Senza Fine

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Tessy

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Senza Fine

© Tessy

"Papa, fährst Du gleich noch einmal zur alten Villa zu Madam Angelique hinaus? Sie hat eben noch eine ganze Menge Ware bestellt, auch ein paar Flaschen Wein und Käse", bittet mich mein Sohn.

Er hat unser kleines Feinkostgeschäft übernommen und hier in dieser ländlichen Gegend beliefern wir unsere Kunden ob der weiten Wege schon immer gerne mit dem Auto. Dazu habe ich ja auch meine alte 'Ivette' - so nenne ich meinen 2CV Lieferwagen mit dem kleinen Kastenaufbau, die mir schon seit rund 40 Jahren treue Dienste leistet. Wegen ihrer weichen Federung ist mir auf den holprigen Feldwegen bis heute nicht ein einziges Ei oder eine Flasche Wein zerbrochen.

Ich lebe mit meinem Sohn und meiner Schwiegertochter in unserem Hause aber ich bin dort nicht mehr heimisch. Ich empfinde mich selbst als störend im Hause und sollte eigentlich mein Leben selbst in die Hand nehmen und die jungen Leute in Ruhe lassen. Meine liebe Frau Marianne ist vor einigen Jahren von mir gegangen und der grausame Gevatter Tod hat nicht nur ihren Körper unter Höllenqualen zerstört sondern auch mich gebrochen und auf meiner Seele schmerzhafte Narben hinterlassen. Mein Verstand sagt mir, dass ich im hier und jetzt leben muss und an mich denken soll, aber mein Herz blickt immerzu auf einen Grabstein unter einer Birke auf unserem kleinen Friedhof. So lasse ich mich treiben vom Leben, ohne Ziele und ohne Illusionen und versuche zumindest meinem Sohn im Geschäft hilfreich zu sein.

Es ist eine lange Liste, die Madam Angelique aufgegeben hat und nachdem ich alles zusammengestellt und in 'Ivette' verstaut habe, mache ich mich an diesem heissen Julitage auf den Weg. Es ist ein vornehmes Haus und ich ziehe extra eine saubere Hose und ein frisches weisses Hemd an. Das Haus ist eine große alte Villa mit - wie man neuerdings sagt - Renovierungsstau. Madam Angelique ist die Haushälterin, eine rundliche Frau mit weissen Haaren, die sie zu einem Knoten frisiert hat. Meist trägt sie ein blaues Kittelkleid und eine weisse Schürze. Sie ist wie ich selbst auch in den 60gern und wir kennen uns nun auch schon fast 40 Jahre. Aber irgendwie war sie schon immer eine alte rundliche Frau. Zumindest erinnere ich nicht, dass sie einmal eine junge attraktive Frau gewesen ist. Die Herrschaften der Villa habe ich nie kennengelernt. Man sagt, sie würden auch in Paris leben und niemals hierher kommen. Dennoch geben sie hier oftmals Gesellschaften, die Madam Angelique dann ausrichtet. Allerdings weiss auch niemand, wer die Gäste sind. Nur Madam Angelique. So ist es auch diesmal.

Ich parke 'Ivette' hinter dem Haus und trage die Kisten mit der bestellten Ware durch den Hintereingang in die größe Küche. Angelique begrüßt mich freudig und nimmt mich wie immer in die Arme. "Mein lieber Claude, Sie sehen heute wieder phantastisch aus", schmiert sie mir Honig um den Bart. "Haben sie all meine Wünsche erfüllen können, auch den Wein, den toskanischen Col Di Sasso? Das ist der Lieblingswein eines unserer weiblichen Gäste", erklärt sie? Ich nicke und frage, ob ich mich etwas setzen darf. Es ist heute ein sehr warmer Tag und 'Ivette' hat keine Klimaanlage. Daher ist mir ein wenig schwindelig und Angelique bringt mir eine gekühlte Flasche Wasser. Während sie am Herd ihrer Arbeit nachgeht plaudern wir eine Weile über das Leben, die Liebe, die Trauer und, dass ich doch langsam einmal wieder nach vorne blicken soll. Schließlich wisse man ja nie, ob einem nicht durch Zufall die große Liebe über den Weg läuft, schwelgt sie und blickt mich dabei etwas seltsam aus den Augenwinkeln an.

Ich hatte ihr gestern schon Geflügel und Fleisch gebracht und aus dem Backofen in der Küche duftet es appetitlich. Angelique lässt mich etwas kosten - vom Fleisch, vom Gemüse von der Suppe und vom Dessert und blickt mich erwartungsvoll an, ob ich ihre Kochkünste auch ausgiebig lobe.

"Bitte, mein lieber Claude, seien Sie so gut und bringen Sie doch schon einmal drei Flaschen Wein ins Esszimmer", bittet sie mich und ich komme ihrem Wunsch gerne nach. Es ist ein große Tafel eingedeckt und auf der Terrasse sind ein paar Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgestellt. Daneben ist eine Musik-Combo, die schon einmal die Instrumente stimmt. Das wird bestimmt eine große Gesellschaft werden, denke ich mir.

Als ich die dritte Flasche entkorke,wird mir wieder schwindelig, ich falle - und mehr weiss ich nicht.

Ich merke, wie man mir auf die Wange klopft. Eine Frauenstimme sagt: "Hallo Claude, bist Du wieder wach?"

Ich bin noch ganz benommenund alles dreht sich in meinem Kopf. Langsam erkenne ich, dass Menschen um mich herum stehen. Ich realisiere, dass ich auf dem Boden liege. Oh je, wie peinlich.
"Sind sie alle Gäste hier im Haus", frage ich etwas hilflos?

Dabei blicke ich in das Gesicht einer eleganten Frau in den mittleren Jahren, die neben mir auf dem Boden kniet und mich herausfordernd anlächelt: "Na, Claude, langsam wachgeworden, alter Mann?"

"Ja, danke. Wer sind sie", frage ich?

"Na, ich bins doch, Doris", sagt sie, "es ist so schön, Dich wieder bei mir zu haben."

"Entschuldigen Sie, äh... es tut mir Leid, ich wollte Ihre Gesellschaft nicht stören", stottere ich und Doris zieht mich hoch und führt mich zu einem Stuhl.

"So hier setzt Du Dich hin. Direkt neben mich. So, wie immer und nun lass den Unfug hier. Immer musst Du mich erschrecken. Hier, nimm ein wenig von der vorzüglichen Suppe! Möchtest Du einen kleinen Schluck von unserem Lieblingswein?"

"Wer sind sie, kennen wir uns", frage ich irritiert?

"Claude, schau mich an! Erkennst Du mich nicht? Ich bin's, Doris, Deine große Liebe!"

"Ich verstehe nicht", stottere ich.

"Naja, oder Du wirst meine große Liebe werden, oder warst es, oder wirst es immer sein - auf immer und ewig und immer wieder von Neuem. Ohne Ende - Senza Fine. Komm einmal her, alter Mann, schau mir in die Augen, was siehst Du?"

"Ich weiss nicht...was soll da sein?"

"Falsch - nein. Nein, nein, nein. Das will eine Frau nicht hören! Weisst Du nicht mehr, was Du mir gesagt hast, als Du mich das erste Mal gesehen hast?" Sie hebt theatralisch ihre Arme und zitiert: "Der Blick in Deine Augen ist wie der Blick in die Schönheit des Universums mit seinen leuchtenden Sternen die meine Seele in glühendem Feuer verbrennen, wenn Du mich nicht erhörst. Das will eine Frau hören. Oder hast Du das vergessen?"

"Ich weiss nicht... ", frage ich unsicher?

Angelique betritt den Raum und erklärt: "Claude, unsere Gäste sind all die verlorenen Seelen dieser Welt, an die niemand mehr denkt. Und heute haben wir einen neuen Gast. Darf ich Ihnen unseren lieben Freund Claude vorstellen, der uns heute für eine Weile Gesellschaft leisten wird", wendet sich Angelique an die Gäste und alle heissen mich freundlich willkommen.

"Das ist Doris", stellt mir Angelique die Frau von eben vor, "Du kennst Sie noch nicht, Claude. Aber glaube mir, sie ist eine ganz liebe und herzliche Frau, die man einfach nur lieben muss, so wie sie Dich lieben wird. Und heute feiern wir den Abschied von Doris, weil sie nun nur noch für kurze Zeit bei uns bleiben kann."

"Das tut mir leid, ich wollte nicht...", sage ich, aber Doris hält mir den Mund zu: "Still jetzt, bevor Du etwas Falsches sagst. Küss mich lieber, alter Mann, Du kleiner Dummkopf!"

Ich habe noch nie in meinem Leben eine andere Frau geküsst, aber ihre Küsse sind so leidenschaftlich und zärtlich und irgendwie auch so vertraut - und so stimme ich mit in ihren Kuss ein.

"Komm, lass uns anstossen - auf die Liebe - ja? Das ist mein Lieblingswein! Col Di Sasso, mmmhh... was für ein Aroma", schwelgt Doris und inhaliert den Duft des Weines. Dann nimmt sie meine Hand und lässt mich die ganze Zeit nicht wieder los. So als wollte sie mich nicht verlieren. Sie ist wirklich sehr charmant, fordernd, aufmunternd und klug: "So lange habe ich Dich vermisst. Mein ganzes Leben lang hast Du mir gefehlt. Aber nun bist Du ja wieder da und ich werde Dich nie wieder loslassen."

"Nun führe mich zum Tanz, mein geliebter Claude, bitte!", fordert sie. Ich blicke unsicher und Madam Angelique nickt mir zu, "Geh' Claude, geh' Deinen Weg. Folge Doris. Folge Deiner Bestimmung."

"Schau mal, der Ring, den Du mir bei unserer ersten Begegnung geschenkt hast. Ich muss ihn immer wieder betrachten, so ein schöner Stein. Und immer wieder lese ich die Gravur und bin glücklich", flüstert Doris.

"Was steht da", frage ich?

"Du alter Zausel, hast Du das vergessen", zischt Doris und gibt mir den Ring, damit ich lesen soll aber ich habe meine Brille nicht auf der Nase. Madam Angelique berührt ihre Schulter: "Er weiss es noch nicht!"

"Das wusste er damals auch nicht", lacht Doris.

Ein langsamer Walzer ertönt. Ich nehme Doris in den Arm und wir drehen uns langsam zur Musik im Kreise, können die Augen nicht voneinander lassen und fallen wieder in einen zarten Kuss, während wir uns weiter zu den Klängen drehen - 'Senza Fina' - ohne Ende heisst das Lied und von mir aus könnte es so weiter gehen - ohne Ende. Ich weiss nicht, warum es so ist, aber diese Frau verzaubert mein Herz und reisst im Nu den grauen Umhang des Trauernebels von meiner Seele. Das ist schön. So romantisch. So beglückend. Sie erobert mich im Sturm und ich kann es nicht erklären, aber bin dabei, mich sogar in sie zu verlieben. Sie wirkt auf mich so vertraut. Kann so etwas passieren? Mir altem Mann? Dessen Herz eigentlich ganz woanders hinsieht. Aber im Moment sieht es Doris an. Ihre Augen mit den großen falschen Wimpern, dem roten Lippenstift auf ihrem lächelnden großen Mund, dem etwas altmodischen Hütchen mit so einem kleinen Schleier vor der Stirn und ihren schlanken Händen.

"Und", haucht sie, "was denkst Du?" - "Es ist schön mit Dir", antworte ich etwas unsicher ob der Aufruhr meiner Gefühlswelt und sie schmiegt sich an mich und haucht, "ja, finde ich auch. So soll es immer sein. Bleib' immer bei mir Claude, versprichst Du mir dass?"

Plötzlich wird mir vom Tanz wieder ein wenig schwindelig und ich will mich setzen, aber dann falle ich zu Boden.

"Und nochmal! Los! Hopp, los, komm! Mach schon, alter Mann, und springe ihm ganz von der Schippe", weckt mich eine energische Frauenstimme, "Bon Soir, Monsieur, da sind sie ja wieder. Und Augen auf, bitte!"

Ich öffne meine Augen. Doris - es ist Doris, meine Doris - aber - sie hat ganz graue Haare. Sie ist alt. So wie ich. Sie trägt einen Overall und darauf steht Dr. Doris Gilet. Sie ist Notärztin: "Ich bin Doris und wie heissen Sie? Ach Claude! Und welcher Tag ist heute? Richtig, Donnerstag der 17. Juli. Und wissen Sie was passiert ist. Schauen sie mich bitte einmal an. Hierher sehen, bitte, direkt in meine Augen!"

Mir fällt der Satz von eben ein und ich stammele: "Der Blick in Deine Augen ist wie der Blick in die Schönheit des Universums mit seinen leuchtenden Sternen die meine Seele in glühendem Feuer verbrennen, wenn Du mich nicht erhörst."

Sie lächelt mich an und sagt: "Oho - Sie wissen genau was eine Frau gerne hören möchte. Dem Patienten geht es offensichtlich schon wieder sehr gut. Vorsicht, alter Mann, ich nehme Sie beim Wort!"

Ich habe von vorhin noch den Ring in der Hand und gebe ihn Doris - schließlich gehört er ihr ja auch irgendwie: "Ich habe hier ein kleines Dankesgeschenk für Sie, weil sie mich gerettet haben, Doris. Sie haben es verdient!" Sie zögert und ziert sich aber dann nimmt sie ihn und bestaunt den schönen Stein. Er passt wie angegossen. Ja, sie soll ihn bitte als Dank annehmen.

Madam Angelique steht neben uns und reicht der Ärztin eine Flasche Wein, "als Dankeschön für Ihre Mühe."
Doris rollt mit den Augen, "mein Lieblingswein 'Col Di Sasso', wer hat denn den bestellt", fragt sie - "Na, sie selbst", lächelt Madame Angelique.

Doris ist etwas irritiert und lenkt ab, "So, in zweieinhalb Stunden habe ich Feierabend und dann sehe ich nach Ihnen und dann erwarte ich, dass sie aufrecht im Bett sitzen und mich sehnsuchtsvoll anlächeln, wenn ich in ihr Zimmer komme und meinen Abend verzaubern, verstanden! So, alter Mann, ab jetzt mit Ihnen in Hospital St. Etienne. Und dann erklären Sie mir nachher auch noch die Gravur im Ring, Claude, ja?"

"Welche Gravur", frage ich.

"17. Juli - Claude und Doris - Senza Fine", ruft sie mir noch zu, bevor sich die Türen des Rettungswagens schließen.
 



 
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