Seelenleben

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Maribu

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Seine Frau hatte vorgesorgt. Sie wusste, dass er sich nichts kochen würde, aber auch eine Abneigung hatte gegen Imbissbuden, Speiselokale und Restaurants. Portionsweise hatte sie verschiedene Speisen für zehn Tage in der Gefriertruhe deponiert, so dass er sie nur in der Mikrowelle heiß machen musste.
Nun, am elften Tag, richtete Hermann Behnke seinen morgendlichen Spaziergang, der ihm seit seiner Pensionierung vor vier Jahren zur Gewohnheit und zum Bedürfnis geworden war, so ein, dass er um die Mittagszeit vor dem 'Restaurant am See' stand. Er zögerte, spähte durch die Scheibe, entdeckte mehrere freie Tische und ging hinein.
Er nahm an einem Zweier-Tisch Platz, studierte die Tageskarte und entschied sich für das Schollenfilet mit Kartoffelsalat.
Während er an seinem Alsterwasser nippte, kamen sieben in Schwarz gekleidete Personen herein. Sie funktionierten den Vierer-Tisch vor ihm am Fenster in einen Sechser-Tisch um, in dem sie zwei Stühle von einem anderen Tisch dazu stellten und sprachen kurz über die Tischordnung. Ein älterer Herr, in den Achtzigern, fragte ihn, ob er sich zu ihm setzen dürfe.
"Selbstverständlich!" antwortete Behnke. Und dann lachend:"Sie wollen sich doch nicht als Siebenter da noch `reinquetschen!"
Er setzte sich, nahm seine Brille in die Hand und betrachtete Behnke einen Moment lang aus trüben grauen Augen. "Wir haben eben meine langjährige Nachbarin beerdigt", sagte er lakonisch.
"Oh!" antwortete Behnke. "Wenn Sie auch nicht verwandt waren, trotzdem herzliches Beileid!"
"Danke!"
Eine Kellnerin brachte Behnkes Gericht und nahm die Bestellung der Trauergäste auf.
Behnke stocherte in seinem Essen herum. Der Salat war ganz pikant, aber das Filet schmeckte fade, hätte ebenso Fleisch sein können.
"Sie werden sonst wohl zu Hause verwöhnt?" fragte sein Tischnachbar.
"Ja, selbst am Essen merkt man, dass einem die Frau fehlt!"
"Doch hoffentlich nichts Ernstes?"
"Nein, zum Glück nicht! Sie bekam eine neue Hüfte und jetzt trennen uns noch drei Wochen 'Reha'."
"Dann haben Sie das ja bald überstanden. Seit meine Frau tot ist, beköstige ich mich selber. Manchmal hat meine Nachbarin, die mit meiner Frau gut befreundet war, für mich mitgekocht."
"Sie werden sie vermissen!"
Er bekam Schweinebraten mit Rotkohl, und Behnke wünschte ihm guten Appetit.
"Ja, ich werde sie vermissen. Ich tröste mich aber damit, dass es ein Wiedersehen mit meiner Frau geben wird!"
"Das verstehe ich nicht. Wie meinen Sie das?"
"Sind Sie gläubig? Das können Sie nur verstehen, wenn Sie kein Atheist sind!"
"Ich habe meinen Glauben!" antwortete Behnke bestimmt.
"Sein Gegenüber nickte nur und konzentrierte sich auf das Essen. Behnke bestellte sich noch ein Alsterwasser und lud ihn zu einem Bier ein. Als die Getränke kamen, bedankte er sich, nahm einen großen Schluck und fragte: "Glauben Sie denn, dass es eine Seele gibt?"
"Eine Seele? Meinen Sie Seelenwanderung oder die Seele, die in den Himmel verschwinden soll?"
Er kaute erstmal einen Bissen Fleisch durch. "Himmel ist ja ein abstrakter Begriff. Meine Tochter hat vor zwei Jahren zu meinen Enkelkindern gesagt: 'Oma ist jetzt im Himmel'. Damit haben sie sich zufrieden gegeben. Aber geben Sie sich als Erwachsener damit zufrieden?"
Behnke schob den Teller mit dem nicht bezwungenen Filet beiseite. Diese Unterhaltung schmeckte ihm besser! "Für einen Erwachsenen ist das nicht so einfach. Die Seele soll ja den toten Körper verlassen. Wer oder was ist aber die Seele? Keiner hat sie bisher gesehen. Schwebt sie aus der toten Hülle wie ein Luftballon zu Gott in den Himmel? Selbst die Astronauten haben vergeblich im Weltraum danach geschaut."
Der ältere Herr schüttelte lächelnd den Kopf. "Wer an ein Wiedersehen nach dem Tode glaubt, der stirbt ruhiger. Ich glaube daran und stelle mir vor, dass sich die Seelen auf dem weit über den Himmel gespannten Regenbogen aufhalten."
Behnke sah ihn ungläubig an. Er schien es aber wirklich ernst zu meinen. "Wie stellen Sie sich das genau vor?"
"Dass die Seelen dort oben wieder eine Art Lebewesen werden. Sie hängen wie Fledermäuse mit dem Kopf nach unten und blicken hinunter. Die Sehstärke der Augen ist hunderttausendmal stärker als bei einem Adler, damit sie jeden Winkel unserer Erde erkennen können."
Behnke konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren und fragte sich, ob er nicht von ihm auf den Arm genommen wird.
Doch seinem Gegenüber konnte er nichts Derartiges anmerken.
"Was ist das für ein neues Leben? Mit dem Kopf nach unten hängend die Erde zu beobachten, ist das erstrebenswert? Ist dass alles, was Sie an göttlicher Liebe erwarten? Können die Seelen zumindest miteinander kommunizieren?"
"Das weiß ich nicht, das erfährt man oben."
"Und warum kann man sie auf dem Regenbogen nicht erkennen?"
Bevor er antworten konnte, ertönte eine Stimme vom Nebentisch: "Herr Schulz, sind Sie fertig? Wir wollen Sie wieder mitnehmen!"
Er leerte das halbe Glas Bier in einem Zug und sagte: "Wir können sie von hier aus nicht erkennen. Selbst das stärkste Weltraumteleskop kann sie nicht erfassen, weil sie sich auf der erdabgewandten Seite des Regenbogens befinden. Vergleichbar mit der Rückseite des Mondes!"
Er verabschiedete sich, verschwand mit der Gruppe wie ein Spuk und ließ Behnke nachdenklich zurück.
 



 
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