Seelenwanderung

Enola Aileen

Mitglied
Alle vier Jahre, genauer gesagt, am 29.Februar bleibt die Zeit für einen Augenblick stehen.
Es ist ein gleichbleibender Zyklus, der all die rastlosen Seelen aus ihren Verstecken treibt, um durch die sich in vielen Teilen der Welt öffnenden Tunnel in das Licht zu treten. Dieser Moment ist nicht länger eine Zeit der Lebenden, sondern es ist die Zeit derer, die einmal gelebt haben.


Der schlichte Abreißkalender, der in ungefährer Augenhöhe auf der gemustert tapezierten Wand angebracht war, zeigte den 29.Februar. Direkt nebenan, auf gleicher Höhe, leistete ihm ein in einem goldlackierten Rahmen eingefasster Spiegel Gesellschaft. Aus dem eingerahmten Rechteck heraus, schaute ein Mann fortgeschrittenen Alters auf das Ebenbild eben seiner Person, die im spärlichen Licht einer schwach leuchtenden Stehlampe furchtbar verloren wirkte. Barfuß, nur mit einer hellblauen Pyjama-Hose bekleidet stand er da und starrte ins Leere. Zusammengesunken, wie ein armer Sünder ließ er die Schultern schlaff hängen, und die Arme kraftlos an seinem Körper herabbaumeln, auf dem die Spuren des Alterns bereits deutlich sichtbar waren. Die Muskeln seines Oberkörpers waren geschrumpft, ebenso wie die seiner Arme. Die Haut hing schlaff herab und bildetet Falten, so dass die bräunlichen Altersflecken auf seinen Händen noch deutlicher hervortraten.
Er bot wahrlich einen bemitleidenswerten Anblick. Lediglich der Fetzen Papier, den er zusammengeknüllt so fest in der rechten Hand hielt, dass die Sehnen und Adern aus seiner Haut traten, störten den schwächlichen Eindruck den er ansonsten bot. Das wenige, das von der Schrift auf dem Papierfetzen zu sehen war, ließ erkennen, dass es eines der Blätter dieses Kalenders war, der in dieser Nacht eine so tragende Bedeutung hatte. Er bewies, dass der gestrige Tag vorüber, und der Tag, der sich nur alle vier Jahre wiederholte, angebrochen war.
In Erwartung auf ein Ereignis, das noch heute an diesem seltenen Tag stattfinden würde, hatte er die letzten Stunden offenbar sehr gelitten. Das Leid, dessen Ursprung in seinem tiefsten Inneren verborgen gewesen war, drängte nun, nachdem es entfesselt worden war mehr und mehr an die Oberfläche, wo es sich erbarmungslos zu erkennen gab. Er war äußerst nervös; seine blonden Locken, in denen sich die ersten grauen Haare bereits zu deutlich sichtbaren grauen Strähnen verdichtet hatten, hingen ihm wirr und widerspenstig ins Gesicht. Sein ganzer Körper zitterte vor Anspannung und er schwitzte, obwohl es in der Wohnung so kalt war, das der heiße Atem kleine Wolken vor seinem halb geöffneten Mund bildete. Der Schweiß, der sofort an der Luft erkaltete, bedeckte seinen nackten Oberkörper mit einer Gänsehaut. Dunkle Ringe untermalten seine blauen Augen und auf seinem Gesicht lag der Schatten der Qual, die so plötzlich in sein Leben eingebrochen war. Sein Blick jedoch, war trotz allen Leidens der Blick eines wilden Tieres. Dem Wahnsinn nahe, geschürt von Ungläubigkeit, flackerte dort ein Feuer, dass sowohl Spannung als auch Todesangst auf das Gesicht im Spiegel malte.
Etwas war anders als sonst. Etwas Dunkles senkte sich so eindringlich auf ihn herab, dass er es fast mit den Händen greifen konnte. Aber akzeptieren konnte er er es trotzdem nicht. So lange wie noch ein Funken Hoffnung entgegen seinen Befürchtungen bestand, wollte er darum kämpfen. Also fragte er sein Spiegelbild, als wäre es eine eigenständige Person, die sein Schicksal in den Händen hielt, und somit auch beeinflussen konnte.
\"So viele Jahre blieb es vor mir verborgen, bis zu diesem einen Tag vor genau vier mal vier Jahren. Das mir etwas so Großes, etwas so Phantastisches widerfahren war, konnte nur Gutes verheißen, und ich versäumte es Angst zu haben. Heute jedoch habe ich Angst. Ich fühle mich so leer, meiner Zukunft beraubt. Ist nun der Augenblick gekommen, an dem mein Leben zu Ende geht?\"
So hingen die Worte nun im Raum, schwebten haltlos umher, bis etwas kommen würde um ihm zu antworten. Und etwas kam.
Gleißendes Licht strahlte plötzlich durch die in der Zimmertür eingelassene Milchglasscheibe und tauchte den Raum in eine merkwürdige farblose Helligkeit. Der Zeitpunkt war nahe.
Das ängstliche Flackern in den Augen des Mannes nahm noch einmal zu, und er begann noch stärker zu schwitzen. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn und dem Rücken gebildet, die in dem kalten, stetig an Intensität zunehmenden Licht funkelten wie kleine Diamanten. Er wusste was nun folgen würde; hatte es bereits vier Mal mit eigenen Augen sehen dürfen, aber trotz der maßlosen Angst, die ihn inzwischen fast um den Verstand brachte, legte sich der Hauch eines Lächelns auf sein Gesicht. Er wandte sich von der Gesellschaft seines Spiegelbildes ab, und drehte sich um. Dabei ließ er seinen Blick ausgiebig über die vielen antiken Möbel und Gegenstände gleiten, die er im Verlauf seines Lebens gesammelt hatte, um anschließend an der imposanten Standuhr hängen zu bleiben, deren Ticken nunmehr Ohrenbetäubend laut durch die Stille des Zimmers drang. Sie hatte ihren Platz direkt neben der Zimmertür gefunden, so dass sie vom unmittelbaren Schein des Lichtes verschont blieb, das durch die geschlossene Tür in den Raum fiel. Dennoch strahlte ihr Holz in voller Gänze, als schlummerte in ihrem Inneren eine eigene, geheimnisvolle Macht, die nun energisch nach Außen drängte.
Augenblicke später nur, nachdem er sich umgedreht hatte, öffnete sich die Zimmertür und eine Reihe von transpanrenten, menschlichen Gestalten betraten den Raum, ohne Notiz von dem zitternden halbnackten Mann zu nehmen, der nun dem Spiegel den Rücken kehrte. Vor der Standuhr, die noch immer in diesem seltsamen Licht erstrahlte das, inzwischen intensiver geworden, in einem gleichmäßigen Rythmus an-und abschwoll, blieben sie stehen. Es war ein harmonisches Pulsieren, welches dem über einhundert Jahre altem Holz der Uhr Leben einhauchte und es veränderte. Die Fronttür, durch deren Glasscheibe man eben noch das Pendel und zwei vergoldete, kunstvoll geschmiedete Gewichte hatte sehen können, verblasste mit jedem weiteren Aufleuchten. Ein weites, langgezogenes Nichts entstand; einem Tunnel gleich, in dessen weiter Ferne ein kleiner, aber strahlender Lichtpunkt zu sehen war.

Die Stunde, auf die all diese wandernden Seelen gewartet hatten, die Stunde in denen ihnen der Zugang ins Licht nach vier langen Jahren nicht mehr länger verschlossen blieb, war nun endlich gekommen. Schon reihten sich die Ersten ein und schritten ohne zu zögern über die entstandene Schwelle in ihr nächstes Leben, bereit dort ihren langersehnten Frieden zu finden.

So faszinierend dieses Schauspiel auch sein mochte, heute erfreute es ihn nicht. Ganz im Gegenteil, denn wenn er nicht so starr vor Angst gewesen wäre, dann hätte er wohl auf der Stelle das Zimmer verlassen. So aber hatte er sich nur ein kleines Stück zurückgezogen. Seine Oberschenkel berührten jetzt die Kommode, die vor dem Spiegel, den er noch vor wenigen Momenten befragt hatte, ihren Platz gefunden hatte. Doch so sehr er es auch wünschte, er konnte seinem Schicksal nicht mehr entfliehen.
Und während nun der nicht mehr enden wollende Strom der unterschiedlichsten Seelen weiterhin auf den Tunnel zustrebte, löste sich die Gestalt einer noch recht jungen Frau aus der Reihe und schrit auf ihn zu. Sie musste zu Lebzeiten einmal sehr Begehrenswert gewesen sein, denn sie war sehr hübsch; genauso wie er sich als Kind immer einen Engel vorgestellt hatte, mit langem, gelocktem Haar, das ihr weit und voll über die Schultern fiel. Plötzlich tat sie ihm Leid. So sehr sogar, dass er seine Furcht vergaß und ihr einen vorsichtigen Schritt entgegen trat.
Sie selbst blieb einen halben Schritt vor ihm stehen und streckte die Hand aus, um die Seine zu nehmen. Im ersten Moment erschrak er, wollte sogar die Hand vor ihr zurückziehen, entschied sich aber in letzter Sekunde doch anders, und ließ sich von ihr berühren.
\"Du musst keine Angst haben\", sagte sie mit ihrer kristallklaren Stimme, welche die Gänsehaut auf seinen Armen und Oberkörper noch einmal verstärkte. \"Diese Welt zu verlassen ist nicht so schlimm wie du denkst. Viel schlimmer ist es, vier Jahre lang das Leben in einer Welt zu betrachten, die nicht länger die Welt sein wird, die du einmal kanntest. Komm mit mir. Ich verspreche die, dass es dir gut gehen wird. Du wirst deinen Frieden finden.\" Sie strich mit der Hand über seine rechte Wang; keine Brührung, nur ein kalter Hauch war zu spüren, während ihm sein Engel mit leicht zur Seite geneigtem Kopf fest in die Augen sah. \"Frieden,... das ist es doch wonach du dich sehnst, nicht wahr?\"
Teils nachdenklich, teils fasziniert von ihrer zerbrechlichen Erscheinung entgegnete er ihrem Blick, ohne etwas zu erwidern. Aber er glaubte ihr. Er glaubte ihr, obwohl er sie gar nicht kannte. Es war, als wäre all seine Angst und die Anspannung der letzten Stunden, innerhalb eines Wimpernschlages von ihm gefallen. Ein knappes, bestätigendes Nicken gesellte sich zu dem aufwallenden Lächeln in seinem Gesicht, und er ließ sich von ihr bereitwillig zu der Schlange der wartenden Seelen geleiten.
Sich noch immer bei den Händen haltend, rückten sie in der Reihe vor, und standen schließlich vor dem Gehäuse der Standuhr, in dem der Tunnel wie ein schwarzer Teppich ins Endlose führte. Um ihn gemeinsam zu passieren, war der Durchgang zu schmal, aber ein kurzer gegenseitiger Blick reichte aus, um klarzusellen, dass sie beide nicht allein gehen wollten. Also wechselte er rasch die Hand, damit sie beide problemlos hintereinander über die Schwlle treten konnten. Wie ein echter Gentleman ließ er ihr den Vortritt, und folgte anschließend ohne sich noch einmal umzublicken. Die Angst, die noch vor wenigen Augenblicken so bedrückend auf seinem Körper gelegen und ihm die Luft zum atmen genommen hatte, war von ihm gewichen. Er war plötzlich so entspannt wie schon lange nicht mehr und Erleichterung erhellte sein Gesicht als er über die Schwelle auf die andere Seite trat. Endlich würde er frei sein, und er würde wieder glücklich sein.

Die entscheidende Stunde dieses so seltenen Tages ging zu Ende. Der Strom der Seelen versiegte und es kehrte wieder Ruhe ein. Allein seine tote, seelenlose Hülle verblieb in dem Zimmer, und das wieder entfachte Ticken der Standuhr verbarg das Wunder das in ihr schlummerte.
So lange, bis sie in vier Jahren wieder all die Seelen zu sich rufen würde, die ziellos in der Welt umher wandern.
 



 
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