Segnung des Zeitlichen

dingdoi

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Segnung des Zeitlichen


Nur schwerlich dreht er sich um. Jeden Morgen ist es dasselbe, ist es dieselbe Prozedur; nervtötend, ermüdend, monoton: Wecker dröhnt, Drehung nach links, Drehung nach rechts, aufstehen.
Immer wieder ist es die gleiche Qual, die gleiche quälende Frage nach dem Grund. Ich kenne viele Leute und Menschen, die mir jetzt antworten würden: "Tja, weißt du, das ist nun mal so." So, weiß ich das? Wer weiß schon, woher das kommt! "Der Wunsch nach Ordnung." Aha, klingt plausibel. Aber kann man sich sicher sein, dass die Leute, die so etwas behaupten, nicht voreingenommen sind? Die Gewohnheit hat doch auch sie befallen. Sie arbeiten 8 Stunden am Tag. Schlafen dazwischen. Und wenn sie Glück haben, bleibt sogar noch ein wenig Freizeit übrig, in der sie dann ihren Garten zurecht machen oder ihrem Trainingsplan folgen können. Der Mensch als Gewohnheitstier. Die Gesellschaft als Gewohnheitstier.
Ein Blick auf den so verhassten Wecker reißt ihn aus seinen Gedanken. Ja, es ist tatsächlich schon 10 nach halb7! Jetzt ist alles eins: Raus aus dem Bett, anziehen, passende Krawatte suchen, frühstücken, kurz ins Bad, ins Auto und ab geht's.
Wie konnte mir das bloß passieren? Ich war doch schon wach. Hab' ich denn die Schlummertaste heute verfehlt? Muss wohl so sein. Aber jetzt ist es sowieso zu spät, der Chef wird mich in der Luft zerreißen! Ich bin tot. Das war's. Finito und aus! Ablenkung - genau - die brauche ich jetzt. Ist doch schön, so'n Radio im Auto zu haben.
Er schaltet es ein. Doch was er nun hören muss, ist nicht das gewünschte: Voller Elan und Gefühl spricht ein Reporter aus, was seiner Karriere mit diesem Tage Auftrieb verschaffen wird. "Es ist ein grauenvolles Bild." Was war passiert? Achso, ein Flugzeugabsturz. Na ja. Unsere Hauptperson schaut sich um.
Verdammter Stau! Der hat mir gerade noch gefehlt. Is' aber 'ne gute Ausrede, sehr gut. Also, ganz ruhig und abwarten, wie die anderen auch. Aber was muss ich denn da sehen? Ich hör's ganz deutlich! Die Fahrerin da hat ihr Radio lauter gestellt. Und der auch. Da drüben auch. Was soll das? Lass' mich nachdenken.
"...143 Tote...,...Trümmer überall verteilt...,...Spekulationen reißen nicht ab...,...bleiben sie dran, wir berichten gleich weiter live von der Absturzstelle...,...Müller-Milch Müller-Milch Müller-Milch die schmeckt und weckt was in dir steckt alles Müller oder was...,...kauft Leute kauft kauft...,...zurück zu unserem Reporter...,...keine Deutschen...,...immer noch werden Tote abtransportiert..."
Ist es tatsächlich möglich, das Reporter ausgebildete Psychologen sind, die ihre Hörerschaft voll unter Kontrolle haben, sie allein mit den ihrem Mund entströmenden Worten zum Zuhören zwingen können. Nein, ziemlich unwahrscheinlich, oder? Sieh' sie dir doch an. Halb apathisch sitzen sie in ihren Autositzen, die Augen weit geöffnet und weiden sich an den so geliebten Aussprüchen eines Insider-Wortschatzes: "Boa, Tote! Geil, Trümmer! Wenn ich das bloß sehen könnte!" Willige Zuhörer, die kaum loszureißen sind von solchen Berichten. Vielleicht würden sie auch gerne selber mal einen Schwerverletzten aus dem Wrack ziehen. Aber schön blutig muss er sein. Nach Möglichkeit noch's Bein ab. Und voller Stolz haben sie dann vor ihren mehr- oder minderbemittelten Freunden etwas zu erzählen: "Ich war dabei!"
Ein leichter Ekel überzieht sein Gesicht. Er wendet sich ab, legt eine Hand ans Radio und sucht einen anderen Sender. Er hört wieder Berichte, hört Lieder, die alt sind, hört Lieder, die neu sind, hört Lieder, die zwar alt sind, sich aber neu anhören. Er schaltet das Radio ab. Es geht vorwärts. Zwar nur langsam, aber immerhin.
Wäre ich jetzt schneller gefahren, hätte die junge Person, die mir gerade vors Auto läuft, wohl keine Chance.
Der Stau hat sich aufgelöst.
Wäre die alte Dame, die gerade die Straße betreten hat, schneller zu Fuß, hätte ich wohl keine Chance für ein Ausweichmanöver. Ich hätte nicht ausweichen können. Kameras wären aus dem Nichts aufgetaucht, hätten mich an den Pranger gestellt.
"...halt mal voll drauf...,...das Blut muss gut zu sehen sein...,...zeig' die Alte aber nur von hinten...,...jetzt das Auto...,...und zum Schluss der Kerl..."
Jetzt wird's aber Zeit.
Da hat er wohl recht. Aber trotz aller Erklärungsversuche muss er sich ein nette kleine 2,5-minütige Standpauke anhören. Warum er so spät sei! Zeit sei schließlich Geld! Geld hätten sie nicht! Was soll das bloß noch für ein Tag werden? Aber was so anfängt, kann nur noch besser werden. Er schließt die Bürotür hinter sich und sinkt in seinen Ledersessel. Auf dem Schreibtisch drei Telefone, die prompt gleichzeitig beginnen zu klingeln.
Keine Technik. Einfach so in den Raum gestellt zwei ziemlich simple und unbedeutende Worte, die erst nach einiger Überlegung ihre wahre Bedeutung offenbaren: ohne Technik nichts. Man hätte keinen Luxus mehr. Kein warmes Wasser aus der Leitung, keine elektrische Heizung, der Schwall von Informationen würde gestoppt. Ein grauenvolles Szenario, nicht wahr? Aber andererseits eigentlich verlockend: diese Ruhe, kein Piepen würde stören. Man hätte wunderbar viel Zeit zum Entspannen, denn wo keine Technik, da auch kein Wecker, somit keine wirkliche Zeit. Alles könnte mir gehören. Meine Gedanken wären mir wieder eigen, kein Kabel würde Einfluss nehmen, mich überschütten, mir Unwirkliches suggerieren.
So soll es sein!
Stellt sich nur die Frage, was man für solch ein Leben braucht. Einfacher wäre die Frage: Was braucht man nicht? "Alles" könnte die Antwort lauten. Ausgenommen sind natürlich lebensnotwendige Dinge wie Wasser, Essen (insofern wichtig, als dass ich mich in eine Hütte einschließen und nicht zum Jagen kommen werde). Zeitung - nein. Es geht schon los. Kaum zu glauben. Ich habe nur an das Einsiedlerdasein gedacht und schon kommt die Reaktion. Zu deuten als Aufforderung umzukehren. Es ist der falsche Weg. Aber ich habe mich entschieden.
Er macht sich also auf den Weg zum Supermarkt. Nachdem er endlich einen Parkplatz gefunden hat, hört er es schon aus den Lautsprechern tönen. "Wir schließen in 15 Minuten. Bitte verlassen sie das Gebäude."
Er geht trotzdem hinein, kauft Wasser, kauft Lebensmittel, kauft Kerzen. Seelenruhig schlendert er Richtung Kasse. Er hat es doch nicht eilig. Also warum sollte er sich unnötig beeilen?
Was heißt für mich schon Zeit? Das ist doch auch bloß eine von vielen. Eine Erfindung des Menschen, damit er weiß, wann was zu tun ist. Planung ist heute alles. Anders würde ein Mensch wohl auch nicht überleben können, in einer Zeit, die schnell vergeht. Ich sollte besser sagen: in einem Leben, das schnell vergeht. Da muss man alles nutzen, alles machen, alles erleben. Müsste man. Ich tue es. Heißt das jetzt eigentlich, dass ich nun ein Aufsässiger bin? Ich stelle mich gegen die Regeln. Ich lebe anders. Aber das muss es mir wohl schon wert sein. Er zahlt, geht hinaus und fährt zu seinem Haus. Dort richtet er sich ein Zimmer zweckmäßig ein. Ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett, ein Waschbecken mit Wasserhahn - das soll reichen. Danach geht er noch ein letztes Mal hinaus.
Nun denn. Gelabt euch wohl an diesem Anblick, Augen. Es wird das vorerst letzte Mal sein, dass ihr diese Pracht erblicken dürft. Nun schließt euch. Schließt euch.
Es ist soweit. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Die Tür wird geschlossen und verriegelt, so wie die Fenster. Es gibt kein Zurück mehr. Langsam setzt er sich auf den Stuhl, an den Tisch. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn über das Gesicht am Kinn entlang.
Wie spät ist es? Meine Güte! Man geht doch kaputt! Wie soll die Welt denn laufen ohne Zeit, ohne einen Plan. Das Chaos wird kommen, ein Feuer, eine Brunst, die alles anti-zeitliche verschlingt. Mich wird sie holen, ganz bestimmt. Denn wo kein Plan ist, wird auch kein Ziel sein und die Laster drängen sich auf, wollen zerstören. -
Aber, haltet ein unsägliche Gedanken! Warum jetzt? Warum kommt ihr in dieser zweifelhaften Stunde mich zu belehren? Nur wenn ich es recht begreife: Wo sind sie hin, die Wahrheiten, häppchenweise serviert und aufgetischt? Friss oder stirb!" So war das Motto, noch vor kurzem. Die volle Dröhnung war die Erfüllung, zumindest die Befriedigung der Sucht nach Höherem. Eine zweifelhafte Sucht.
Nur kurz hält er inne, um im nächsten Augenblick in einen Wahn zu fallen. Bin ich geheilt? Ich spüre kein Verlangen mehr. Ein Erfolg? Ich glaube schon. Ich denke ja. Und das ganz allein. Ohne fremde Hilfe. Es ist jetzt an der Zeit, es zu wagen, die Rollläden zu öffnen, dem Licht der Sonne, dem Licht eines neuen Abschnitts Einlass zu gewähren, es zu begrüßen und zu bejubeln. Öffnen wir das Fenster, um diesen glorreichen Tag zu bewundern. Ich atme tief ein, strecke meine Arme aus - und merke es regnet. Nun gut, ein paar Minütchen werde ich ja wohl noch überstehen!
Das hat er sich so gedacht! Falsch!
Aber - Nein! Das kann nicht sein! Unmöglich! Das kann nur ein böser Traum sein. Es hat mich wieder! Blut an meinen Händen! Die Kugel ist rot.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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