Selbstbespiegelung

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Später stand Theo im Waschraum und rieb sich die Hände trocken. Das Papierhandtuch, bräunlich, grob und von schlechter Qualität, ließ pappig-raue Kügelchen entstehen. Sie verteilten sich über die feuchten und fleischigen Innenhandflächen, ein peinlich scheuerndes Gefühl. Um es loszuwerden, begann er, die Hände an den Hosenbeinen abzureiben. Eigentlich war es schade um Stoff und Passform. Aber er musste sich jetzt unbedingt von diesem unreinen, grobkörnigen Abrieb befreien. Er massierte dabei die Oberschenkel, die wie die Handflächen ziemlich fleischig waren. Aber auch muskulös, sagte er sich, ein wenig massig, aber auch muskulös. Ja, er hatte in letzter Zeit zwei Kilo zugenommen. Er fühlte es selbst – und sah man es auch? Er begann, Gesicht, Hals und Bauchansatz im Spiegel zu betrachten.

Dass er zuletzt zwei Kilo zugenommen hatte, war richtig. Allerdings benutzte er diese entschuldigende Erklärung schon seit längerem. Sie hatte ihren Zweck - ihn selbst zu beruhigen – bereits vor einem halben Jahr, vor einem Jahr und noch weiter zurück erfüllt. Immer der gleiche Sachverhalt: Er nahm zwar langsam, jedoch stetig an Gewicht zu. Aber es stand ihm, davon überzeugte er sich jetzt erneut. Stattlich, so konnte man es nennen.

Sich im Spiegel zu betrachten, war ein Vergnügen besonderer Art, ja mehr als das: von Zeit zu Zeit eine Notwendigkeit. Man konnte sich dabei vergewissern, überhaupt noch vorhanden zu sein – und zwar vollkommen vorhanden. Es schien ihm nämlich, als verlöre er zwischenzeitlich, zwischen solchen Begegnungen mit dem eigenen Spiegelbild, jeweils an Substanz. Dass es sich zumindest physisch gerade umgekehrt verhielt, war ihm bewusst. Indessen beruhigte ihn das nicht. Man konnte diese Gewichtszunahme noch in einem anderen Licht sehen. Der Alterungsprozess war unaufhaltsam, und bedeutete Altern nicht Zerfließen, ein Erweichen und Entweichen eben jener Substanz? Wie der geschmeidige Stoff seines guten Anzuges so war auch der Stoff, aus dem er selbst bestand – Haut, Muskeln, Sehnen, Organe und nicht zuletzt das Fett – dazu bestimmt, sich zu zersetzen. Er wusste es, und sein Gefühl nahm diesen Prozess nur vorweg. Zeitweise war diese Verstimmung so stark, dass er an keinem Spiegel vorbeigehen konnte, ohne das eigene Spiegelbild suchen zu müssen. Er fixierte sich dann selbst und gewann langsam seine Ruhe zurück, wenn es ihm gelang, sich selbst ruhig in die Augen zu sehen. Er war jung und hübsch, konnte sich sehen lassen. In solchen Augenblicken spürte er, wie sich das Bedrohliche verflüchtigte, und es war ihm, alle seine Bestandteile fügten sich neu zusammen, zu einem rundum erfreulichen Ganzen. Er musste jetzt lächeln: Unter dem massiven Schädel und hinter dieser glatten Stirn machten sich oft finstere Stimmungen breit, es war kaum zu glauben. Heute Morgen zum Beispiel –

Die Tür vom Restaurant her öffnete sich abrupt. Ein Halbwüchsiger mit Pickeln im Gesicht hatte sie aufgestoßen und ging jetzt rasch an ihm vorbei zum Pissoir. Theo hörte sofort auf, sich selbst zuzulächeln. Seine Hände waren sauber und trocken. Er konnte gehen und zahlen.
 

sonah

Mitglied
Hallo Arno,

mir gefällt wie Du - auch in Deinen anderen Texten - in alltägliche Szenen Gedanken existientieller Tragweite hineinfließen lässt, niemals zu dick aufgetragen und oft mit einer Spur Selbstironie.

Zu diesem Text kann ich leider nichts konstruktives anmerken, weil ich ihn bereits als rund empfinde. Auch das Ende gefällt mir sehr gut.

Habe ich gern gelesen und freue mich auf weitere Texte von Dir!

Sybille
 
U

USch

Gast
Hallo Arno,
ja, ja, der Betrug von sich selbst - sehr gut und differenziert beschrieben. Folgenden Satz würde ich von einem <selbst> befreien:
Er fixierte sich [strike]dann [red]selbst[/red][/strike] und gewann langsam seine Ruhe zurück, wenn es ihm gelang, sich [red]selbst [/red]ruhig in die Augen zu sehen.
Doppelung klingt nicht so gut. Oder das andere [blue]selbst[/blue] streichen.
LG USch
 
C

cellllo

Gast
Liebe sonah :
Zitat : "mir gefällt wie Du - auch in Deinen anderen Texten - in alltägliche Szenen Gedanken existientieller Tragweite hineinfließen lässt, niemals zu dick aufgetragen und oft mit einer Spur Selbstironie."
Damit hast Du wirklich genial das Wesentlichste
des Textes und des Autors Arno A. erkannt und formuliert !
und es fällt mir spontan ENachtigalls schöne Signatur ein :
"Wer Spuren sucht, wird Wege finden."
Du erkennst schriftstellerische "Spuren" und kannst, wirst folgen....
cellllo
 

sonah

Mitglied
Danke cellllo, das ist ein wunderbares Kompliment. Mir war etwas bange, meinen Kommentar zu schreiben, denn wenn man einen Autor zu überschwänglich lobt, kommt manchmal als nächstes einer, der meint das wieder geraderücken und dann besonders kritisch sein zu müssen. Und ich wollte mich nicht schuldig fühlen, derart krasse Kritik ausgelöst zu haben. Das ist hier nicht passiert und das freut mich. Außerdem setzt man sich dem Verdacht des Schleimens aus oder womöglich dem Verdacht, auf seine eigenen Texte aufmerksam machen zu wollen usw. usw. ... Oder es ist dem Autor sogar unangenehm. Es kann sogar sein, dass jemand anderes dem Autor nicht wohlgesonnen ist und man dann auf der Feindesliste steht. Man weiß das alles nicht. Du siehst, es gibt sehr viel zu bedenken und gerade wenn man viel zum Denken neigt, kann das manchmal eine ziemliche Behinderung sein.

Ich war eine Weile hier nicht eingeloggt, habe die letzten Tage ein paar Texte gelesen und war einfach sehr angetan von einigen. Ich maße mir auch nicht an, ein Literaturkritiker zu sein, das wird wohl jeder, der meine Texte und Kommentare aufmerksam liest auch sehen können, dass ich das nicht bin. Es ist also viel meine persönliche Meinung und mein Empfinden als Leserin. Ich versuche, auch kritisch zu kommentieren, aber nicht immer.

Aber zurück zum Text und zu Arno Abendschön: Ich meinte mit meinem Kommentar solche Texte wie:

- die Ratte im Rosengarten: http://www.leselupe.de/lw/titel-Eine-Ratte-im-Rosengarten-110269.htm
- Muttertag in Z. : http://www.leselupe.de/lw/titel-Muttertag-in-Z--117855.htm

Nun ist aber gut und ich ziehe mich wieder in einen anderen Thread zurück ... Außerdem will ja vielleicht auch noch jemand was zum Text hier schreiben ...

Sybille
 
Später stand Theo im Waschraum und rieb sich die Hände trocken. Das Papierhandtuch, bräunlich, grob und von schlechter Qualität, ließ pappig-raue Kügelchen entstehen. Sie verteilten sich über die feuchten und fleischigen Innenhandflächen, ein peinlich scheuerndes Gefühl. Um es loszuwerden, begann er, die Hände an den Hosenbeinen abzureiben. Eigentlich war es schade um Stoff und Passform. Aber er musste sich jetzt unbedingt von diesem unreinen, grobkörnigen Abrieb befreien. Er massierte dabei die Oberschenkel, die wie die Handflächen ziemlich fleischig waren. Aber auch muskulös, sagte er sich, ein wenig massig, aber auch muskulös. Ja, er hatte in letzter Zeit zwei Kilo zugenommen. Er fühlte es selbst – und sah man es auch? Er begann, Gesicht, Hals und Bauchansatz im Spiegel zu betrachten.

Dass er zuletzt zwei Kilo zugenommen hatte, war richtig. Allerdings benutzte er diese entschuldigende Erklärung schon seit längerem. Sie hatte ihren Zweck - ihn selbst zu beruhigen – bereits vor einem halben Jahr, vor einem Jahr und noch weiter zurück erfüllt. Immer der gleiche Sachverhalt: Er nahm zwar langsam, jedoch stetig an Gewicht zu. Aber es stand ihm, davon überzeugte er sich jetzt erneut. Stattlich, so konnte man es nennen.

Sich im Spiegel zu betrachten, war ein Vergnügen besonderer Art, ja mehr als das: von Zeit zu Zeit eine Notwendigkeit. Man konnte sich dabei vergewissern, überhaupt noch vorhanden zu sein – und zwar vollkommen vorhanden. Es schien ihm nämlich, als verlöre er zwischenzeitlich, zwischen solchen Begegnungen mit dem eigenen Spiegelbild, jeweils an Substanz. Dass es sich zumindest physisch gerade umgekehrt verhielt, war ihm bewusst. Indessen beruhigte ihn das nicht. Man konnte diese Gewichtszunahme noch in einem anderen Licht sehen. Der Alterungsprozess war unaufhaltsam, und bedeutete Altern nicht Zerfließen, ein Erweichen und Entweichen eben jener Substanz? Wie der geschmeidige Stoff seines guten Anzuges so war auch der Stoff, aus dem er selbst bestand – Haut, Muskeln, Sehnen, Organe und nicht zuletzt das Fett – dazu bestimmt, sich zu zersetzen. Er wusste es, und sein Gefühl nahm diesen Prozess nur vorweg. Zeitweise war diese Verstimmung so stark, dass er an keinem Spiegel vorbeigehen konnte, ohne das eigene Spiegelbild suchen zu müssen. Er fixierte sich dann selbst und gewann langsam seine Ruhe zurück, wenn es ihm gelang, sich ruhig in die Augen zu sehen. Er war jung und hübsch, konnte sich sehen lassen. In solchen Augenblicken spürte er, wie sich das Bedrohliche verflüchtigte, und es war ihm, alle seine Bestandteile fügten sich neu zusammen, zu einem rundum erfreulichen Ganzen. Er musste jetzt lächeln: Unter dem massiven Schädel und hinter dieser glatten Stirn machten sich oft finstere Stimmungen breit, es war kaum zu glauben. Heute Morgen zum Beispiel –

Die Tür vom Restaurant her öffnete sich abrupt. Ein Halbwüchsiger mit Pickeln im Gesicht hatte sie aufgestoßen und ging jetzt rasch an ihm vorbei zum Pissoir. Theo hörte sofort auf, sich selbst zuzulächeln. Seine Hände waren sauber und trocken. Er konnte gehen und zahlen.
 
A

aligaga

Gast
Es scheint sich – nach Anfang und Ausgang des Textes – um das Fragment eines größeren Ganzen zu handeln. Es ist zweifellos gut geschrieben und gut aufgebaut, leidet aber daran, dass man einem „jungen, hübschen Menschen“, der uns hier vorgestellt wird, die sonderbaren Gedanken nicht so recht abnehmen möchte, die er sich beim Bespiegeln macht.

Am einfachsten wäre es wohl, wenn man sagte: „Hier hat jemand altmodisch gedacht und altmodisch geschrieben“, will sagen: da schreibt ein Alter über etwas Junges, ohne zu bedenken, ob das noch authentisch ist. Welcher junge Mann hätte sich je selbst für „stattlich“ gehalten?

Dass in sich selbst Zweifelnde Gewissheit fänden, indem sie sich oberflächlich machten, ist eine recht gängige Vorstellung – Mädchen schminken sich, kaufen tausend Paar Schuhe, machen Diäten oder hungern sich zu Tode; Jungs eilen ins Fitnessstudio und trainieren sich einen Waschbrettbauch an, tragen Uniformen mit Abzeichen und verbreitern die Spur ihres Volkswagens. Allen gemein ist, dass sie täglich ein paar Stunden vor dem Spiegel zubringen, gleichwohl aber nur das erkennen, was sie wirklich sehen wollen. Inneren Frieden finden sie dabei nicht, aber meist den Ansporn, die Dosis der Oberflächenvergüter zu steigern.

Da hapert’s bei diesem Text ein wenig, finde ich. Was sucht der Typ eigentlich, wenn er in den Spiegel guckt? Eine Bestätigung dafür, dass er noch nicht tot ist, sondern „jung und hübsch?“. Das ist, finde ich, ein bisserl dünn; das nimmt man ihm ohne weiteres nicht ab. Da fehlt etwas, das sich im Vorher oder Nachher wohl noch finden sollte. Oder?

Gruß

aligaga
 
Danke, aligaga, für die Gedanken, die du dir gemacht und uns mitgeteilt hast. Deine Einwände sind zum größeren Teil berechtigt. Insbesondere hast du richtig erfasst, dass der veröffentlichte Text Bruchstück eines viel größeren ist. Ich bin jedoch der Auffassung, dass dieses Fragment die formalen Voraussetzungen hat, als Kurzprosa durchgehen zu können.

Ja, was du an Motivation der Figur vermisst, wird vorher und nachher ausführlich dargestellt.

Zum Begriff "stattlich". Die Handlung spielt um 1990. Der Mann vor dem Spiegel ist Ende zwanzig, lebt in einem abgelegenen süddeutschen Provinzwinkel und ist einem traditionell kleinbürgerlichen Milieu verhaftet. Unter diesen Voraussetzungen denke ich, dass der Begriff "stattlich" zu seinem Denken und seinem Sprachniveau passen könnte.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Kölle

Mitglied
Hallo Arno,

ich habe jetzt gelesen, dass es sich um ein Fragment handelt, und - bei aller Fragmenthaftigkeit - ich habe mit folgendem Absatz ein bisschen Probleme:

Sich im Spiegel zu betrachten, war ein Vergnügen besonderer Art, ja mehr als das: von Zeit zu Zeit eine Notwendigkeit. Man konnte sich dabei vergewissern, überhaupt noch vorhanden zu sein – und zwar vollkommen vorhanden. Es schien ihm nämlich, als verlöre er zwischenzeitlich, zwischen solchen Begegnungen mit dem eigenen Spiegelbild, jeweils an Substanz. Dass es sich zumindest physisch gerade umgekehrt verhielt, war ihm bewusst.
Hier wird über die Betrachtungen des Spiegelbildes ein gewisser (psychischer (?)) Substanzverlust erwähnt, der mit keinem Wort konkretisiert wird - was ich vermisse. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was damit gemeint sein könnte. Und du nimmst dann diesen Verlust als Sprungbrett hinein in den physischen Substanzgewinn.

Ich erlebe es so: als eigenes angeschnittenes Thema finde ich den "Substanzverlust" zu rätselhaft, und als Sprungbrett zu aufwendig...

Habe ich etwas übersehen?

LG Kölle
 
Nun, Kölle, deine Irritation kann ich schon nachvollziehen. Dieser Theo erscheint vielleicht als Person mit gestörter Identität und die Ursache dafür bleibt unklar.

Der Text soll und kann nur ein Schlaglicht auf eine komplexer angelegte Romanfigur werfen, und zwar in einer einzelnen banalen Alltagssituation. Diese konkrete Situation darf dann aber, nach meiner Einschätzung, nicht mit einem größeren Aufwand an Analyse, mit verdeutlichender Tendenz usw. überstrapaziert werden. Ich kenne Beispiele für solche Verfahren, sie überzeugen mich ästhetisch regelmäßig nicht. Wer eine Kunstfigur schafft, kreirt damit ein Stück Leben, das immer ein wenig rätselhaft bleibt, nicht seziert werden kann wie ein toter Frosch im Labor.

Falls das zur Begründung meines Verfahrens nicht ausreichen sollte - über dieselbe Figur gibt es in der LL noch weitere Texte mit wesentlich mehr Details:

Einführung in eine andere Welt - Der zweite Sonntag im Mai - Meister werden ist nicht schwer.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

was ich nicht verstehe: Wieso macht Theo sich mit Ende zwanzig (!) bereits Gedanken um das bevorstehende Altern? Weshalb sind zwei Kilo Gewichtszunahme offenbar bereits eine mittlere Katastrophe für ihn? Das können auch Schwankungen im Wasserhaushalt sein.
Wieso muss er sich im Spiegel ansehen, um sich überhaupt noch richtig wahrzunehmen?

LG Doc
 
S

steky

Gast
Wieso muss er sich im Spiegel ansehen, um sich überhaupt noch richtig wahrzunehmen?
Ich könnte mir gut vorstellen, dass der Spiegel hier nur als Metapher dient. Außerdem zeigt einem der Spiegel eben am ehesten, wie man auf andere wirkt.

Ich persönlich finde den Text sehr gelungen. Allerdings hätte ich es schöner gefunden, hätte man diese eine Sequenz enger miteinander verknüpft, dichter gestaltet: Warum vier Absätze, wenn doch sichtlich alles die gleiche Szene ist? So bekommt man irgendwie das Gefühl, als wäre nach dem ersten Absatz schon die Luft raus.
LG
 
C

cellllo

Gast
Hallo steky
lies doch mal Robert Musil !
Falls "Der Mann ohne Eigenschaften" mal vor dem Spiegel
steht, dann dauert das nicht 4 Abschnitte sondern
mindestens 4 lesenswerte Seiten und das ganze Buch ca 1000...
cellllo
 
S

steky

Gast
In dem Fall verzichte ich wohl auf Musil, auch wenn er, gleich wie ich, Klagenfurtner war und sich seine Schreibmaschine 5 Km von meiner Wohnung in einem Museum befindet.
Aber jetzt im Ernst. Es kommt immer drauf an, wie das gemacht wird. Mich stört zum Beispiel der Satz
Dass er zuletzt zwei Kilo zugenommen hatte, war richtig
. Da bietet uns der Autor gerade elf Sätze, und dann kommt schon dieser retrospektive Blick, der diese elf Sätze zusammenfasst, als wäre es ein halbes Jahrhundert, durch das wir gerade gewandert wären. Meiner Meinung nach stimmt hier das Verhältnis nicht.
Warum nicht einfach gerade weitermaschieren, aus den vorhandenen Sätzen eine dichtes Gewebe zum Ziel hin weben?
 
Guten Abend, DocSchneider - deine Fragen beantworte ich gerne:

1. Es ist keineswegs selten, dass junge Männer in den Zwanzigern sich vor der Schwelle zum 4. Lebensjahrzehnt fürchten und in diesem Zusammenhang ihren Blick sorgenvoll auf noch spätere Lebensabschnitte richten. Sollte das bei Frauen anders sein? Dass das 30. Lebensjahr eine wichtige Schwelle ist, wusste schon Balzac: "Die Frau von 30 Jahren". Oder denke an den Spruch "Trau keinem über dreißig". Es gibt Ü 30-Partys, von Ü 20-Partys habe ich noch nicht gehört. Wenn die Formulierung "die allerletzte Schallgrenze" (gemeint ist: für relative Jugendlichkeit) den 40. Geburtstag bezeichnet, so ist der 30. eben die vorletzte. Alles Gründe für Sorgenfalten.

2. Gewichtszunahme, laufend, keine Schwankung! Er nimmt in 2-Kilo-Schritten zu. Die Formulierung "in letzter Zeit zwei Kilo zugenommen" ist ja eine Verharmlosung, die er im stillen Selbstgespräch vornimmt.

3. Die Sache mit dem Spiegel ... Ja, das ist eben sein Tick. Darin äußert sich das Gefühl bedrohter Identität.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
steky, sehr gern gehe ich auf das ein, was du bemerkt hast. Ja, das ist ein wesentlicher Gesichtspunkt: Im Spiegel vergewissert man sich der Wirkung auf andere. Gerade ein öffentlicher Waschraum (Restaurant) kann eine unsichere Person leicht dazu bringen, sich zwischen zwei Auftritten in der Öffentlichkeit die Frage zu stellen: Wie sehe ich aus, wie wirke ich wohl? - Nein, eine Metapher ist der Spiegel hier nicht.

Zum Aufbau. Du monierst den Aufbau, empfiehlst "gerades Durchmarschieren" statt einer verfrühten "Retrospektive", wünschst dir mehr "dichtes Gewebe". Handelte es sich um einen reinen und in sich abgeschlossenen Kurzprosatext, müsste ich diese Kritik als berechtigt akzeptieren. Tatsächlich ist er das jedoch nicht, sondern eine kurze Ausblendung aus einem langen Roman (als E-Book 749 Seiten). Beim Einstellen hier war ich der Meinung, man könne dieses Bruchstück unter Kurzprosa veröffentlichen, da der beschriebene Ablauf in sich geschlossen ist (Aufenthalt im Waschraum, Gedanken dabei). Was dich, nicht ganz zu Unrecht, stört, ist der für das Gesamtwerk typische Wechsel der Erzählperspektive. Aus dem personalen Erzählstil zu Beginn wird dann kurzzeitig auktorialer Erzählstil (2. Absatz). Das ist bewusst so gemacht, doch verstehe ich deine Irritation gut.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Circulo

Mitglied
Lieber Arno,

Inwiefern wirkt meine Antwort über reflexive Verben im Bezug auf Differenz von res extensa und r. Cogitans auf die Veröffentlichung deines Textes?
Bist Du der Meinung, dass das Spiegelphänomen in "Selbstbespiegelung" gehaltvoller dargestellt wird, als es die Geschichte "Murks" von Circulo tut?

Beste Grüße
 
Geschätzter Circulo, hier meine Antwort auf deine beiden Fragen: 1. Mein Text ist wesentlich älter als deine Ausführungen neulich und an sie habe ich beim Veröffentlichen nicht gedacht. Es besteht also weder eine Wirkung noch ein Zusammenhang. Im Übrigen habe ich schon vor längerer Zeit etwas zum Thema Spiegel gebracht: Sag es dem Spiegel (10.6.11). - 2. Ich soll also ein Urteil abgeben über in meinen Augen evtl. bestehende Qualitätsunterschiede zwischen einem meiner Texte und einem von dir? So etwas mache ich grundsätzlich nicht, schon gar nicht öffentlich. "Murks" habe ich weder gelesen noch bewertet und werde es nach dieser Aufforderung auch nicht tun.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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