Selbstmordversuch

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Jan Balu

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Der Otter
Ein heißer, sonniger Spätfrühlingstag im Mai 2003 in Hamburg.
Sie duscht ausgiebig, pflegt sich, kämmt und föhnt ihre widerspenstige, natürliche, rote Lockenpracht mit größter Sorgfalt.
Erwartet sie ein kribbelndes Rendezvous?
Will sie an dem bereits sommerlichen Strand der Elbe in ihrem Bikini in den warmen Tag hineinträumen?
Erwartet sie dort ein Picknick mit lustigen Freunden?
Sie nimmt den kleinen, leichten Rucksack, wenn sie an die Elbe fährt. Er passt sich ideal ihrem schmalen Rücken an und sie hat beide Hände frei.
Doch was packt sie da in ihren Rucksack?
Eine halbe Flasche Cognac, abgefüllt in eine Mineralwasserflasche und gemischt mit fünfzig kleinen, weißen Tabletten.
Alle Tabletten wurden im Krankenhaus geschickt angesammelt.
Sie kennt sich aus und weiß, wie man so etwas anstellt.
Keiner in der psychosomatischen Abteilung hat etwas davon mitbekommen.
Sie darf jederzeit das Krankenhaus verlassen.
Ihr erlernter Beruf ist Krankenschwester. Sie weiß um die Routine eines Krankenhausbetriebes. Sie fühlte sich immer berufen zu ihrer manchmal verkannten Tätigkeit. Heilen, trösten, versorgen, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Tod, Freude an der Genesung - alle Kontraste des Lebens waren ihre ständigen Begleiter.
Doch nun ist sie selbst Patient!
Seit vier Wochen hilflos gefangen in scheinbar unüberwindbarer tiefer Verzweiflung.
Was war geschehen mit dieser lebensfrohen, quirligen, bemerkenswerten Frau?
Sie ist in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen.
Sechzehn Jahre ist sie nun verheiratet.
Sechzehn Jahre geborgene Zweisamkeit.
Auch wenn Wunschkinder nicht herbeigezaubert werden konnten, so sind sie doch eingeschworen, eingebunden in dem Streben nach lebens- und liebenswerter Gestaltung ihres gemeinsamen Lebens.
Er hat einen verantwortungsvollen Job, muss hart arbeiten, oft ist er einige Tage der Woche auf Reisen. Die finanziellen Vorteile ermöglichen ihnen beiden ein gemütliches Zuhause und ein sorgenfreies Leben.
Ohne Kinder darf man die Welt bereisen, zu Zeiten da nicht so viele Menschen unterwegs sind. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, reisen zwei Gleichgesinnte in viele interessante Länder unseres blauen Planeten. Bildbände, Fotos und Videos zeugen von fremden Kulturen.
Jedes exotische Land wird erfahren, erlebt und nicht nur oberflächlich besucht.
Sie ist die Triebfeder dieser Taten, er scheint die Impulse zu benötigen, um sie dann mit ihr zu genießen.
Sie hat nach gemeinsamer Absprache ihren Job aufgegeben, die Handwerker beim Umbau ihres kleinen, geschmackvollen Reihenhauses betreut und das Zuhause liebevoll eingerichtet.
Nach einigen seiner Karriere förderlichen Umzügen von Nord nach Süd und wieder zurück, sollte nun dieses Haus in Hamburg ihre endgültige Heimat werden.
Dann der Donnerschlag!
Er hat sich in eine Arbeitskollegin verliebt und will sich von seiner Frau trennen.
Auf ihrer letzten gemeinsamen Urlaubsreise in Thailand gesteht er ihr gequält, dass er bereits seit längerer Zeit in großer Liebe zu dieser Frau entbrannt sei.
Sie erstarrt!
Ungläubig, fassungslos sitzt sie ihm gegenüber.
Blitzschnell jagen verdrängte Ahnungen und Ängste durch ihren Kopf. Bevor sie etwas erwidern oder fragen kann, entsteht in Bruchteilen von Sekunden ein Kaleidoskop tausender Bilder.
Verlustangst, Angst vor der Zukunft, Angst, allein zu sein.
Sie wird im nächsten Monat 46 Jahre alt. Ihre Eltern sind früh gestorben, sie hat keine Geschwister. Die wenigen Freunde aus der lange zurückliegenden Zeit vor der Ehe, die auch nach diversen Ortswechseln noch zu ihr stehen, haben Kinder und sind in ihren Familienstrukturen, ihren eigenen Sorgen und Nöten, verhaftet.
Er ist ihr Leben, seine Existenz die ihre. Seine Familie, gemeinsame Freunde, Nachbarn - eine Welt bricht im Platzregen an einem der schönsten Strände Thailands zusammen.
Jetzt erst Versuche von Fragen an ihren Mann, Trauer, Vorwürfe, Wut, Verzweiflung, Unsachlichkeit. Ihre getrocknete Kehle, sie greift nach Wasser, ringt nach Halt.
Natürlich hat er ihre tiefe Erschütterung in Schrecken registriert.
Er weicht aus.
Er ahnt, was er ausgelöst hat.
Er weiß, dass sie sein treuester, aufopferungsvollster, liebevollster Partner ist.
Er gibt ihr Hoffnung.
Mit dieser kleinen Flamme treten sie gemeinsam die Rückreise nach Hamburg an.
Der Zusammenbruch naht. Ihre kleine, glücklich gezimmerte Welt existiert nicht mehr.
Er ist nicht mehr ihr Mann.
Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat wird die Entfremdung größer.
Er glaubt, sich mit Hilfe der anderen Frau neu entdeckt zu haben.
Er kommt nicht von ihr los.
Depressionen kannte sie bislang nicht. In ihrem Beruf am Rande miterlebt, fühlt sie jetzt selbst dieses engmaschige, graue Netz, in das sie unentrinnbar eingefangen scheint. So mag ein Fisch fühlen, wenn der Angler das Netz nach oben zieht und der betäubende Schlag herbeigesehnt wird.
Er ging.
Gnadenlos ließ er sie zurück.
Allein im Krankenhaus.
Sie, die immer anderen half, weiß sich selbst nicht zu helfen.
Sein kühler Rat: „Lass’ dir im Krankenhaus eine Beruhigungsspritze geben!“, ist sein fortgeworfenes Gewissen.
Ihr Rucksack ist gepackt.
Wie ferngesteuert geht sie zu ihrem kleinen Fiat und platziert alles wie immer ordentlich in ihrem Wagen. Sie legt den Anschnallgurt an und fährt gewissenhaft wie ein guter Verkehrsteilnehmer an ihre geliebte Elbe. Heute fährt sie etwas weiter hinaus, da steht ein hoher Sendemast.
Sie parkt ihren Wagen korrekt am Straßenrand und verschließt ihn.
Papiere, Schlüssel und Geldbörse steckt sie seitlich in den Rucksack und macht sich auf den Weg zum Strand.
Es ist ein Werktag und trotz des herrlichen Frühlingswetters sind nur wenige Menschen unterwegs.
Da geht sie, ihre leuchtenden roten, wunderschönen Haare scheinen wie die Sonne.
Dieses zierliche, hübsche Weib in ihren besten Jahren, wer sollte ahnen, was sie vorhat.
Wie in Trance zieht es sie Richtung Sendemast. Kann sie da die Stahltreppe hinaufsteigen, die nur für das Wartungspersonal gedacht ist?
Da oben von der Plattform könnte sie hinunterspringen. Aber nein, selbst wenn der Aufstieg ihr gelänge, jemand würde sie sehen und im übrigen, was wäre, wenn sie sich beim Aufprall nur schwer verletzen würde?
Verletzt wurde sie genug, sie will sterben.
Schluss soll sein, sie will, sie kann nicht mehr.
Wer sollte sie auch vermissen?
Langsam geht sie zurück.
Wohin?
Schon kommt ihr Auto wieder in ihr Blickfeld. Da steht er, ihr kleiner, stummer Gefährte wartet auf sie, er könnte sie fortbringen, zurück ins Leben.
Nein! Gleich gegenüber klettert sie über einen Zaun und setzt sich an einen kleinen Wasserlauf in das hohe Gras. Ein dichter großer Busch verhindert den Einblick von der nur ein paar Meter entfernten Straße, an der ihr kleiner Fiat parkt.
Sie packt den Rucksack aus.
Die Pillen in der Cognacflasche haben sich nicht wie erwartet aufgelöst.
Es schaudert sie bei dem Gedanken, dieses Gebräu zu trinken.
Sie schüttelt die Flasche mit dem rotbraunweißlichen Inhalt.
„Wenn ich das jetzt trinke, große, tiefe Schlucke, werde ich mich nach ein paar Minuten ins Wasser legen und mir dann mit den scharfen Rasierklingen die Pulsadern aufschneiden.“
Sie weiß, wie man das richtig machen muss.
Der Bauer, der unweit ahnungslos seine Wiese mäht, würde sie finden, wenn sie tot im Wasser liegt.
Sie möchte nicht hässlich aussehen, wenn sie gefunden wird.
Das Wasser ist nur einen halben Meter tief, man müsste sie alsbald entdecken.
Vier Stunden sitzt sie bereits an dem Kanal, vier Stunden im Hader mit Leben und Tod.
Keinem ist sie bisher aufgefallen.
Und wenn schon, eine hübsche Frau sitzt allein bei herrlichem Wetter am Wasser.
Das monotone Geräusch des Rasenmähers ist verstummt, der Bauer hat seine Arbeit erledigt.
Der Tablettencocktail ist inzwischen lauwarm.
Unglaublich, in den vielen Stunden hat sie nur wenig Konkretes gedacht.
Da plötzlich!
Was ist das?
Ein Otter?
Ja, ein Fischotter besucht sie, er schwimmt gemächlich vor ihren Augen nur wenig entfernt vom Ufer.
Wann hat sie zuletzt einen Otter gesehen?
Wieso erscheint dieses Tier hier bei ihr?
Sollte sie jetzt sogar gelächelt haben?
Ein Ansatz ihres mitreißenden Lachens, als sie so gern vergnügt war?
Possierlich spielt der Otter in seinem Element. Frech und lebensfroh tummelt er sich direkt unter ihren Augen und akzeptiert sie als selbstverständlichen Bestandteil seiner Umwelt.
Sie studiert ihn, noch nie durfte sie dieses Tier so ausgiebig beobachten. Ein Ausbund an Lebensfreude.
Der Otter!
Ihr Schutzengel?
Er holt sie zurück ins Leben.
Noch dreht er sich vergnügt im Wasser, Kopf und Schwanzflosse tauchen auf und unter.
So wie mal eben aufgetaucht so ist er wieder verschwunden.
Auf Wiedersehen, lieber Otter!
Unsere verzauberte, dem Leben abgewandte, kleine Frau hat sich besonnen, sie packt alles zurück in den Rucksack.
Sie steht auf, reckt sich nach dem langen Sitzen und schüttelt ihre Naturlockenpracht. Sie ordnet ihre Kleidung und geht zurück zu ihrem Auto.
Eine Stunde später sitzt sie mit anderen Patienten beim Abendessen an einem langen Tisch und sagt kein Wort.
Hat jemand etwas bemerkt?
Nein!
Ein jeder hat seine eigenen Sorgen und Belange.
Der Patient kann machen was er will, solange er vorgeschriebene Normen einhält und den Ablauf der Routine nicht über die Maßen stört.
Gott sei Dank, dass du kleiner Otter zur Stelle warst!

Wie ging es wohl weiter mit unserer, von einem kleinen Tier ins Leben zurückgerufenen, Heldin?
Sie lebt heute aufgeblüht und um viele Erkenntnisse reicher unter uns.
Liebe, Lust und Freude am Leben haben erneut Einzug gehalten.
Die Wunden in ihrer Seele reißen zwar hin und wieder auf, doch sie schließen sich immer schneller.
Ihr Trauma von einst wird kompensiert durch ein neues Lebensgefühl.

Jan Blu
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Jan, dies scheint mir eine misslungene Geschichte. Du kannst dich nicht entscheiden zwischen Parodie und Tragödie.
Der Otter bietet sich doch nun wahrlich als Parodie an.

Gruß
Hanna
 



 
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