Sekundendenken

Sekundendenken

Das kleine Mädchen im Sandkasten baut eine schiefe Burg. Unablässig stapelt es Sand, häuft und gräbt. Es hantiert mit einer winzigen, rosafarbenen Schaufel, die seine Bemühungen wie ein Erbsenzählen aussehen lässt. Noch ist es munter bei der Sache. Doch bald gehen neidische Blicke zum Spielpartner hinüber. Der Junge, ein flüchtiger Sandkastenfreund ist Besitzer eines blauen Eimers. Er füllt ihn mit einem Spaten aus Plastik, der fast so groß ist wie er selbst. Die Kinder spielen nicht zusammen. In diesem Alter ist jeder kleine Mensch zu allererst doch nur für sich. So wie das Mädchen für seine Burg. Es möchte die Hilfe des Jungen nicht, wohl aber dessen Werkzeug, legt langsam das rosa Schippchen zu Seite und neigt kokett den Kopf. Beobachtet das Objekt seiner Begierde aus sehnsuchtsvollen Augen. Die Mutter hat´s auch gesehen. „Nein, Emily, das ist nicht Deine Schippe“, greift sie der nächsten Handlung vor. Doch wenn sich die trotzige Seele eines Gedankens bedient hat, sind gut gemeinte Worte wie Seifenblasen im Wind. Mit festen, tollpatschigen Schritten stampft der Rebell in Richtung Beute, streckt die speckigen Ärmchen aus, plärrt: „Haben wollen!“, die sanften Züge zu einer grimmigen Maske verzerrt. „Hier, Emily, hier ist Deine Schippe!“ Die Mutter schwenkt das blinkende Kleinod in der Hand, aber erntet nichts als Ignoranz. Wie viel verlockender sind doch die Sachen, die einem nicht gehören. Schon hat der Spross die Hände am Plastikstiel, zerrt ohne Vorwarnung an des Jungens Hosen. Eine Sekunde verging, vom ersten Fassen des Entschlusses zur Ausführung der Tat. Eine nächste Sekunde, in der die Mutter nach vorne hechtet, größeres Übel abzuwehren. Doch kommt sie zu spät. Die Gegenwehr des Jungen wird infantil zurückgeschlagen, das breite Ende des Spatens landet mit Wucht auf dessen Kopf. Mit hohem Geschrei triumphiert die neue Besitzerin. Nun kommt die Mutter des Buben hinzu. Sie weitet den Streit auf die Erwachsenen aus. „Nehmen Sie ihr unmögliches Kind doch nur weg. Immer macht es nur Ärger“, ruft sie aus, den eigenen Nachwuchs in die Arme nehmend. Die Mutter des Rowdys steht schuldvoll da, mit hängenden Schultern, dreht sich dem Trotzkopf zu und greift nach dem Diebesgut. „Emily, gib her! Das gehört Dir nicht!“ Das Mädchen sieht das ganz anders. Es ballt die kleinen Fäuste um das Plastik, steht wie ein Fels in der Brandung und hebt zum ohrenbetäubenden Brüllen an, als die Mutter ihre Überlegenheit ausnutzt, um dem Kind die Schaufel abzujagen. In der nächsten Sekunde rennt das ungestüme Ding der Mutter, Kopf voran, die Beine ein, wie ein Jungstier. Die muss nun zu härteren Mitteln greifen, packt das Kind, hebt es in den Wagen, schnallt den Gurt wie in einer Anstalt fest. Doch der Mund lässt sich nicht fesseln. Das Keifen und Kreischen hält an, dröhnt über den Spielplatz, den die Mutter unter stechenden Blicken verlässt. Erst als das Kind eine neu erworbene Schippe, gekauft unter Zugzwang an der Ecke, in den Händen hat, gibt die Sirene Ruhe.

Es ist nur eine Sekunde der Angst, eine kurze Sekunde, eine schnelle Entscheidung und ein flinker Handschlag, dann ist die CD unter der Jacke verschwunden. Das Mädchen sieht sich im Laden um. Niemand hat etwas gesehen. Der Mann dort vor dem Regal mit den Kopfhörern liest die Rückseite einer Verpackung. Die Frau mit den beiden Kindern beansprucht die Aufmerksamkeit der Servicekraft. Die Beine des Mädchens schlurfen zum Ausgang. An einer Kiste mit DVDs bleibt sie stehen. Noch ist da Platz unter ihrer Jacke, doch draußen warten die jugendlichen Freunde. Zu viele Sekunden sind schon vergangen, vom Betreten des Ladens, bis zum Raub der CD. Erst vorgestern hat sie die Mutter bestohlen, hat ohne Gewissen das Portemonnaie geöffnet, einen Fünfer daraus hervorgeholt. Die Mutter würde nichts vermissen. Nie hatte sie Zeit, versuchte mit Geld die Liebe zu ersetzen. Das Mädchen hatte schon lange den Respekt verloren. Es nutzte die Schuldgefühle der Mutter, die alles geschehen ließ. Nur selten noch stritten die Beiden, lebten unter einem Dach, ohne ein Miteinander. Die Mutter war hilflos, das Mädchen haltlos, es dachte nicht an Konsequenzen, nur in Sekunden.
Da draußen vor den Schaufensterscheiben wartete ihre Familie. Der coole Joe, nie zu Gast in der Schule, der mit den meisten Geschichten. Die Freundin Arie, trug den kürzesten Rock, die längsten Fingernägel. Der dicke Torben, den sie nur respektierten, weil sein Vater Leiter eines Unternehmens war und Torben stets Bier spendieren konnte. Das Mädchen schleicht leise aus dem Laden, fällt Joe wie einem Bruder in die Arme, schwenkt die CD mit gewinnendem Grinsen. Es gibt einen High-Five, lautes Gelächter. Eine Sekunde bringt Anerkennung. Das Mädchen flucht auf die Mutter. Sie ist es doch, die sie zum Diebstahl zwingt.
Ein kleiner Funken Erkennen mischt sich in ihre Gedanken, eine Sekunde der Bedacht, doch bevor es sich ihrer bemächtigen kann, zieht die Familie weiter.



Von einem Moment auf den anderen greift das Mädchen zum Strohhalm, zieht das Pulver geschickt in die Nase. Der grobe Kerl neben ihr nickt und trinkt einen Schluck aus der Flasche. Sein tätowierter Arm legt sich über ihre Schulter, verlangt gierig nach einem Kuss. Noch brennt der Schnee in ihren Schleimhäuten. Sie hustet, wendet sich ab, spuckt ein paar Fäden. Ihr Gastgeber schiebt das Buffet auf dem Spiegel zusammen. Gewissenhaft, fast andächtig zieht er die Karte durch Daumen und Zeigefinger und hält ihr dann diese Kostprobe unter die Nase. Wenn das Mädchen sich weiter an den Gaben laben will, muss es das Geschenk annehmen. Der betäubte, schummrige Zustand macht es ihr leichter, den Finger abzulecken. Doch nach dem Finger kommt der Rest. Der schwere, schwitzende Körper, der sich auf sie legt. Die groben Hände, die fordern und fordern und keine Ruhe geben. Das Mädchen verliert sich im Glauben an eine Liebe, die es nicht kennt. Am Anfang glaubte es wirklich an diese. Dachte der Zuspruch, das Bemühen um ihre Person wären ehrlich und von wahren Gefühlen getragen. Jetzt weiß es um die Nutznießerschaft, nichts als Geben und Nehmen, keine Geborgenheit, kein selbstloses Fühlen. Doch eben auch von beiden Seiten. „Dieser Mann ist nicht gut für Dich! Ich verbiete Dir den Umgang mit ihm!“, hatte die Mutter gesagt. Ihr Wort war unbedeutend in den Ohren des Mädchens. Die Mutter an sich hatte ihre Bedeutung verloren, schon lange bevor sich das Mädchen der fehlenden Liebe zugewandt hatte. Sie verstand das Interesse als Herrschsucht, das Handeln als Kontrolle. Wort um Wort, Tat um Tat hatte sich der Wirbel aus Ablehnung, starren Fronten und Engstirnigkeit zu einem Sturm geformt, der die letzten Mauern der Beziehung mit sich nahm. Das Mädchen wollte nichts als ausbrechen aus dem sterilen Gefängnis und saß nun im selbst gewählten Kerker. Seit Tagen schon war es nicht mehr zu Hause gewesen, die Anrufe der Mutter verstummten im Rucksack, der Klassenraum schon seit Wochen ihrer Anwesenheit enthoben.
Ihr Gönner ist fertig. Das Mädchen wartet vergeblich auf eine Geste der Verbundenheit. Der Mann erhebt sich ohne Worte, zieht seine Hose hoch und schnallt den Gürtel fest. Er nimmt einen Strohhalm seiner weißen Ware, danach einen kräftigen Schluck vom Bier. „Du musst dann jetzt gehen, Emily. Martens kommt nachher. Ich muss noch wiegen und teilen. Bei den Geschäften kann ich Dich hier nicht gebrauchen.“ Das Mädchen zieht die Träger ihres BHs über die Schultern, rollt das enge T-Shirt nach unten. „Wo soll ich denn hin, Patrick?“, fragt sie bestürzt. Die letzten Tage hat sie keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Nur in der Dämmerung gelegen, geschnieft und getrunken, war ihm zu gefallen gewesen. Sie war müde, überreizt und zermartert. Die Welt draußen erschien ihr jetzt unwirklich und fremd. Sie legt sich die Decke um die Schultern. „Kann ich heut Abend wieder kommen?“
„Nein, heute geht nicht. Ich treff mich mit den alten Leuten, oben am Klärwerk. Wir wollen einen drauf machen. Ohne Weiber verstehst Du, ein Männerabend. Geh doch nach Hause. Du müsstest sowieso langsam mal Deine Klamotten wechseln. Die riechen irgendwie nicht mehr so toll“, erwidert er und schenkt ihr ein gleichgültiges Grinsen.
„Kannst Du mir was mitgeben? Ich hab nichts mehr, nicht mal Zigaretten.“
Der Mann greift in die Hosentasche, holt einen zerknüllten Schein hervor, drückt ihn dem Mädchen in die Handfläche. „Hier! Mehr hab ich jetz nich da. Martens bringt mir erst nachher was. Damit wirst Du doch erst mal auskommen.“ Die Bitterkeit der Situation drängt sich in das Fühlen des Mädchens. Sie spürt trotz ihres betäubten Zustands, dass sie ausgenutzt und abgeschoben wird. Langsam lässt sie die Decke fallen, schlüpft in die Turnschuhe und geht in den Flur, um sich die Jacke überzuwerfen. „Ich ruf Dich an!“, hört sie noch, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fällt. Nun steht sie auf der Straße. Das Treiben, die Menschen und Geräusche kreisen um ihren Kopf, wie ein tosender Strudel. Sie muss in die Ruhe und Abgeschiedenheit einer Wohnung und so sehr es ihr auch zuwider ist, tragen die Beine sie nach Hause.

Die Mutter ist da. Ihre eingefallene Erscheinung tritt dem Mädchen gegenüber. Aus verschleierten Augen nimmt das Mädchen war, wie alt und zerstört die Frau doch aussieht, von Arbeit und Kummer verlebt. Fast spürt das Mädchen einen Anflug von Mitleid, den die Mutter mit bösen Worten zerstört.“ Wo warst Du die ganze Zeit? Ich habe überall angerufen, bei Melle warst Du nicht. Die Schule hat sich schon wieder gemeldet. Wie kannst Du mich nur so behandeln, du undankbares Ding. Wie kannst Du meine Fürsorge nur so mit Füßen treten.“ Das Mädchen sagt nichts. Es ist zu müde für Widerworte, zu leer und doch zu gefüllt, um irgendetwas aufzunehmen. Es sehnt sich nach einem Bett und Stille, doch stattdessen bekommt es die Hand der Mutter, die sich mit ungeahnter Kraft auf der Wange niederschlägt. „Mir reicht es mit Dir, Emily! Jetzt hast du den Bogen überspannt. Jetzt werde ich Maßnahmen ergreifen. Geh auf Dein Zimmer, sofort!“, schreit die dünne Stimme der verhärmten Frau. Das Mädchen erzittert. Der Schmerz auf ihrer Wange ist nur ein kleiner Stich gegen die Wut und den Hass, die in ihm aufsteigen. Die Lippen beben. Die glanzlosen Augen füllen sich mit Tränen. Von einer Sekunde auf die andere dreht sich das Mädchen um und geht aus der Tür. Wortlos, das Kreischen der Mutter hinter sich lassend.

Der Wind greift die Haare des Mädchens, spielt mit den fettigen Strähnen, bekommt sie kaum angehoben. Die Sonne versteckt sich hinter einer Wolke. Die Füße des Mädchens baumeln herunter. Es wirft einen langen, sehnsuchtsvollen Blick über den Horizont. Lächelt ein trauriges Lächeln, die Augen tränen, der Wind nimmt ihr fast die Luft. Es dauert nur eine Sekunde, bis die Finger das kalte Metall des Geländers loslassen.
 

Madeira

Mitglied
Hallo hobbyschreiber,
ich lese gerade Deine alten Geschichten, weil mich Deine Krimis sehr beeindruckt haben. So sehr, dass ich fragen wollte, wie/wo Du Techniken gelernt hast, falls Du systematisch gelernt hast.
Aber da ich schon antworte, wollte ich zu dieser Geschichte sagen, dass ich sie um Längen schwächer fand. Vor allem deshalb, weil sie - im Gegensatz zu den Krimis, die einen völlig und unmittelbar ins Geschehen reinziehen - sehr viel Distanz zwischen Leser und Geschehen aufbaut, moralisierende, lehrhafte Distanz. Vielleicht willst Du das ja, zeigen, was wohin führen kann, mit erhobenem Zeigefinger. Und das "Sekundendenken" lässt mich raten: Es ist die geringe Frustrationstoleranz, die das Kind so werden lässt? Wurde selbige nicht schon in soziologischen Untersuchungen als Ursache für soziales Scheitern angeführt, meine ich mich zu erinnern. Es würde mich interessieren, was Du dazu meinst.
Zur Form: Stark aufgefallen ist die Unsauberkeit bei den Zeitformen - Präsens - Vergangenheit.
Erstmal soviel.
LG
Madeira
 



 
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