Sekunden eines Lebens

Generix

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Sekunden eines Lebens


Ein sanfter Wind wehte. Regen prasselte leise, kaum hörbar gegen die Fensterscheiben des Einfamilienhauses in New Bern. Ein Mobile an der Außenfassade jagte durch das ständige Spiel im Wind tausende von Farben durch das Zimmer. Amüsiert schaute Ronan aus dem von Wasserschlieren und Farben durchzogenem Fenster seines Zimmers und beobachtete, wie die Kinder im Garten durch die matschigen Pfützen hüpften, wie sie Fangen spielten und sich im Regen mit dem Gesicht gen Himmel im Kreis drehten, als würden sie nach etwas Ausschau halten, als würden sie auf etwas warten. Er sieht sie, wie sie die Arme weit in die Höhe strecken, als wollten sie etwas greifen, dass ihnen aus den Händen gerissen wurde. Sie tragen Regenmäntel, Gummistiefel und regenfeste Hosen, die seine Frau ihnen vor langer Zeit schon gekauft hatte, obwohl sie problemlos zwei Mal in die Jacke gepasst hätten, so klein sie zu dieser Zeit noch waren. Monika und Ben. Rachels und seine Kinder.

„Sie sind reingewachsen“, hörte er seine Frau hinter sich die Stille durchbrechen :„ wie ich es dir gesagt habe!“ Ronan zuckte leicht zusammen. Er hatte ihr plötzliches Erscheinen nicht erwartet. Er war in seinem Arbeitszimmer und normalerweise kam seine Frau niemals hierher zu ihm. Es schien als wüsste sie, dass er jetzt nicht allein sein wollte. Ronan schnaufte. Nach einiger Zeit antwortete er:„Da hattest du wohl recht. Damals fand ich, dass du etwas übereifrig wegen Ben gewesen bist. Ich meine, er war nicht mal geboren.“ „Ich wollte nur vorbereitet sein und ihm alles bieten können“, sagte sie ohne wütend auf das zu werden, was er eben gesagt hatte. Stattdessen durchschritt sie das Arbeitszimmer und wirbelte dabei etwas Staub auf, den man durch das einfallende Licht in sanften Einklang mit Rachel durch den Raum schweben sah. Sie näherte sich Ronan, bis sie schließlich hinter ihm stand. Er saß da, sah seine Frau schwach spiegelnd in der Fensterscheibe und wünschte sich nichts sehnlicheres als eine Berührung von ihr. Schon spürte er, wie sie ihre Hand auf seine Brust legte. Sein Herzschlag erhöhte sich. Sie bewegte ihre Hand langsam nach oben, streifte seine Wange, durchfuhr seine Haare und legte sie schließlich wieder auf seiner Brust ab. „Sie sind so schnell gewachsen“, sagt Ronan:„Für Ben müssen wir bald schon neue Klamotten kaufen gehen!“
„Alles mit der Zeit“, beruhigte sie ihn:„Wir haben noch alle Zeit der Welt.“ Doch anstatt dass ihre Worte ihn beruhigten, machten sie ihn nervös. Wieso hatte sie das gesagt, fragte sich Ronan, doch er ließ sich seine Verwirrung nicht anmerken. Wieder schnaufte er .
Wie aus dem nichts piepste seine Armbanduhr, um den Beginn einer neuen Stunde anzukündigen. Sein Blick wanderte auf die silberne Uhr, die er von seiner Frau zum sechzehnten Hochzeitstag geschenkt bekommen hatte, und von ihr langsam schweifend auf seine Hände. Sein Atem stockte. Was hatte das zu bedeuten? Die Klamotten seiner Kinder glitten ihm aus seinen steifen Fingern und fielen zu Boden.
Ronan löste die Bremsen seines Rollstuhls und drehte sich mit einer gekonnten Bewegung zu seiner Frau um. Eine unangenehme Stille durchzog den Raum, wie ein Gas, das sich im ganzen Zimmer verteilt und sie leise vereinnahmt. Tränen liefen seine Wange herunter und zeichneten tiefe Kerben in sein Gesicht, als würde eine Träne die Vergangenheit widerspiegeln und diese nochmals durch sein Gesicht scharen um das Vergangene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Spuren der Trauer. Narben, wie eine Brandmarke auf der Haut, die ihn sein Leben lang verfolgen würden. Er konnte ihr nicht mehr in die Augen schauen ohne die Blicke zu vermissen, die ihm einst sagten, dass sie einander lieben und glücklich waren. Er vermisste die Blicke, die nicht voller Hass auf ihn waren.

Rachel legte ihre Hand auf seine Wange und schaute auf ihn hinab. Ronan konnte sie nicht ansehen. Zu stark war die Angst, was sie in diesem Moment denken würde. Zu stark war der Selbsthass. „Ich will nicht mehr leben, Rachel“, platzte es aus ihm heraus. Er erwartete keinen Trost, keine tröstenden Worte. Er wusste, dass er es nicht verdient hatte. Sie beugte sich vor - ihre Stimme versagte – und flüsterte ihm kaum hörbar ins Ohr :„Es war ein Unfall Ronan!“
Doch auch der lauteste Schrei, der versucht allen Schmerz zu vertreiben, könnte nichts am Geschehenen ändern, denn Schreie waren es, die seine letzten freien Gedanken formten, denn seine letzte Erinnerung, bevor der Lastwagen sie seitlich rammte, war die Angst, waren die Schreie dreier Menschen, die mit dieser Sekunde ihre Leben verloren.

Wieder schaute Ronan aus dem Fenster, schaute ihnen zu, wie sie im Garten spielten, wie sie ihre Gesichter dem Himmel schenkten und sich dabei im Kreis drehten, als würden sie nach etwas Ausschau halten. Als würden sie auf etwas warten. Er sah sie, wie sie die Arme weit in die Höhe streckten, als wollten sie das greifen, was ihnen genommen wurde.
 

petrasmiles

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Hallo Generix,

eine sehr bewegende Geschichte und schön geschrieben.

Ich muss nur gestehen, ich weiß jetzt nicht, wer die drei Menschen sind, die bei dem Unfall starben.
Oder sind die spielenden Kinder draußen und seine Frau nur 'Tagträume' - wie ein Phantomschmerz?

Liebe Grüße
Petra
 

Generix

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Hallo petrasmiles,

mein Ziel war es, ein offenes Ende zu schaffen, in dem sich jeder Leser sein eigenes Bild ausmalen darf. Deshalb habe ich auch die genaueren Umstände am Ende nicht weiter konkretisiert.

Liebe Grüße
Stefan
 



 
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