Selbst ein Schatten

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Gerade habe ich eine Bekannte getroffen, S. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, S. schottet sich ein bisschen ab in letzter Zeit. So viel hatten wir ja auch gar nicht miteinander zu tun.

Vor etwa dreieinhalb Jahren lernte ich sie kennen, unsere Freundeskreise wiesen Schnittmengen auf, und anfangs verbrachten wir alle eine Menge Zeit miteinander, im Saarland findet man sich sommers zum Schwenken zusammen, dabei wird viel getrunken, und wenn es noch ging, waren wir danach tanzen. S. war zeit ihres Lebens von falschen Freunden umgeben gewesen, Menschen, die sie ausnutzten, betrogen, hintergingen, die sie verfolgten, um ihr zu schaden, die sich das Maul über sie zerrissen. Die Brücken zu jenen Leuten hat S. kompromisslos abgebrochen, es blieb ihr noch ein Kreis von Menschen, mit denen sie zur Schule gegangen war und denen sie näher stand als sonst jemandem.

Das alles habe ich durch S.‘ Erzählungen erfahren, und ich begann mich erst zu wundern, als nach und nach auch ihre derzeitigen Freunde, die ich alle kannte, sich scheinbar die Masken harmloser Zuneigung vom Gesicht rissen und dahinter gräßliche Fratzen von Verrat und Missgunst offenbarten. Keiner dieser Freunde wusste, was geschehen war, wenn S. in erregten Telefonaten oder frostigen Kurznachrichten die Freundschaft kündigte.
Da ungefähr zeitgleich jeder dieser Freunde sich irgendein Verbrechen zuschulden kommen ließ, sah sie sich einer Armee feindseliger Gestalten gegenüber, hinter jedem Treffen steckte eine Verschwörung, jedes Lebenszeichen war Verfolgung, man solle sie doch endlich in Ruhe lassen, Gespräche seien wirklich sinnlos, denn zu besprechen gebe es nichts mehr. Sie werde sich nicht von sogenannten Freunden in Unglück stürzen lassen, überhaupt habe es so etwas wie Freundschaft wohl kaum gegeben bei dieser Schmierenkomödie, die ihr vorgeführt worden sei von selbstsüchtigen Speichelleckern und Intriganten. Sie werfe sich nur vor, so lange darauf herein gefallen zu sein, und im übrigen solle man sie jetzt doch einfach in Ruhe lassen, ist doch alles gesagt.
Als sich all das ereignete, konnte ich noch mit ihr sprechen, zu diesen engen Freunden gehörte ich ja nicht. Ein paar Mal trafen wir uns zum Kaffee und ich hörte mir ihre schrillen Verwünschungen an, endlose Auflistungen von Untaten und Beleidigungen, die ihr zugefügt wurden. Ich wusste, wie hilflos die Betroffenen dieser Situation gegenüber standen, und meine schwachen Versuche, Verständnis zu wecken, lösten in S. manchmal ein nachdenkliches Nicken aus, dem sofort der nächste Wutanfall folgte.
Dann sah ich sie, wie gesagt, eine Zeitlang nicht, niemand sah sie mehr, höchstens mal von weitem. Als sie mir heute, beim Einkaufen, begegnete, merkte ich, dass auch ich etwas getan haben musste. Auf meinen Gruß blickte sie mich giftig an und verbarg nicht, wieviel Mühe es ihr bereitete, ein nahezu ziviles „Hi“ hervorzubringen. Als sie noch einmal an mir vorüber lief, existierte ich schon nicht mehr.
 



 
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