. Im Verlaufe dieses Abends landeten wir neben dem Eßzimmer auf meinem Bett, halb davor hockend, halb darauf liegend, und waren wieder einmal mit uns allein beschäftigt.
So saß Nina auf meinem Schoß und beugte sich über mich. Dabei fiel ihr Haar über meinen Kopf und mein Gesicht, und umschloß mich dort wie die dünnen Wände eines Zeltes, die das Licht nur gedämpft und dabei ausgefiltert hindurch scheinen lassen, wodurch die Konturen der Umgebung aufweichen.
Um so nachhaltiger spürte ich daher die Wärme, die Nina auf mich übertrug, als sie ihre Wange leicht gegen meine drückte und an der Nase rieb, und ich schloß die Augen. Dies war ein stiller Augenblick, denn in solchen Momenten gibt es nicht viel zu erzählen.
„Weißt du, was du mir unbedingt versprechen mußt?“ flüsterte sie mir fragend zu, nachdem die Zeit womöglich in Stillstand verharrt hatte.
„Nein.“ gab ich ihr als Geste zur Antwort, indem ich kurz den Kopf hin und her bewegte.
„Du mußt mich nun auffordern, zu gehen. Sofort oder auch ein wenig später, aber du mußt es.“
„Ich würde dich niemals rausschmeißen.“ beteuerte ich, und lachte dabei schmunzelnd.
„Dann werde ich jetzt wohl aufbrechen.“ sagte sie, und erhob sich energisch in einem Ruck.
Als wir vorm Haus einen Moment lang inne hielten, um einander umarmt eine wohle Nachtruhe zu wünschen, da spielte der Wind in Ninas Haaren, und so wehten sie uns noch einmal ein. Der Kuß wurde aber nicht mehr so verstohlen und keineswegs so schüchtern fortgegeben, wie beim erstenmal.
„Schlaf gut, und träum was Schönes.“ hießen Ninas letzte Worte auch an diesem Abend. Und ich schaute in ihre Augen, die meinen Blick mit einer Spur von Wehmut empfingen, als gäbe es noch eine Frage zu beantworten. Doch ich hätte ihr durchaus etwas zu sagen gehabt, unmittelbar am Ende gerade dieses Tages. „Meine Träume werden dir einen klaren Sternenhimmel schenken,“ so hätten diese Worte sein können, „einen, den du durchstreifen kannst, nach Lust und Laune, der fühlbar wird, und sich dir öffnet nach allen Seiten, dir schwereloses Reisen durch alle Weiten dieser Welt erlaubt, wenn du es nur magst.“ Aber sie blieben in meinen Gedanken, diese Grübeleien, welche ein Luftschloß schaffen wollten, mitten im Schlaf, im ruhigsten Schlummer, nur weil ich sie nicht auszusprechen wagte.

Der Morgen sendet an diesem Tag seine Vorboten, indem das Stückchen Himmel, welches ich durch das kleine Fenster beobachten kann, langsam seine Schwärze einbüßt, und sich zuerst gräulich verfärbt, aber nach wenigen Minuten eine rötliche Buntheit annimmt.
Ich rücke an das Fußende der Liege, um dieses Schauspiel besser verfolgen zu können, sitzend lehne ich mit dem Rücken an der Wand, und wende mich dem Fenster zu. Doch die Morgenröte verblaßt seinerseits binnen kurzer Frist, um nach einem vorübergehenden Erscheinen von einem Ton blassen Blaus, an Helligkeit stetig zunehmend, sodann in einem schmutzigen Grau zu schattieren, durch das schlierenartig sich Schwaden hindurch schleppen, ein untrügerisches Merkmal dafür, daß draußen inzwischen dicke Wolken rasch vorüberziehen.
Dann wird die Lampe gelöscht, mithin ein ebenso sicheres Zeichen, daß der Tag in dieser Anstalt beginnt.
Doch ich bleibe abwartend hocken. Ich will heute vier Zeichen in der Wand hinterlassen, an einer Stelle, die ich mir noch ausgucken werde, weil sie in der Anordnung mit den anderen nicht in Unordnung geraten darf, denn ich muß den Überblick behalten können.
Als die Verpflegung durch die Klappe in der Tür zu mir hin geschoben wird, habe ich den Platz für meine Signaturen entdeckt. Aufgeschreckt durch den damit verbundenen Lärm, wenn das Tablett über den Boden scheuert, fällt meine Aufmerksamkeit auf die Raumöffnung. Gleich links neben der eisernen Zarge ritze ich vier Striche in den rauhen Putz, jeder einzelne etwa von der Länge meines Daumens. Erst danach hebe ich die Mahlzeit vom Boden auf.


Zwölfter November.
Denn jeder Tag macht seinen Anfang, wenn das Zellenlicht ausgeschaltet wird. Es wird meiner Erinnerung zufolge gegen acht Uhr sein, wenn der Morgen heraufkommt. Da ich beim Eintreffen in dieses Gebäude meiner Armbanduhr beraubt wurde, bleiben die Momente, an denen das Lampenlicht eingeschaltet oder gelöscht wird, die einzigen Augenblicke, die ich zeitlich gut einordnen kann. Nur fürchte ich, daß sich dieser Überblick verlieren könnte, wenn mein Aufenthalt nicht in nächster Zukunft beendet sein wird.
An das Fenster prallen Regentropfen, und gleiten anschließend daran herab. Und der Himmel ist ebenso grau verhangen, wie es schon gestern der Fall war. Also werde ich im Laufe der nächsten Stunden den fünften Strich markieren. Ich werde ihn nicht neben den Gestrigen setzen, sondern ich will mit ihm die anderen in der Diagonale durchstreichen, so daß sie weiterhin in übersichtlichen Blöcken angeordnet bleiben.

Der Tag im Spätsommer, von dem nun erzählt werden soll, begann ohne Sonnenschein. Noch am Vortag hatten wir uns allerdings bei glänzend klarem Wetter, wenngleich auch unter böigem Wind, auf die kurze Seefahrt von Norddeich nach Norderney begeben, und dort abends nach italienischer Art aus der Tafel des Meeres gespeist. Und weil feststand, daß sich die See am späten Vormittag zurückziehen würde, um das Watt vorübergehend auftauchen zu lassen, so faßten wir den Entschluß, diesen Umstand für einen ausgiebigen Wattspaziergang zu nutzen.
Doch nun war die Luft bedeutend kühler, und ein feiner Nieselregen setzte sich ab.
„Sollten wir uns davon abhalten lassen?“ fragte ich Nina.
„Davon nicht.“ antwortete sie knapp.
So nahm der Ausflug seinen Anfang, indem wir die Hauptstraße des Inselortes von unserer Unterkunft zum Badestrand hinuntergingen, und schließlich in Richtung auf den Leuchtturm abbogen. Ihn links liegenlassend, durchquerten wir die südseitigen Dünen, und hatten nun den Strand vor uns, der sich in die Weite auszubreiten schien. An fernsichtigen Tagen würde man die Küstenregion deutlich ausmachen können, da hätte man die Masten von Norddeich Radio im Blick gehabt, doch heute sprühte der Wind Feuchtigkeit durch die Luft, die man in grauen Schwaden, einem Nebel ähnlich, um sich hatte, wodurch der Horizont farblos und undeutlich erschien.
Und als wir nebeneinander her stolzierend über den Sand hinausgingen, der bald benäßt und schlickig geblieben war, wodurch unsere Schritte tiefer einsanken mit jedem Fußaufsetzen, da waren wir vom Sprühregen bereits naß an den Haaren und im Gesicht, und es rann in dicken Tropfen die Haut hinunter.
„Wollen wir uns jetzt theatralisch anschweigen?“ fragte Nina nachdrücklich, und schaute mich schräg von der Seite an. Wir hatten wohl tatsächlich kein Wort mehr gewechselt, seit wir aus dem Hotel gegangen waren, um uns auf den Weg zu machen.
„Nein.“ entgegnete ich, gefolgt von einem kurzen, verlegenen Lachen.
„Weil du nichts erzählst.“
Aber gerade nach diesem Satz blieben wir erneut einen Moment still, und spazierten dabei geradewegs in die Richtung auf das Festland zu. „Du ja auch nicht.“ hätte ich antworten können, tat es jedoch nicht, weil sich dadurch wohl kaum etwas an der Situation geändert hätte.
„Du hast mich immerhin gedrängt, diesen Ausflug zu machen.“ fand sie leise nach einigen Augenblicken.
„Ich hab dich gefragt, ob uns das Wetter abhalten könnte.“ antwortete ich nur.
„Nun. Das Wetter, oder den Regen heute, das meine ich auch nicht. Ich bin doch nicht aus Zuckerguß, oder meinetwegen aus Salz, daß ich dahinschmelzen könnte, wenn es tropft. Sondern ich meine den Wochenendausflug nach Norderney als solches.“
„Ich freue mich auf jeden Fall, hier zu sein, mit dir, daß wir das endlich geschafft haben, diese Fahrt wirklich zu unternehmen.“ sagte ich nach kurzer Pause.
Wir kamen nun an eine tiefer gelegene Stelle, in der sich Wasser gesammelt hatte, eine flache Pfütze von vielleicht zehn Meter Breite und knapp dem doppelten in der Länge, wobei Nina sie rechts liegenließ, während ich an der anderen Seite dem Hindernis auswich. In den Augenblicken, die wir deshalb in nicht ganz geringer Nähe weiterspazierten, glaubte ich, ein paar Sätze von Nina zu vernehmen, doch erreichten sie mein Ohr zu vage, um sie verstehen zu können.
„Was hast du eben gesagt?“ fragte ich daher, als wir wieder nebeneinander her stolzierten.
„Ach, nichts weiter.“ murmelte sie knapp, und schaute über die Sandbank.
Nach weiteren Schritten erreichten wir den breiten, von Pricken gesäumten Priel, der Norderney mit der Nachbarinsel Baltrum verband. An ihm wanderten wir nun entlang, da er uns geradewegs zur Hafenmole führen sollte, an der wir die Insel wieder zu besteigen trachteten.
„In der Liebe kriegst du Hiebe.“ flüsterte sie erneut, nun aber verständlich für mich, und ich erkannte in diesen Worten jenen Satz, den ich zuvor nur in wenigen Fetzen aufzunehmen in der Lage war, als wir nämlich auf getrennten Pfaden die Lache umrundet hatten, welche uns den Weg versperren sollte.
Doch schenkte ich diesem Ausspruch keine deutliche Beachtung, sondern verhielt mich einfach derart, als wäre er ein weiteres mal unhörbar entwichen. Ich blickte auf die Mole, so, als fixierte ich dort einen Zielpunkt, den es im Auge zu behalten galt, um nicht die Orientierung zu verlieren.
„Wenn man etwas mehr Zeit hätte, dann könnte man hier auf solchen Prielen mit einem Ruderboot ganz schön weit kommen.“ bemerkte ich, indem ich Nina ins Gesicht blickte, und gleichzeitig an ihr vorbei auf den Wasserlauf deutete.
„Nur haben wir davon nicht mehr,“ lautete ihre Antwort, „und außerdem stelle ich mir solch eine Bootsfahrt nicht gerade ungefährlich vor, wegen der Gezeiten oder wegen der Strömung. Für ein derartiges Abenteuer wirst du dir wohl jemand anderen suchen müssen.“
Die Verbissenheit, mit der sie diese Äußerung hervorgebracht hatte, ließ mich einen Moment lang schmunzeln, denn meine Bemerkung war durchaus nicht als Plan gedacht, den gleich umzusetzen es gelten sollte. Vielmehr erinnerte mich der Anblick des Priels an ein Buch, in dem eine solche Partie beschrieben worden war, eben gerade auch von dieser Insel ausgehend, und nun war mir die Geschichte eingefallen.
„Mir reicht es, hier durch den Schlick zu trotten.“ ergänzte sie, und musterte mich ausgiebig.
Da hatte unsere Wattpartie jenen Punkt erreicht, von der die Entfernung zu unserer Unterkunft wieder abnahm, wir uns mit jedem Tritt dem trockenen Boden näherten. Und hatte mir die Nässe bislang nichts ausgemacht, so spürte ich doch allmählich, wie sie die Bewegungen klamm beschwerte, und das Näherkommen der Mole bedeutete nebenbei auch die Inaussichtstellung eines warmen Raumes, eines Cafés vielleicht, in dem wir zur Stärkung einen kleinen mittäglichen Imbiß einnehmen könnten.
„Um in einem winzigen Boot die Gegend zu erkunden, wird es, nebenbei bemerkt, eines besseren Wetters bedürfen, schätz ich mal.“ versuchte ich, um den Gedanken wieder aufzunehmen.
Nina reagierte aber auf diese Worte nicht, und eine weitere Weile gingen wir nebeneinander her. Nur in unregelmäßigen Abständen trafen sich unsere Blicke zu einem kurzen Austausch im Angesicht der Augen. Dann lächelte sie einmal.
„Wir schaffen es irgendwie nicht, uns ohne Druck zu unterhalten.“ meinte ich in diese Stille hinein.
„Du machst mir ja auch mit jeder einzelnen deiner Bemerkungen Vorwürfe.“ entgegnete sie sofort, und das Lächeln verschwand von ihrer Miene, um einem fragenden Gesichtsausdruck zu weichen.
„Das will ich doch gar nicht.“ antwortete ich darauf fest entschlossen.

Nun brennt die Lampe erneut, und ich richte mich darauf ein, bald zu schlafen. Mein Tagwerk ist erledigt. Ich habe einen Strich in der Mauer hinterlegt, der mich an diesen Zeitabschnitt erinnern soll, und von dem angebotenem Mahl um die Mittagszeit habe ich eine Kleinigkeit zu mir genommen.
Also liege ich, und drehe mich vom Rücken auf die Seite. Ich schließe die Augen. Ich warte, daß Müdigkeit eintreten solle, um mich aus meinen Gedanken in einen Traum zu versetzen. Und ich hoffe einfach, sich darauf nicht allzu lange gedulden zu müssen.
In diesem Gemäuer, welches mich einer plötzlichen Eintönigkeit ausgesetzt hat, das mich zum Abwarten verbannt, meine Geduld erzwingen will, fällt es mir mit jedem neuerlichen Versuch schwerer, mich in jene Ruhe zu begeben, die gewöhnlich in ein schnelles Einschlafen mündet.


Dreizehnter November.
Ich bin erstaunt, wie stark das Gemüt doch auf äußere Einflüsse reagiert. So scheint die Sonne durch die Luke in die Zelle, und ich fühle mich bei weitem nicht so niedergeschlagen, wie noch an den zurückliegenden Tagen. Mag auch sein, daß es gerade Orte wie diese sind, an denen die Stimmung von solcherlei Kleinigkeiten profitiert.
Aber noch ein zweites Anzeichen gibt mir am Morgen zu denken auf. Ich beobachte nämlich, daß das Lampenlicht von der Raumdecke nicht, wie gewohnt, kurze Zeit nach Sonnenaufgang gelöscht wird. Noch immer sendet es das bleiche Licht, den trüben Schein, obgleich es schon seit mehreren Stunden taghell ist.
Hier liegen die Gründe, warum ich den Beginn des neuen Tags mit leichter Nervosität durchlebe, ich mich somit von einer unerklärlichen Erregung gepackt fühle. Daher hält es mich nicht auf der Liege. Weder sitzend, noch langgestreckt, kann ich ausgedehnter als für einen Moment verharren. Vielmehr laufe ich in der Kammer umher, von der Tür zum Fenster und zurück, einen nicht enden wollenden Marsch aus vielen Wenden, so wie ihn die Raubkatzen in ihren Zookäfigen vollführen, auch wenn ich die Lage dieser Geschöpfe keineswegs mit der meinen vergleichen will, sind sie doch weitgehend von Besuchern umringt.
Um ein wenig Wandel in den Ablauf zu bekommen, entschließe ich mich zeitig, also weit vor der Mittagsstunde, die Kerbe für den jetzigen Tag neben die Tür zu ritzen. Es wird die frischeste Linie in dem von mir begonnenen Muster werden. Und als ich die Marke schließlich mit dem Rand des Trinkbechers in den Putz kratze, da werde ich froh, diese Art der Aufzeichnung überhaupt begonnen zu haben. Denn kurz schießt mir der Gedanke durch den Kopf, wie lange ich wohl inzwischen schon nachdenken müßte, um zu rekapitulieren, gäbe es meine Zählung in der Wand nicht.
So entsteht die sechste Kerbe.
Doch als ich daher neben der Tür verweile, da meine ich Stimmen von draußen zu hören. Nicht deutlich, und keineswegs verständlich, aber ich komme zu dem Schluß, daß an der anderen Seite vor der Tür gesprochen wird, man unterhält sich, ruft sich in kurzen Sätzen etwas zu, jedoch nicht in einer Lautstärke, die es mir gestatten würde, genaues aufzuschnappen, mitzuhören, Aufschlüsse zu gewinnen. Zudem erscheinen mir die Laute mal näher, dann wieder weiter entfernt, so als wären die Personen in einer Bewegung auf und ab.
Das Erstaunliche daran ist für mich, daß ich während meines hiesigen Aufenthalts noch nie Unterhaltungen, gleich welcher Art, mitzubekommen in der Lage gewesen bin. Sollte ich in der zurückliegenden Zeit Stimmen vernommen haben, so sind diese stets in meinem Kopf zu lokalisieren gewesen, und es waren eindeutig meine Hirngespinste, die sie zum Leben erweckt haben. Selbst das Einschieben der Essensration geschieht täglich ohne Wortwechsel. Zwar verursacht dieser Vorgang ein knirschendes, scharrendes Geräusch auf dem Boden, aber anschließend schließt sich die Klappe wieder, und die gewöhnliche Ruhe kehrt zurück, bis sich dieses Ereignis am Folgetag wiederholt.
Daher setze ich mich nun in recht beklommener Verfassung auf's Bett. Durch diese Vorkommnisse gerät mein Warten in eine Stimmung, die sowohl als ängstlich bezeichnet werden kann, von mir gleichermaßen aber ebenso als aufregend empfunden wird. Ich habe das Gefühl, daß sich etwas tut.
Schließlich öffnet sich die Tür tatsächlich. Doch ich bin darüber, mit welcher Plötzlichkeit dies vonstatten geht, derart erstaunt, daß ich nicht etwa aufspringe, sondern ich bleibe vielmehr in unbestimmter Erwartung sitzen.
In der Türöffnung verharrt nun eine Frau, bekleidet mit einem hellblauen Arbeitskittel und einer Schürze, die mich kurz, und vielleicht mit Verwunderung, mustert. Dann wendet sie sich dem Flur zu, und ruft: „Hier ist jemand drin!“
„Das Licht brennt noch.“ sage ich, und deute mit dem Zeigefinger auf die Deckenlampe mit der Milchglaskugel.
Nun betritt sie die Zelle um die Länge eines Schrittes, und schaut sich um.
„Ich soll etwas aussagen,“ beginne ich zu erzählen, „ich soll abgeholt werden zu einem Gespräch, um etwas auszusagen.“
„Eigenartig.“ murmelt sie, dabei wandert ihr Blick weiter durch den Raum, sie bückt sich kurz, um unter das Bettgestell zu sehen, für einen Augenblick betrachtet sie das Provianttablett am Boden, ehe sie fortfährt: „Eigenartig. Es ist sonst niemand hier.“
„Es ist sonst niemand hier?“ frage ich erstaunt, und erhebe mich aus meinem Sitz.
„Am Wochenende ist niemand hier.“ bekräftigt sie.
„Aber ich soll doch abgeholt werden.“ äußere ich erstaunt.
„Am Samstag ist nie jemand hier. Das gibt es gar nicht. Nicht einmal die Türen sind verschlossen.“
Durch den Zuruf in den Flur ist nun eine zweite Frau herangetreten, und lugt zu mir hinein. „Wir sind hier zum Putzen.“ bemerkt diese.
„Und was soll ich wohl hinter diesen Mauern?“ stelle ich als Frage in den Raum, und spüre gleichzeitig, wie ein rätselhafter Verdruß in mir aufsteigt. Der Gedanke, ich könnte die letzten Tage völlig sinnlos in diesem Gebäude verbracht haben, auf mich allein gestellt, und ohne Kontakt zu meiner Umgebung, erscheint mir plötzlich so abwegig, daß ich mich in einem Traum wähnen müßte, wäre mir andererseits nicht klar, daß die beiden Frauen tatsächlich vor mir stehen.
„Also, wir haben damit nichts zu tun.“ bekräftigt die Eine. „Wir sind zum Putzen hier.“ wiederholt die Andere.
Da entschließe ich mich zum Aufbruch und gehe los. Die zwei Frauen hindern mich daran in der Tat keineswegs, unbehelligt kann ich auf den Flur hinaustreten und den langen Korridor abschreiten, den ich vor knapp einer Woche, allerdings in Begleitung, in entgegengesetzter Richtung heraufgekommen bin.
Vor der Pforte zur Straße bleibe ich stehen. Am ersten Tag habe ich an einem Pult meine Habseligkeiten abgeben müssen, und mir liegt doch sehr daran, zumindest meinen Mantel wieder mitzunehmen, denn es ist schließlich Herbst, und die Luft mitunter erstarrend ausgekühlt. Unsicher schaue ich mich noch einmal um, aber es ist wahrhaftig keiner der Männer, die mich aufgelesen hatten, in der Nähe, und so werfe ich einen Blick hinter das Pult. Dort liegt der Umhang in einer Nische, als sei er achtlos zurück gelassen worden. Mit einem Griff in die Taschen suche ich sogleich nach meiner Uhr, doch fehlt sie, ich kann sie nicht erspüren, und so ziehe ich das Stück kurzerhand über.
Als ich kurz danach auf die Straße gelange, weht mir ein heftiger Wind entgegen, der bei weitem nicht so eisig wirkt, wie jener am entscheidenden Morgen. So fällt mir die Bewegung leicht, und die Entscheidung, ob ich wohl für den Rückweg den Bus besteigen könnte, oder mir besser ein Taxi an die Seite winken sollte, treffe ich kurzerhand, indem ich die ganze Strecke zu Fuß zurücklege. Schon des öfteren bin ich, bei guter Laune zumindest, die Strecke von der Innenstadt zu meinem Wohnhaus zu Fuß gegangen, und mein Befinden bessert sich bei jedem einzelnen Schritt, mit dem ich mich von dem Gebäude entferne, zusehens.
Vor meiner Haustür angekommen, und bevor ich den Schlüssel ins Schloß stecke, werfe ich in alter Gewohnheit, so, als wäre ich keineswegs eine knappe Woche fort gewesen, sondern käme gerade aus dem Büro, einen Blick zu ihren Fenstern hinauf. Nun wäre es zwar durchaus unwahrscheinlich zu nennen, wenn sie in genau diesem Moment am Fenster stehen würde, hinunterguckend, um mir zur Begrüßung einen Wink zu schenken, als sei sie wartend, aber insgeheim wird dies wohl das Motiv für meine Ausschau sein.
Doch entdecke ich sie nicht.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es ist eine bemerkenswerte Geschichte, ich weiß nicht, warum mir sofort "Grube und Pendel" in den Sinn schoss, die Stimmung am Anfang ist vielleicht ähnlich.
Alles wirkt absurd, man bemerkt, es ist ein Gefängnis, es wird genau beschrieben, und da dringt eine andere Handlung ein, die Handlungen mischen sich, scheinen sich gegenseitig zu erklären, doch tun sie es letztlich wohl nicht.
Und es wird absurd: die Tür ist auf, die Gefangenschaft am Ende wohl nur scheinbar, und die Retter sind Reinemachfrauen, die das Zimmer in einer anderen zeit oder in einem anderen Raum aufzufinden scheinen, Leere erwarten, die doch nicht gegeben ist. Und jetzt fällt mir Ionescu ein.
Ja, mir gefällt es sehr.

Viele Grüße und Danke schön für das Erlebnis.

PS: Und irgendwie kommt mir noch B. Traven in den Sinn.
 

Till Braven

Mitglied
Danke

Hallo Hutschi,

vielen Dank für deinen Kommentar.
Die Geschichte besteht ja aus zwei Teilen, ich begann das Posten der Reihenfolge wegen mit dem 2. Teil, und dann merkte ich, daß ich nur ein Thema pro Tag posten kann, habe den ersten Teil aber inzwischen auch reingestellt.
Für mich ist dies eine schwierige Erzählung, weil meine privaten Testleser sie entweder für sehr gut oder für grottenschlecht hielten. Es gab keine "gemäßigten" Kritiken, und das machte mich doch stutzig. War ich zu weit gegangen?!
Ich hatte beim "Erfinden" meines Pseudonyms tatsächlich den Gedanken, es an B. Traven anzulehnen. Und anfangs hieß es auch nur T. Braven, bis ich für eine Zeitschriftenveröffentlichung vor nunmehr über 25 Jahren gebeten wurde, mir einen vollen Vornamen zuzulegen. Und was lag da näher, als Till...

Viele Grüße von der Küste!

Till
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
B. Traven war ja bekanntlich auch ein Pseudonym. Es soll das Pseudonym von Ret Marut gewesen sein, der bedeutende dadaistische Werke veröffentlichte und nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik aus Deutschland floh, wenn ich mich richtig erinnere.

Ich habe von Ret Marut Werke gelesen, die in der Poetik ähnlich liegen.

Mir ist klar, dass Deine Geschichte polarisierend wirkt. Mir selbst gefällt sie sehr.

Du hast damit mit dem Künstlernamen eine große Bürde auf Dich genommen, kannst Dir nur hohe Qualität leisten, wie hier geschehen.

Viele Grüße von Bernd
 

Zefira

Mitglied
Hallo Till, hallo Bernd,

jetzt habe ich die Geschichte auch endlich lesen können; danke für den Tip, Till!

Ich fand sie hochinteressant und fühlte mich spontan weniger an Poe oder Traven, sondern an Kafka erinnert: Ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet – wobei sich die Haft nicht wesentlich anders darstellt als das Leben zuvor. Während sich die Haft Deines Protagonisten am Ende offenbar als mehr oder weniger selbstgewählt herausstellt... so deute ich es.... Wirklich eine Geschichte zum Grübeln!

Ein Problem habe ich allerdings mit dem Text, das euch vielleicht furchtbar hausbacken und uninspiriert vorkommt, aber es hat meinen Lesegenuß immer wieder gestört:
Was lesen wir hier eigentlich? Ein Tagebucheintrag des Protagonisten kann es nicht sein, da er nichts zum Schreiben hat. Seine Gedanken können es aber auch nicht sein, denn kein Mensch, mag er noch so bürokratisch-penibel sein, macht sich Gedanken wie:

>Doch die Morgenröte verblaßt seinerseits (btw. Sollte es nicht ihrerseits heißen....?) binnen kurzer Frist, um nach einem vorübergehenden Erscheinen von einem Ton blassen Blaus, an Helligkeit stetig zunehmend, sodann in einem schmutzigen Grau zu schattieren, durch das schlierenartig sich Schwaden hindurch schleppen, ein untrügerisches Merkmal dafür, daß draußen inzwischen dicke Wolken rasch vorüberziehen.<

Mir ist klar – im Präsens wiedergegebene geordnete Gedanken sind immer ein Kompromiß (außer bei James Joyce), weil Gedanken nun mal nicht geordnet sind – aber sie SO zu ordnen, das geht ein wenig zu weit, meine ich....

Nun lese ich schon zum zweitenmal einen Text von Dir, Till, in dem sich der Ich-Erzähler „Till Braven“ nennt. Ist das Dein alter ego? So wie bei mir der Ruffel?

Liebe Grüße,
Zefira
 

Till Braven

Mitglied
Danke, Zefira

Hallo Zefira!

Vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Deine Anmerkungen gaben mir zu denken, und ich werde sie nochmal in aller Ruhe einarbeiten.
Ich weiß nicht, ob man Till als Ich-Erzähler mit Ruffel vergleichen kann. Ich gehe nämlich mal davon aus, daß es sich bei den Tills um unterschiedliche Charaktere handelt, die nur den Namen "Till" erhielten, weil sie als Ich-Erzähler in einer Geschichte von "Till Braven" auftauchten...

Dann erstmal viele Grüße von der Küste!

Till
 



 
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