Seine Großmutter

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Mara Krovecs

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Seine Großmutter

Sie war höchstens 1.45 m groß und wirkte wie ein Porzellanpüppchen, so zierlich und zerbrechlich. Ihr Gesicht schien edel und vornehm, das lag an ihrem Blick. Sie hatte einfach etwas königlich Herablassendes. Ihr Teint war sehr blass, die Augen - mit hohen Lidern - schimmerten veilchenblau, die Haare schmiegten sich silberweiß um ihren Kopf. Wenn ich an sie denke, sehe ich sie immer in ihrem hellblauen Mäntelchen, das knapp die Knie bedeckte und ihre dünnen Waden über schwarzen Stöckelschuhen präsentierte. Außerdem trug sie meist eine kleine, schwarze Handtasche bei sich, die sie mit beiden Händen fest an ihren Körper drückte.
„Sie ist die schönste Großmutter, die ich je gesehen habe“, flüsterte ich Daniel zu und schmiegte mich eng an ihn. Wir lagen im Bett seiner Eltern, die gerade verreist waren. Nur die Großmutter war noch da, sonst hätten wir das große Haus für uns alleine gehabt.
Übermütig begann ich im Bett herumzutoben. Das ging nicht geräuschlos ab. Sofort stürzte sich Daniel auf mich und hielt mir entsetzt den Mund zu.
„Bist du verrückt geworden?“ zischte er. „Meine Großmutter schläft nebenan, sie ist das nicht gewohnt, was soll sie denn denken?“
Bei der Vorstellung, dass sie etwas denken könnte, was sie nicht denken sollte, brach ich in lautes Lachen aus. Danach war ich allerdings brav, mit Rücksicht auf die sensible alte Dame.
Mitten in der Nacht erwachte ich von einem lauten Geräusch, das tief in meinen Traum eingedrungen war und sich hartnäckig hielt, auch als ich die Augen öffnete. Es hörte sich an wie ein kleiner Presslufthammer, heulte wie ein Gespenst, pfiff zwischenzeitlich und stolperte wie ein altersschwacher Motor.
Ich weckte Daniel, obwohl ich ahnte, was das für ein Geräusch war: Die kleine Großmutter schnarchte und zwar so laut, dass sie fast das Haus zum Wackeln brachte.
Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass sie jede Nacht solche Töne von sich gab. Manchmal, wenn wir abends spät nach Hause kamen und sie schon zu Bett gegangen war, hörten wir sie bereits am Treppenansatz.
Nach zwei Wochen fuhren wir mit der kleinen Großmutter nach Carolles, einem kleinen Fischerdörfchen in der Manche, ganz in der Nähe vom Mont Saint Michel. Dort besaß
die Familie ein wunderschönes, altes Backsteinhaus, in dem sich unten Küche und Esszimmer, oben ein Badezimmer ohne fließendes Wasser und das Zimmer der Großmutter befanden.
Nebenan lag ein schöner Garten, in dem Daniel und ich in einem Zelt schliefen.

An einem Abend kamen wir weit nach Mitternacht von einem Konzert zurück, glücklich und
ausgelassen. Wir verspürten riesigen Hunger und als ich an die leckeren Dinge in diesem französischem Kühlschrank dachte, lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Wir schlichen uns ins Haus, in die Küche, und machten uns über die Reste des Mittagessens und über das herrliche Baguette her.
Während wir erzählten , kauten und schluckten, hörten wir auf einmal laute Schreie, wie in aller höchster Not ausgestoßen; sie gingen in Kreischen über und mündeten in einem französischen Wortschwall. Daniel und ich vergaßen das Kauen, wir starrten uns mit aufgerissenen Augen verständnislos an.
Plötzlich begann Daniel zu lachen. Sein Lachen vermischte sich in mit dem nicht enden wollenden französischen Gezeter.
„Weißt du, was los ist?“ prustete er. „Das ist meine Großmutter! Sie denkt, wir sind Einbrecher und droht uns mit einem schrecklichen Tod. Sie verflucht uns und rät uns, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.“
Wir rannten entsetzt zur Treppe und sahen die zerbrechliche alte Frau auf der obersten Treppenstufe stehen, mit den Händen herumwirbelnd, bereit ihr Leben zu verteidigen. Sie trug ein langes, weißes Nachthemd und hielt etwas in der drohend erhobenen Hand, während sie ununterbrochen kreischte und zeterte.
„Was hat sie denn da in der Hand?“ fragte ich Daniel erstaunt. Er antwortete nicht, er versuchte vergeblich, sich bei der alten Dame Gehör zu verschaffen. Endlich erkannte sie ihren Enkel. Als Daniel ihr erklärt hatte, was wir in der Küche wollten, ging ihr Geschrei in eine anklagende, französische Tirade über. Schließlich kehrte sie uns den Rücken zu und verschwand in ihrem Zimmer.
„Und was hatte sie in der Hand, um uns umzubringen?“ fragte ich hartnäckig.
„Ein Pfeffersäckchen; sie wollte uns Pfeffer in die Augen werfen“, seufzte Daniel.
Wir gingen nie wieder so spät in die Küche.

Die Großmutter lebt nun nicht mehr. Sie starb in den Achtziger Jahren in einer kleinen Wohnung in Paris. Ich erfuhr es erst sehr viel später, denn Daniel und ich hatten uns aus den Augen verloren.
Ich habe noch ein Foto von ihr. Sie sitzt auf einer Bank in einer kleinen Bahnstation, irgendwo in der Nähe von Paris. Ihre Füße reichen nicht bis zum Boden hinunter, sie hängen wie schaukelnd in der Luft; die Handtasche hält sie fest an ihren Körper gedrückt. Mit stolzem, aristokratischem Blick schaut sie in die Kamera.
 



 
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