Sharky, die Engel und das Erzählerparadies

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Sharky, die Engel und das Erzählerparadies
Vorsichtig schließt er die Tür hinter sich. Ganz leise, behutsam, damit niemand hören kann, wie der Riegel in das Schloss schnappt.
Er horcht –nein, es sind keine Schritte oder sonstige Geräusche zu hören, die auf die Anwesenheit einer anderen Person schließen lassen.
Sharky bewegt sich nun zielstrebig auf den Altar zu.
Sharky, so haben sie ihn in der Schule genannt, weil er immer unbeirrt seine Ziele verfolgt hat.
Ein Schimpfwort? Pah! Ein Beiwort für einen starken Charakter. Er nennt sich oft insgeheim selbst bei diesem Namen, wenn er etwas unbedingt erreichen will. Intrinsische Motivation. Mach dich stark.
Und heute will er wieder etwas. Heute ist Versammlungstag. Er will dabei sein.
Um zwölf Uhr öffnen sie das Tor.

Er hat den Altarbereich schon dutzende Male betrachtet, bei jedem Besuch.
Er mag diesen einfachen Bankaltar mit der Platte aus Rotsandstein. Reduce to the max.
Er betrachtet die nach oben geschwungene Form der Apsis und stellt sich einen Mutterleib vor. Sicherheit und Neubeginn. Eine geniale Konstruktion.
Im Dach darüber hat der weise Baumeister ein Buntglasfenster eingelassen. Sechs Elemente sind kreisförmig, sich überlappend, um eine große, weiße Scheibe angelegt. Wie die Blütenblätter eine Blume. Er schmunzelt. Die Blume des Lebens; sie bringt Harmonie in das Bewusstsein des Betrachters.

Wie spät ist es? Zehn Minuten vor Zwölf. Er muss sich nun vorbereiten, muss seine Wahrnehmung öffnen, sonst kann er seine kleinen Helfer nicht sehen.
Er stellt seine Füße parallel auf, und er achtet auf seinen Atem.
Die parallele Fußstellung gibt dem Körper die größte Ausgewogenheit beim Stehen. Einstellung.
Einatmen, Atem anhalten, ausatmen. Durch den angehaltenen Atem kann der Sauerstoff länger in den Zellen zirkulieren. Frische.
Und Ruhe ist nötig. Dieser Kraftort vermittelt ihm die innere Ruhe.
So, jetzt ist er bereit.

Zwölf Uhr. Die Sonne scheint durch das Dachfenster über dem Altar.
Lichtfäden beginnen zu tanzen, immer schneller. Eine strahlende Wolke aus funkelnden Photonen breitet sich über ihm aus.
Jetzt steigen die Engel herab. Wie süß sie sind! Eine Schar von ihnen umringt ihn lächelnd. Sie heben ihn hoch über den Altar, hinauf in den oberen Bereich der Apsis.
Es kommt der synaptische Moment beim Durchgang durch das Tor. Der Moment, in dem es kurz dunkel wird. Er schließt die Augen. Er hat Angst vor der Dunkelheit.
Ein Engel stubst ihn vorsichtig, mitfühlend, an. Er kann die Augen wieder öffnen.

Es grünt und blüht, wohin er schaut. Die Erde ist erdbraun. Der Himmel strahlt himmelblau. Die Duftluft duftet.
Seine Ahnen winken ihn schon von weitem heran. Er soll sich zu ihnen setzen.
Heute treffen sie sich wieder, die Geschichtenerzähler.
Freudig eilt er zu ihnen. Was für ein Glück. Er ist wieder in seinem Erzählerparadies.
 



 
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