Sein höchstes Ziel

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Raniero

Textablader
Sein höchstes Ziel

„Irgendwann musste es ja einmal so kommen, mit dem Karl“, befanden die Einen, „es war ja praktisch nicht anders zu erwarten.“
„So ein Schicksalsschlag aber auch“, meinten andere, „vor allem für die arme Frau.“

Karl Reiers, der kleine Angesttellte des großen Konzerns, war ein Arbeitskollege, wie man ihn sich nur wünschen konnte; bei allen beliebt, stets höflich und zuvorkommend, hatte er nur eine kleine, etwas merkwürdige Marotte, die auf den ersten Blick nicht das Verhängnis ahnen ließ: Er hatte es mit dem Du.
Karl Reiers hatte die Zwangsvorstellung, jeden, aber auch jeden, mit dem er längere Zeit, beruflich oder privat, zu tun hatte, so bald als möglich duzen zu müssen. Diese Marotte, die, solange sie auf den privaten Bereich beschränkt bleibt, mag ja noch angehen und wird auch von den meisten Zeitgenossen mehr oder weniger toleriert oder gar selbst gepflegt. Im Berufsleben jedoch sieht so etwas anders aus und kann unter Umständen weitreichende Folgen bis hin zur Beleidigungsklage oder zur schriftlichen Rücknahme des voreilig gegebenen Du haben. Soweit jedoch ließ es Karl Reiers, der mit einer außerordentlichen Spürnase ausgestattet war, niemals kommen, denn er wandte eine Taktik an, die einem Indianer auf dem Schleichpfad alle Ehre gemacht hätte. Hierbei bediente er sich eines schlichten, aber überzeugenden Mittels; der Anwendung des sogenannten Supermarkt-Du, welches wie folgt, funktionierte: Nach einer kurzen Schonfrist traktierte er beispielsweise einen neuen Arbeitskollegen mit einer Redewendung, die man täglich in den Supermärkten des Landes zu hören bekommt und bei denen man den Eindruck hat, dass die Mitarbeiterinnen selbst nicht mehr wissen, ob sie per Du oder per Sie zueinander stehen. So ist dort allenthalben zu hören: „Hör mal, Frau Schulze, was kosten die Bananen?“ oder „Komm mal bitte zur Kasse, Frau Müller!“
Während die Supermarktdamen diesen Sprachstil jedoch zumeist bis zum Ende ihres Arbeitslebens bevorzugen, so war dieser für Karl Reiers nur ein direktes Mittel zum Zweck, eine reine Zermürbungstaktik, denn irgendwann hatte auch der geduldigste Kollege die Faxen dicke und forderte Karl energisch auf: „Nun aber mal Schluss damit, mit diesem Edeka-Du, entweder Du oder Sie!“
Diese Augenblicke stellten Momente wahren Glücksgefühles in Karl Reiers doch recht eintönigem Alltagsleben dar, denn bis jetzt hatte keiner der Kollegen ihm das ersehnte Du verweigert und wie ein Indianer, der sich eine Kerbe für jeden erledigten Gegner in sein Tomahak schnitzt, so vermerkte er des Abends mit glänzenden Augen in seinem Duz-Tagebuch: Kollege Krause- Böckerhoff heute endgültig das Du entlockt. Datum, Unterschrift.
Schwieriger wurde dieses Unterfangen jedoch bei Karl Reiers zahlreichen Vorgesetzten in dem großen Konzern, doch auch hier hatte er sich große Ziele gesetzt.
Ihm war natürlich bewusst, dass es hierfür weit mehr an Geduld und Zeit bedurfte als bei den auf gleicher Ebene befindlichen Kollegen. Gleichwohl verlor er diese Ziele nicht aus den Augen und machte sich daran, peu a peu auch die großen Tiere zu verschlucken beziehungsweise diesen das begehrte Du abzuringen. Hierbei wandte er allerdings ein anderes Verfahren an und ging von der Zermürbungstaktik zum Überraschungsangriff über.
Er wartete ab, bis ein festlicher Anlass ins Haus resp. Büro stand und nutzte dann blitzschnell die Gelegenheit, bei einem Glas alkoholischen Getränks den jeweiligen Vorgesetzten überfallartig zu duzen um sich gleich darauf für sein Benehmen zu entschuldigen. Zu Karls eigener Überraschung funktionierte dieses System besser, als er es sich selbst vorgestellt hatte. Die auf diese Weise Überfallenen waren erstens sehr verblüfft, da sie mit einem solchen Anschlag nicht gerechnet hatten und zum zweiten auf Grund ihres Alkoholpegels nicht mehr in der Lage, diesen argumentativ abzuwehren. Aus diesem Grund gaben sie sich denn schnell geschlagen, drohten allenfalls mit dem Finger und griffen verlegen zum nächsten Glas.
Dass es manchem von ihnen später im nüchternen Zustand Leid tat, sich auf diese Weise das Du entlockt zu haben, machte dem Duzsüchtigen Mitarbeiter nichts aus und tat der Sache keinen Abbruch; er hatte ein weiteres Etappenziel erreicht auf dem Weg, sich nach oben zu Duzen, und konnte weitere Kerben anbringen beziehungsweise neue Tagebucheinträge vornehmen.

Die Krönung jedoch stand noch bevor, und Karl ließ auf dem Wege dahin nicht locker. Nachdem er all seine Chefs, vom Abteilungsleiter bis zum stellvertretenden Generaldirektor nach und nach auf diese Weise ‚geschafft hatte’, sah er das Endziel seiner beruflichen Laufbahn nunmehr dicht vor Augen; das höchste zu erlangende Du, das Du keines Geringeren als das des Generaldirektors selbst! Dieses Ziel aber erwies sich als die härteste Nuss, die Karl jemals in dieser Beziehung zu knacken hatte, denn der Generaldirektor war schließlich nicht irgendwer, sondern sein höchster Chef und darüber hinaus auch noch strikter Antialkoholiker. Hin und wieder nahm er zwar an Festlichkeiten und Ehrungen im Betrieb teil, doch zu seinem Leidwesen musste Karl einsehen, dass er auf den bisher so bewährten Pfaden nicht weiterkam.
Guter Rat war gefragt, denn er brauchte dieses Du unbedingt für seinen Seelenfrieden.
Abermals jedoch war das Glück ihm hold, ein letztes Mal auf dem langen Weg zum erstrebten Glück, und die Gelegenheit hierfür bot sich schneller als er dachte.
Karls einzige Tochter Jennifer befand sich in einem Alter, in welchem man beginnt, sich ernsthaft für das andere Geschlecht zu interessieren. Vorbei war die Zeit, zu seinem Leidwesen, in welcher der Vater für sie das männliche Idol abgab, doch Karl fügte sich, wie viele Väter vor ihm, mannhaft in sein Schicksal.
Eines guten Tages brachte Jennifer einen jungen Mann mit nach Hause, den sie den Eltern als ihren Freund vorstellte. Die Mutter war gerührt über das junge Pärchen und fühlte sich an vergangene Zeiten erinnert, als ihr Karl um sie freite. Auch der Vater war angetan von dem jungen Mann mit abgeschlossener Berufsaufsausbildung, erinnerte dieser ihn in seiner Schüchternheit doch an sein eigenes Verhalten seinen Schwiegereltern in spe gegenüber, zumindest in der ersten Zeit.
Einige Wochen später brachte Jennifer erneut etwas mit nach Hause; eine frohe Botschaft für die Eltern. Nachwuchs hatte sich angekündigt, Nachwuchs, den sie bereits im Bäuchlein zu spüren begann.
Die Eltern waren zuerst nicht gerade erbaut davon, sahen aber ein, dass es nicht um ihre eigene, sondern um die Zukunft ihrer Tochter ging.
„Er wird dich aber doch heiraten, dein Michael?“ fragte die besorgte Mutter.
„Aber ja, doch, Mama, und er freut sich schon riesig auf das Baby. Und seine Eltern ebenfalls, sie werden genauso wie ihr, das erste Mal Großeltern. Sie möchten euch übrigens so schnell wie möglich kennenlernen.“

Karl machte Stielaugen, als er mit Frau und Jennifer vor der Villa seines höchsten Chefs, dem künftigen Schwiegervater seiner Tochter, eintraf. Dieser öffnete persönlich die Tür.
„Sie, Herr Reiers?“
„Verzeihen Sie, Herr Generaldirektor, das ist meine Familie.“
„Lassen Sie mal ruhig den Generaldirektor weg, mein Lieber, ich bin der Knut. Hereinspaziert, meine Herrschaften, meine Frau kann es kaum erwarten. Michael, nimmst du deiner Schwiegermutter mal den Mantel ab.“

Am folgenden Tag aber brach das Unglück über Karl in vollem Umfang herein. Sei es, durch das plötzliche, in dieser Form absolut nicht erwartete Du seines höchsten Chefs, sei es, durch die Aussicht, künftig mit diesem die gemeinsame Enkelschar – seine Tochter wünschte sich mindestens drei Kinder - auf den Knien zu wiegen, seit diesem Tag nämlich siezt er seine Frau und seine Tochter, darüber hinaus führt er häufige Selbstgespräche in der gleichen Tonart, und die Psychologen sagen übereinstimmend, dass auf absehbare Zeit mit einer Besserung seines Zustandes nicht zu rechnen sei.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also,

mit so einem schluss habe ich nicht gerechnet. gelungen!
3 kleine fehlerchen: im 2. absatz Angesttellter
Tomahak wird, glaub ich Tomahawk geschrieben (jedenfalls bei Lieselotte Welskopf-Henrich)
und in dem satz . . .zu duzen um sich gleich darauf . . .zu entschuldigen kommt nach duzen n komma.
lg
 

Raniero

Textablader
ja, das freut mich doch, dass ich Dich gleich zum Start in's neue Jahr mal überraschen konnte.:)
Dank für die Korrekturen.
Übrigens, der alte Spruch, dass das Leben die schönsten Storys schreibt, bewahrheitet sich doch immer wieder.
Ich kenne einen solch duzgeilen Typ persönlich, und ihm zu Ehren habe ich diese Story geschrieben; er weiß nur nicht's davon.

Gruß Raniero
 



 
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