Seelendiebin

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Conny

Mitglied
Seelendiebin

Ich weiß eigentlich nicht mehr, ob ich mich noch unter die Leute mischen darf. Wenn Sie erst erfahren, dass ich eine Mörderin bin, werden sie mich verachten. Sie alle, diese glubschäugigen Wesen, die mich ernüchternd anstarren, sind mir noch immer nicht gleichgültig. Und dabei war es gerade das, was ich mir wünschte. In der Gleichgültigkeit mein Zuhause finden. Charlene ist nie etwas gleichgültig gewesen.

Sie hielt mich an Fäden und stahl mir meine Gedanken. In meiner Fantasie ist Charlene eine Diebin. Sie stiehlt Seelen wie ein armes Bauernmädchen Äpfel vom Markt. Ich habe sie nie verstanden. Ich wollte sie auch nie verstehen.

Vielleicht gibt es sie, diese Gleichgültigkeit in mir, nach der ich mich so sehne. Ich möchte alleine sein, gar nichs mehr denken, und doch haften diese Erinnerungen an mir, und ich werde sie durch nichts los. Auch wenn ich dieses Haus, diese Gegend, dieses Land verließe, die Gleichgültigkeit wäre immer einen kleinen Schritt schneller.

Ach, gib es auf, es lohnt nicht, darüber nachzudenken. Aber wieso kann ich es nicht? Wieso kann ich nicht aufhören, mich an ihr Gesicht zu erinnern? Ich möchte mich nicht mehr an Ihren Duft erinnern, Rosen oder Veilchen, bei einer Toten macht es keinen Unterschied.
Ihre Haut ist kalt.
Wie der tote Mond mich anlächelt, ich traue ihm nicht. Genausowenig wie ich den Menschen trauen werde, die mich fragen werden, warum? Ich liebe dieses Wort, warum, es gibt kein einziges Wort, das mehr ausdrückt in den Momenten des Schmerzes. Charlene, hörst du mich, wenn du erwachst am jüngsten Tag, dann denke an dieses Wort und schreie es hinaus. Warum. So wie ich es tat, als du mich in die Irre geführt hattest.

Ich werde nicht mehr an dich denken, ich will es nicht. Ich werde neu beginnen, irgendwo. Ich werde zur Zauberin. Ich werde Liebe mir fangen mit einem Netz. Ich werde keine Motten mehr ins Licht locken, sondern Falter, die mich mit ihren pudrigen Flügeln erheitern. Ich trage noch immer den Mut des ersten Tages in mir. Ich werde deine Leiche, deine Augen, deine noch immer roten Lippen vergessen, diese Tür schließen und mich neu erfinden.
Du glaubst mir nicht, Charlene. Ich spüre deine toten Blicke. Du hast einen Geistkörper, der mir folgen will. Doch ich bin dir nicht länger untergeben, ich werde mich frei machen von allem. Ich meine, es ist an der Zeit für eine neue Version des altbekannten Liedes. Ich höre immer noch deine Stimme, glockengleich, rein, fast schwebend. Engel du . Verzeih mir meine Liebe, Charlene.
 

itsme

Mitglied
.....

Gut erzählt diese Geschichte, Conny. Gemessen fließend, schöne Bilder, Selbstbetrachtung nach der entlastenden Tat ohne Pathos. Der Leser erfährt nur wenig über die Hintergründe. In der Beurteilung schwebt die Protagonistin dadurch irgendwo zwischen Verurteilung und Mitgefühl. Es gibt Andeutungen und Hinweise, aber keine Eindeutigkeit. Der Text ist überhaupt "sperrig", wie es eine geschätzte Kollegin gerne formuliert.

Im Detail bin ich über ein paar Formulierungen gestolpert, beispielsweise:

"... Wesen, die mich ernüchternd anstarren,..."

Mir ist klar, was du sagen willst, aber das kannst du besser ausdrücken.

"...Charlene ist nie etwas gleichgültig gewesen. ..."

"Charlene zeigte nie Gleichgültigkeit", fände ich besser.

"... Ich meine, es ist an der Zeit für eine neue Version des altbekannten Liedes. ..."

Kann der Leser diesen Satz verstehen?

Deine Interpunktion und deinen Umgang mit den Zeiten finde ich manchmal etwas eigenwillig.


Grüßlinge
itsme
 

Conny

Mitglied
Hallo!


Vielen Dank für deine Kritik. Deine Tipps gefallen mir. Du hast recht mit der Einschätzung meines Textes, genau diese Schwachpunkte sind mir auch aufgefallen. Danke, dass du dir Zeit genommen hast, ihn zu kommentieren.
 

Concorde

Mitglied
Sehr gute Beschreibung von obsessiver Selbstaufgabe und der zerstörerischen Explosivkraft der Liebe, Sezierung einer Beziehungen zwischen zwei Menschen. Nachvollziehbar die Verzweiflung und Hilflosigkeit jemanden bis zum Hass zu lieben.
Erinnert mich allerdings sehr an Anne-Sophie Brasme "Dich schlafen sehen" nicht nur, weil die Protagonistin dort auch Charlène heißt.

Eine liebe Kollegin sagte mir kürzlich, ein guter Text müsse auch unterhalten ;-) und dies ist eine gute Kurzgeschichte!

lieben Gruß Concorde
 

Conny

Mitglied
Dich schlafen sehen

Hallo!

Vielen Dank für deinen Kommentar. Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat.

"Erinnert mich allerdings sehr an Anne-Sophie Brasme "Dich schlafen sehen" nicht nur, weil die Protagonistin dort auch Charlène heißt."

Tatsächlich lese ich gerade das Buch und habe mir die kleine Aufgabe gestellt, über ein Mädchen zu schreiben, dass gerade seine Freundin ermordet hat.
Schön, dass es dir aufgefallen ist. Ich fasse es mal als ein Lob auf :)


Herzliche Grüße

Conny
 

Pasta

Mitglied
Neugierig geworden

Hallo Conny,

zunächst einmal hat mich dein Text neugierig gemacht auf den Roman "Dich schlafen sehen", und das meine ich als Kompliment an deinen Text! (Vielleicht schreibst du ja auch noch eine Fortsetzung, dann spare ich es mir, "Dich schlafen sehen" zu lesen :) )

Gerade weil er etwas "sperrig" ist, kommt man so schnell nicht von ihm los. Man fängt an zu überlegen, was da geschehen sein mag und gerät automatisch in Konflikt mit seinen Gefühlen: Einerseits sollte man doch einen Mörder/eine Mörderin moralisch verurteilen, aber das gelingt hier nicht so ganz. Zum einen weil man nicht genau weiß, was vorgefallen ist und zum anderen, weil aus der Perspektive der Mörderin erzählt wird, die nun ihrerseits Opfer ist oder sich zumindest so fühlt, denn sie fürchtet nun die Verachtung durch ihre Mitmenschen.

Ich finde dieses moralische Dilemma, in das du uns bringst, gut konstruiert. Es fordert zu einer Auseinandersetzung mit der Opfer/Täter-Thematik auf: Wer ist denn nun Opfer und wer Täter? Findet ein Rollentausch statt und die Gesellschaft wird zum Täter und der Täter zum Opfer? Und ist er nicht schon längst Opfer seiner eigenen Gefühle, seiner eigenen Obsession?

Damit kann ein so "kleiner" im Sinne von kurzer Text eine große Diskussion auslösen! Finde ich prima!

Einzig der Ausdruck "glubschäugige Wesen" finde ich schlecht; irgendwie will er nicht recht klingen im Text; vielleicht ist er zu banal oder trivial. Was du meinst, verstehe ich schon, aber vielleicht findest du dafür noch ein schöneres Bild?

Herzliche Grüße,
Pasta
 

Conny

Mitglied
Hallo Pasta,

ich danke dir für deinen Kommentar. Ich freue mich, dass du dich so intensiv mit meinem Text auseinandergesetzt hast.
Der Begriff "glubschäugige Wesen" ist wirklich nicht so schön. Klingt nach kalten, dicken Fischen auf Beinen.
Das Buch "Dich schlafen sehen" wurde von einer 16 jährigen Französin geschrieben. Ein großes Talent. Ich lasse mich gerne von anderen Büchern inspirieren.
Danke nochmals für deine Zeilen.


Liebe Grüße

Conny
 



 
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