Sequel: Schneewittchen

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Saint Ken

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Sequel: Schneewittchen



„... und es wurden eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt. Sie wurden mit Eisenzangen herein getragen und die gottlose Stiefmutter musste in die rotglühenden Schuhe treten. Und sie tanzte darin so lange, bis sie tot zu Boden fiel.”

Brüder Grimm​

Nach ihrer Scheidung lebte Schneewitchen nicht schlecht. Sie hatte wirklich gute Anwälte engagiert, die den Prinzen bis auf das letzte Hemd ausgezogen hatten. Im Jahr darauf hatte sie ihren Wohnsitz nach Monaco verlegt.

Sie lag auf einem Badetuch an ihrem Pool, mit atemberaubenden Blick über den Hafen. Ihre lange schwarze Mähne hatte sie auf Schulterlänge stutzen lassen trug sie seit einigen Wochen blondiert. („Sie sehen hin-reis-send aus!”)
Ihre Figur hatte nach den beiden Geburten nicht gelitten, auch wenn ihr Bauch nicht mehr ganz so straff war wie in der Zeit bei den Zwergen. (Das Essen bei ihnen war nicht schlecht gewesen, aber doch etwas einseitig - schließlich war sie alleine dafür zuständig gewesen - und Kochen war noch immer keine ihrer Stärken.
Noch immer wurde ihr schlecht, wenn sie an das frisch erlegte Wild dachte. Blut... Überall Blut... („Nimm diesen wunderschönen roten Apfel! Hast du jemals so einen schönen roten Apfel gesehen?”)


[ 6] Des Königs neue Gemahlin war eine strahlende Schönheit. Sie führte von Anfang an ein hartes Regiment. Und sie HASSTE Schneewitchen vom ersten Augenblick, als sie sie erblickt hatte und das Schloss ihres neuen Gemahls betrat. Ihre weiße Haut... das ebenholzschwarze Haar... die blutroten Lippen... Im ersten Augenblick, als sie das junge Ding erblickte wusste sie, dass sie den König niemals völlig besitzen würde. Dass das kleine Miststück sterben musste wurde ihr erst später klar. Vielleicht war ihr von Anfang an bewusst gewesen, dass sie das Spiel gegen diese Konkurrentin längst verloren hatte... („Sieht sie nicht wunderschön aus? Hast du jemals so ein wun-der-schö-nes Mädchen gesehen? Sie ist ganz ihre Mutter!”)Sie war ihres Vaters Mädchen. Und würde es immer bleiben.


Es war eine sehr spontane Hochzeit, vielleicht etwas überhastet. Sie hatten sich noch nicht einmal richtig kennen gelernt und eigentlich hatte er sie stark bedrängt. Ja, er hatte ihr Leben gerettet. Wenn auch eher zufällig.

"Prinz... " Sie rümpfte die Nase. (Ein Hauch von Romantik ließ sich allerdings nicht von der Hand weisen. Doch sie war jung und naiv gewesen und hatte sich leicht beeindrucken lassen.)

Das war alles eine andere Zeit gewesen.

Nicht, dass sie ihn nicht geliebt hätte - doch, das hatte sie wirklich. Aber die langen Tage im Schloss, seine langen Reisen in ferne Länder... Und seine Aufmerksamkeit hatte auch stark nachgelassen nachdem er in England gewesen war. Natürlich war sie eifersüchtig gewesen. Was hätte sie auch von den ganzen Reportagen und Artikeln halten sollen? Sicherlich war er treu gewesen, doch die Fotos mit dieser Blondine hatten sie getroffen. (Schneewitchen hatte ihren Laptop wutentbrannt gegen die Vitrine im Speisesaal geworfen. „DIESE VERDAMMTE DRECKSAU!”

Sie dachte noch oft an die Zwerge, doch auch die hatten sich zwischenzeitlich getrennt, nachdem in deren Nähe eine soziale Neubausiedlung gebaut worden war. Üble Gerüchte über ihre seltsame Wohngemeinschaft hatten die Runde gemacht. Sogar das Fernsehen hatte einige Reportagen gesendet „DARF MAN SOETWAS?” hatte die größste überregionale Zeitung daraufhin getitelt.
Der Kleinste hatte sich daraufhin erhängt. Vermutlich war doch etwas an diesen Gerüchten dran gewesen.



[ 6] Die Zwerge, die verdammten Zwerge... Sie hatten ihren Plan durchschaut. Ohne sie wäre Schneewitchen gestorben. Erfroren im Schnee oder verhungert. Und der verdammte Spiegel... Der VERDAMMTE Spiegel!
Sie hatte ihn von ihrer Mutter geerbt. Diese hatte von dem Fluch gewusst, der auf ihrer Familie lag. Sie hatte ihr Leben lang kämpfen müssen. Und dann hatte sie auch ihre eigene Mutter als ihre Feindin heraus gestellt. „Der Spiegel wird dir immer den rechten Weg zeigen!” Gelächelt hatte sie dabei. Es war das Lächeln einer giftigen Viper gewesen. Warum war sie nur so naiv gewesen? Der Spiegel hatte oft zu ihr gesprochen. Vor allem in einsamen Stunden, wenn das Schloss leer war.

Das blutige Herz. Es war noch warm gewesen. Sie hätte doch wissen müssen, dass es nicht das des kleinen Miststücks gewesen sein konnte. Sie hatte es doch gespürt... Belogen. Betrogen. Von allen. (Und der giftigen Viper...) VERDAMMT! Wieso war alles nur so schief gelaufen? Sie hatte doch einfach nur ein neues Leben beginnen wollen. In Frieden. In Liebe.
(„Der König sucht eine neue Braut! Kindchen hör mir zu! Du kannst alles erreichen! Du musst sein Herz gewinnen. SEIN HERZ!”) Schneewitchen war sein Herz. Das kleine dreckige Miststück...)

„... wer ist die Schönste im ganzen Land?”
„VERDAMMT NOCHMAL! Ich bin die Schönste!!!”
Noch als sie die glühenden Schuhe an ihren Füssen trug, die sich in das Fleisch brannten riss sie alle Kräfte zusammen. Sie würde tanzen!
Sie hatte diese grausame Strafe verdient, dass war ihr klar. Doch ihre letzten Blicke galten Schneewitchen. Diesem Miststück! Tiefe durchdringende Blicke. Brennend.




Zur Beerdigung war Schneewitchen nicht erschienen. Sie konnte einfach keine schlechte Publicity mehr gebrauchen. Ihre Stiefmutter war tot. Und viele Sitzungen bei namhaften Therapeuten hatten nicht viel gebracht. Sie hatte für sich selbst entschieden, dass sie vergessen würde. Es war ganz leicht. Sie würde alles vergessen. Die Stiefmutter war tot und vergessen. Ihr Vater war einem Herzeiden erlegen. Und die Kleine? Ja, die war auch fort.


Inzwischen sonnte sich Schneewitchen in ihrer neuen Rolle als Grand Dame in Monte Carlo. Parties, Empfänge, Galas... (Dazwischen einige Treffen mit den besten Schönheitschirurgen, ihrem Therapeuten und ab und an nervige Charités) Sie wurde langsam älter, doch noch war sie auf den Titelseiten der Gazetten in aller Welt. Es wurden weniger, das ließ sich nicht bestreiten, doch auch als Exfrau einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Königshäuser würde sie noch lange im Gespräch bleiben. („Wie machen Sie das nur? Sie sehen kein Jahr älter aus!”)



[ 6] Sie hatte ihr in die Augen sehen wollen.
Der Kerker war kalt. Erhellt von Fackeln. Es stank nach Salpeter. Moder. Tod.
„Er hat dich geliebt! Du hättest alles haben können!” Schneewitchen sprach leise und scharf.
„Du verstehst überhaupt nichts! Du bist ein mieses kleines verzogenes Kind!”
Sie hatte ihre Stiefmutter das erste mal weinen sehen. Die Frau, die sie töten wollte.
Doch sie empfand nur Kälte. Sie wollte diese Frau sterben sehen.
Selbstverständlich verstand sie sie. Als Schneewitchen in den Spiegel geblickt hatte, hatte sie alles verstanden. Die eisige Kälte, die Einsamkeit. Den Schmerz im Innern. Die Hoffnungslosigkeit. Alles war so klar gewesen. So endgültig.
Ihr Vater hatte ihr noch nie einen Wunsch abschlagen können... Er hatte immer ihre Mutter in ihr gesehen. So, wie er sie damals kennengelernt hatte. Vielleicht hatte er sie sogar ZU sehr angesehen wie ihre Mutter.
Irgendeiner musste immer bezahlen.



Das Handy klingelte. „Mom?” Eine verheulte Stimme. „Mir geht es nicht gut...”
Sie achtete nicht darauf was ihr Sohn stammelte. Besoffen. Ärger, nichts als Ärger. Ihre Kinder kamen nach der Scheidung sie zu ihrem Vater, der sie kurz darauf auf ein Internat in Südafrika schickte. Ihre Tochter... Seine Enkelin. Alles wiederholte sich.
Vielleicht hatte sie geahnt, dass das Ganze nicht gut gegangen wäre. („Der Spiegel wird dir immer den rechten Weg zeigen!”) Sie legte auf und schaltete das Handy aus. Ihre Sohn war ihr gleichgültig. Und ihre bildhübsche Tochter verschwunden. Niemand hatte sie vermisst. Oder gesucht. („Mami? Wo gehen wir hin?”)


Der Himmel über dem Meer begann sich zu verdunkeln und ein kühler Wind zog auf.
Schneewitchen blickte sich um. Es war alles so, wie sie es sich immer gewünscht hatte.
Sie stand auf, wickelte sich ein Strandtuch von Versace um die Hüften und betrat ihr weiträumiges Penthouse. (Sie hasste enge Räume und vermied Besuche in kleinen Häusern - und sie brauchte eigentlich keine 400 $ pro Sitzung bezahlen, um die Ursachen zu finden)

Der Pool wurde langsam von Regentropfen und stärker werdendem Wind aufgewühlt. Düstere Wolken warteten darauf sich zu erbrechen.

In ihrem modern eingerichteten Schlafgemach hing ein alter Spiegel neben einem kostbaren Druck von Andy Warhol. Ein seltsam vermodert und fast stumpf wirkender Spiegel mit wurmstichigen hölzernen Rahmen. Zweifellos eine wertvolle Antiquität.

Sie trat darauf zu und flüsterte leise „Spieglein, Spieglein an der Wand...” Sie kannte die Antwort auf ihre Frage, doch der Spiegel sah nicht mehr gut. Und er wurde langsam müde. Er würde ihr das sagen, was sie hören wollte.


© SK 08/ 2002
 

itsme

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.......

Das Morbide, Dekadente im Gestern und Heute als Muster? Austauschbar die Figuren? Geschichte als ständige Wiederholung? Kein erhobener Figer, aber den Finger auf den dunklen Seiten. Mir ist zu exemplarisch was du schreibst. Deine Protagonistin als Symbol, Spiegel der Welt, nicht Person ... aber das war Absicht, denke ich. Zynisch der Blick.

Zum Schreibstil
Du schreibst im Imperfekt, deine vielen Rückblenden folglich im Plusquamperfekt. Das machst du sehr konsequent. Die Folge, wenn man nicht sehr darauf achtet, schleichen sich Unmengen von: war, hatte, würde, hätte, gewesen, ein. Mir wird dadurch ein Text unappetitlich.

Die Verzahnung zwischen kaputtem Jetzt und Märchen ist dir gut gelungen. Die Bilder und Assoziationen sind griffig, die Klischees allerdings manchmal überreizt. Von der einfühlsamen Erzählung bist du mit deinem Stil so weit entfernt wie ein Choral von der zwölf Ton Musik. Aber jeder hat halt so seine Ausdrucksmittel.

Grüßlinge
itsme
 

Rainer

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hallo saint ken,

obwohl dies keine konstruktive kritik ist: mir hat deine geschichte gut gefallen.
allerdings auch von mir die anmerkung, daß sätze wie:

"Parties, Empfänge, Galas...
(Dazwischen einige Treffen mit den besten Schönheitschirurgen,ihrem Therapeuten und ab und an nervige Charités)"

zu plakativ sind, um den (gedanken-) fluß beim lesen der geschichte nicht zu stören.

gruß

rainer
 

Saint Ken

Mitglied
itsme:
ich hatte beim ersten gegenlesen schon dutzende "hätte, würde, gewesen" entfernt, auch wenn in der menge der rückblenden ein ausmerzen unmöglich ist. einen choral wollte ich natürlich nicht mit meinem text schaffen - die popmusik ist mir näher als die klassik.
dass es mit der "einfühlsamkeit" bei meinem text nicht klappt liegt wohl daran, dass er wie eine kugel in einem flipper zwischen märchen, parodie und "drama" hin und her geschleudert wird. ich finde deine sichtweise sehr interessant und sehe meinen text jetzt auch mal mit anderen augen. mir gefällt dein stil der kritik ausserordentlich gut - herzlichen dank!

rainer:
schön, dass dir meine geschichte gefällt - letztendlich hat sie auch nur diesen anspruch - einfach zu unterhalten (alleine das schreiben hat mir großen spaß bereitet!)
Die Passage "Parties, Empfänge, Galas... " will den leser eigentlich nur vom märchen in die gegenwart holen und ist eher ironisch gemeint - genauso wie der laptop, den sie im "märchenschloss" in die vitrine wirft.
die bruchstelle soll nicht verwischt werden, sondern betont (deshalb hakt wohl auch der lesefluss). danke für deinen kommentar, den ich sehr konstruktiv sehe :)
 



 
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