Seufz

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He de Be

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„Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn..“.

'Warum tun sie es dann nicht', dachte sie, während sie laut mitsang und dabei die anderen Stimmen in ihrem Kopf widerhallten, die zittrigen Stimmen der alten Frauen, die wackligen der Kinder, die klaren Stimmen der jungen Frauen und die wenigen festen Männerstimmen. 'Es liebt mich keiner. Sie meinen alle nur 's Maria im Himmel, das ist auch einfacher,' und beinahe hätte sie, während sie das dachte, auch noch geseufzt.
Mitten im Lied.

Maria war schon sechsundzwanzig. Sie hatte acht Jahre Schule, vier Jahre Weltkrieg, 18 Jahre Arbeit und zwei Jahre Verlobung hinter sich, und nichts davon hatte ihr Glück gebracht. Von allem, das heißt vor allem, hatte sie sich erhofft, von da weg zu kommen, wo sie war. Und jetzt stand sie immer noch hier.
In der Kirche war es kalt.

Der September hatte plötzlich ein paar kühle und stürmische Regentage gebracht, aber noch wurde nicht geheizt, und sie hatte vergessen, ihre warme Wolljacke anzuziehen.
Einer hatte sie geliebt, und sie hatte ihn geliebt. Ich habe nie seinen Namen erfahren, und sie hatten sich wohl auch nie geküsst. Aber sie hatte sich Hoffnungen gemacht. Oder er ihr. Dass sie sich nie geküsst hatten, schlussfolgere ich aus einer ihrer Bemerkungen sehr viel später.

Sie war inzwischen alt. Wir saßen zu dritt, sie, ihr Sohn und ich, ihr Enkelkind, im Wohnzimmer und sahen fern. Es lief irgendein alter Hollywoodfilm mit einem schönen Filmkuss am Ende, in Großaufnahme.
Meine Großmutter seufzte plötzlich laut auf.
„Was ist?“ fragte mein Vater, der, halb genervt, halb lachend, sich noch nichts weiter dabei denken wollte.
„Ich habe noch nie im Leben geküsst“, brach es mit einem tiefen Seufzer aus ihr heraus.
„Was?!“ rief er und sprang vor Aufregung aus dem Sessel.
“Nein”, seufzte sie weiter, “noch nie”.

Ich blieb sitzen, sagte nichts. Staunte und dachte nach. Wie, fragte ich mich, passt das zusammen mit der Geschichte, die sie mir erzählt hatte von ihrem Verlobten? Der weg gezogen war ins Ruhrgebiet, um dort zu arbeiten und genug Geld zusammen zu sparen, um eine Familie mit ihr zu gründen? Der dann jedoch an Tuberkulose erkrankt war und gestorben? Der ihre große Liebe geblieben war, der Grund, aus dem sie niemals mehr einen anderen hatte anschauen wollen? Hatte sie den nie geküsst? Nicht einmal geküsst?! Und ihren späteren Ehemann, mit dem sie immerhin drei Kinder in die Welt gesetzt hat, den auch nicht?! Oje.
Kein Wunder, dass sie so viel seufzte.

„Ja hast du denn den Opa, deinen Mann, auch nie geküsst?“ frage ich sie später.
„Den? Um Himmels willen!“ rief sie.
„Warum habt ihr dann geheiratet?“ frage ich weiter.
„Ich wollte das doch nicht! Am liebsten hätte ich noch in der Kirche laut ‚Nein!’ gerufen, aber was sollte ich denn machen?!“
Ich nickte. Ich weiß auch nicht, was sie hätte machen sollen. Hätte sie nein sagen sollen? Dann gäbe es mich nicht. Aber in ihrem Interesse? In ihrem Interesse wäre ja sowieso alles ganz anders gewesen.

Jetzt aber ist auch das Damals nur noch ein Wenn.

„Und wenn du einfach ‚nein“ gesagt hättest?“ fragte ich.
„Ach, das ging doch damals gar nicht. Das war nicht so, wie ihr euch das heute vorstellt. Was hätte ich denn machen sollen?“

Der letzte Satz, so weiß ich heute, ist ein in unglücklichen Familien immer wiederkehrendes Diktum.
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hein

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Hallo He de Be,

man muss es zweimal lesen um die verschiedenen Zeitebenen und Personen zu verstehen. Ich hätte es gerne etwas strukturierter, aber das ist eben dem persönlichen Stil geschuldet.

Was mir auffällt: "Maria ist schon sechsundzwanzig". Wenn man 8 Jahre Schulzeit und 18 Jahre Arbeit fehlen mindestens 6 Jahre vor der Schule. Oder hat sie schon neben der Schule gearbeitet?

Lg.
Hein
 

He de Be

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Hallo Hein,

vielen herzlichen Dank für Deine Antwort.

Mir ist das Problem mit der Strukturierung leider auch aufgefallen. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte viel zu viele Seiten angehäuft, bei viel zu wenig Zeit, das alles noch mal in Ordnung zu bringen, wenigstens eine. (Habe deshalb die Abkürzung genommen und diesen Text in Kurzprosa eingestellt).

Mit der Frage nach der Arbeitszeit triffst du den Nagel übrigens auf den Kopf. Bei mir sticht man da in ein Wespennest, denn spätestens seit eine Kollegin vor Jahren folgenden Kalenderspruch auf ihrem Schreibtisch stehen hatte: "'Arbeit ist nun einmal die Miete, die wir fürs Leben zu zahlen haben', Queen Mother" - ging es bei mir wieder los mit dem Hirnzirkus, und zu den endlosen Diskussionen über den Arbeitsbegriff bei Marx, dem protestantischen Arbeitsethos und allen möglichen weiteren Aspekten des Begriffes "Arbeit" bis hin zu der Frage, ob das nicht auch bloß eine weitere Metapher sei, gesellte sich jetzt noch eine weitere hinzu .. .

Ich kürze wieder ab:
Ich habe die Zahl der Arbeitsjahre grob geschätzt. Sie überschneidet sich mit der für sie zu kurzen Schulzeit. Und nun fällt mir auch noch auf, dass sie so gesehen ja auch nie richtig am Krieg beteiligt war, schon gar nicht gegen Bezahlung.

Yoj, damit habe ich schon wieder ein ganz schönes Durcheinander angerichtet, was? Und dann auch noch so spät! Sorry. Arbeite gerade an meinem Meisterstück für die Fabbulistas.

Mit besten Grüßen,

Hedebe
 

He de Be

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„Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn..“.

'Warum tun sie es dann nicht', dachte sie, während sie laut mitsang und dabei die anderen Stimmen in ihrem Kopf widerhallten, die zittrigen Stimmen der alten Frauen, die wackligen der Kinder, die klaren Stimmen der jungen Frauen und die wenigen festen Männerstimmen. 'Es liebt mich keiner. Sie meinen alle nur 's Maria im Himmel, das ist auch einfacher,' und beinahe hätte sie, während sie das dachte, auch noch geseufzt.
Mitten im Lied.

Maria war schon sechsundzwanzig. Sie hatte acht Jahre Schule, vier Jahre Weltkrieg, 18 Jahre Arbeit und zwei Jahre Verlobung hinter sich, und nichts davon hatte ihr Glück gebracht. Von allem, das heißt vor allem, hatte sie sich erhofft, von da weg zu kommen, wo sie war. Und jetzt stand sie immer noch hier.
In der Kirche war es kalt.

Der September hatte plötzlich ein paar kühle und stürmische Regentage gebracht, aber noch wurde nicht geheizt, und sie hatte vergessen, ihre warme Wolljacke anzuziehen.
Einer hatte sie geliebt, und sie hatte ihn geliebt. Ich habe nie seinen Namen erfahren, und sie hatten sich wohl auch nie geküsst. Aber sie hatte sich Hoffnungen gemacht. Oder er ihr. Dass sie sich nie geküsst hatten, schlussfolgere ich aus einer ihrer Bemerkungen sehr viel später.

Sie war inzwischen alt. Wir saßen zu dritt, sie, ihr Sohn und ich, ihr Enkelkind, im Wohnzimmer und sahen fern. Es lief irgendein alter Hollywoodfilm mit einem schönen Filmkuss am Ende, in Großaufnahme.
Meine Großmutter seufzte plötzlich laut auf.
„Was ist?“ fragte mein Vater, der, halb genervt, halb lachend, sich noch nichts weiter dabei denken wollte.
„Ich habe noch nie im Leben geküsst“, brach es mit einem tiefen Seufzer aus ihr heraus.
„Was?!“ rief er und sprang vor Aufregung aus dem Sessel.
“Nein”, seufzte sie weiter, “noch nie”.

Ich blieb sitzen, sagte nichts. Staunte und dachte nach. Wie, fragte ich mich, passt das zusammen mit der Geschichte, die sie mir erzählt hatte von ihrem Verlobten? Der weg gezogen war ins Ruhrgebiet, um dort zu arbeiten und genug Geld zusammen zu sparen, um eine Familie mit ihr zu gründen? Der dann jedoch an Tuberkulose erkrankt war und gestorben? Der ihre große Liebe geblieben war, der Grund, aus dem sie niemals mehr einen anderen hatte anschauen wollen? Hatte sie den nie geküsst? Nicht einmal geküsst?! Und ihren späteren Ehemann, mit dem sie immerhin drei Kinder in die Welt gesetzt hat, den auch nicht?! Oje.
Kein Wunder, dass sie so viel seufzte.

„Ja hast du denn den Opa, deinen Mann, auch nie geküsst?“ frage ich sie später.
„Den? Um Himmels willen!“ rief sie.
„Warum habt ihr dann geheiratet?“ frage ich weiter.
„Ich wollte das doch nicht! Am liebsten hätte ich noch in der Kirche laut ‚Nein!’ gerufen, aber was sollte ich denn machen?!“
Ich nickte. Ich weiß auch nicht, was sie hätte machen sollen. Hätte sie nein sagen sollen? Dann gäbe es mich nicht. Aber in ihrem Interesse? In ihrem Interesse wäre ja sowieso alles ganz anders gewesen.

Jetzt aber ist auch das Damals nur noch ein Wenn.

„Und wenn du einfach ‚nein“ gesagt hättest?“ fragte ich.
„Ach, das ging doch damals gar nicht. Das war nicht so, wie ihr euch das heute vorstellt. Was hätte ich denn machen sollen?“

Der letzte Satz, so weiß ich jetzt, ist ein in unglücklichen Familien immer wiederkehrendes Diktum.
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