Seit du fort bist ...

Katjuscha

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Lieber Papa,
seit du fort bist, ist nichts mehr so wie es einmal war. Sogar der Himmel scheint in einem anderen Blau als vorher. Er ist eher abwaschwasserfarben. Seit Du fort bist, hört man hier nur noch gedämpfte Stimmen. Mama hat Ringe unter den Augen und Michi sitzt schon seit Stunden in seinem Zimmer und zerkratzt mit seinen Stiften die Schreibtischplatte. Niemand will glauben, was passiert ist. Michi fragt immer wieder: „Stimmt’s er ist nur auf Dienstreise und kommt bald wieder, stimmt’s!“ Am liebsten würde ich dann nicken, aber ich kann es nicht.
Die einzige, die hier zu leben scheint, ist Oma. Vorhin war sie einkaufen, damit wieder etwas im Kühlschrank ist, aber wir haben sowieso keinen großen Hunger. Es ist so still in der Wohnung, dass ich Angst habe. Dann laufe ich zu Mama ins Wohnzimmer und setze mich neben sie, damit ich sie atmen hören kann. Allein sein ist schrecklich.
Gestern Nacht hat Michi wieder geschrien. Ich habe ihn getröstet und wir sind zu Mama gegangen und haben uns zu ihr ins Bett gelegt. Zu dritt haben wir es geschafft, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen.
Am schlimmsten ist es morgens, wenn ich aufwache. Dann vergesse ich einige Sekunden, was passiert ist. Um so schlimmer wird es dann, wenn mir wieder bewusst wird, dass du nie wieder kommen wirst. Vor allem Michi hat es schwer. Er stellt noch immer jeden Morgen vier Teller auf den Tisch. Dann überlegt er und meint: „Wir lassen den Teller lieber stehen, vielleicht kommt Papa ja noch.“ Da müssen wir dann wieder weinen und keiner hat mehr Appetit.
Heute morgen kam Michi in mein Zimmer gestürzt und schrie: „Papa ist da, Papa ist da! Das Auto steht unten!“ Ich rannte zum Fenster, vielleicht hatte ich das alles nur geträumt und du ständest jetzt wirklich da unten und winktest uns fröhlich zu. Aber es war nur das Auto von Herrn Paschulke von gegenüber. Weißt du, der, der dir immer den Parkplatz wegnimmt.
Vorhin musste ich kurz über einen Witz im Radio lachen, aber ich bekam gleich einen Schreck und fühlte mich schuldig. Doch wahrscheinlich willst du gar nicht, dass wir traurig sind. Doch es ist so schwer an etwas anderes zu denken.
Oma hat gesagt, dass sie Michi für ein paar Tage mit zu sich nehmen will, damit er aus der Traurigkeit herauskommt. Aber er wollte lieber bei Mama und mir bleiben, obwohl er sonst so gern zu Oma geht. Oma ist stark. Sie ist auch traurig, aber sie lebt weiter. Wenn Oma da ist, fühle ich ihre Stärke und weiß, daß es weiter gehen muss.
Manchmal will ich schreien und alles zerschlagen, weil ich so wütend bin, weil ich Angst habe, weil ich traurig bin, weil du fort bist. Oma gibt mir dann ein Kissen und sagt, ich solle da so lange hineinbrüllen wie ich möchte. Wenn ich dann nicht mehr kann, falle ich schlapp auf mein Bett und muss wieder weinen, aber ich fühle mich besser danach. Eigentlich kann man es gar nicht mehr weinen nennen, denn meine Tränen sind längst verbraucht.
Vorhin war Suse da. Wir haben gemeinsam geweint. Sie ist meine beste Freundin. Wir haben zusammen mit Mama und Michi Canaster gespielt. Michi konnte sich sogar ein wenig freuen, weil er gewonnen hat. Ein bisschen war es dann wie früher. Wir waren Suse sehr dankbar für den Abend. Morgen nach der Schule möchte sie wieder kommen.
In die Schule kann ich noch nicht gehen. Michi hat gesagt, er wolle erst wieder in den Kindergarten gehen, wenn du wieder kommst. Mama hat ihn angeschrien bis wir alle wieder weinen mussten. Dann hassen wir gemeinsam den betrunkenen Kerl, der daran schuld ist, daß du von deiner Dienstreise nicht mehr zurück gekommen bist. Ich möchte gar nicht wissen, wer er ist. Er hat den Unfall überlebt. Dafür hasse ich ihn. Doch wahrscheinlich ist es böse, so zu denken, denn auch er hat bestimmt eine Familie, die froh ist, dass nicht er derjenige ist, der die Brücke hinunter gestürzt ist. Wir hassen die Brücke. Wenn die nicht gewesen wäre, wärst du vielleicht noch bei uns. Ich hasse dieses „was wäre, wenn ...“. Ich will, dass du zurück kommst, weil wir dich so wahnsinnig vermissen, aber man kann die Zeit nicht zurückstellen. Mir ist bewusst geworden, dass das Leben auch ohne dich weiter gehen muss. Was bleibt ist eine Erinnerung.

In Liebe, deine Tina!
 



 
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