Sie essen wieder

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Mistralgitter

Mitglied
Er aß so sehr gerne Bratkartoffeln mit Spiegelei oder Strammer Max, wenn er unterwegs war. Deftig und herzhaft musste es sein. Salzig und fett. Das war noch vor der Zeit von Pizza und Currywurst.
Und wenn er nach Hause kam, brutzelte seine Frau für ihn im Backofen Toast Hawaii. Bis man vermutete, dass die Käsekruste krebserregend sei. Dann wich sie aus auf Pute mit Currysoße und einer kandierten Kirsche, deren Geschmack mit Bittermandelöl verstärkt war. Das Essen sollte einen Hauch von Genießertum und ausländischem Flair bekommen. Man zeigte gerne, dass man sich etwas leisten konnte nach den schlechten Jahren.

Seine Tochter wurde schwach bei Weißbrot mit viel Butter und Schokoladenstreusel. Das kannte sie von ihren Ferien in Holland. Bis man ihr sagte, das sei zu viel an Zucker und Fett. Davon würde man dick.
Der Vater wurde in seinen Kinderjahren mit weißem, heißem Mondaminbrei und einem Löffel Orangensaft darüber versorgt oder mit heißer Schokoladensuppe. Die löffelte er im Schlafanzug und Bademantel, schon im Bett sitzend nach dem samstäglichen Baden. Sehr warm wurde ihm dabei. Er war nie dick als Kind. Erst später. Trotz Sport. Jede Woche ging er in die Sauna. Einmal kam er nicht wieder. Die Bratkartoffeln und die Pute und den Toast aß dann ein Anderer.

Der Andere aß eben auch gerne Bratkartoffeln und Pute und Toast. Er mochte auch sauren Hering und manchmal Klöpse mit Kapernsoße. Die Mutter war froh, dass sie etwas zu essen hatten.

Die Tochter hatte sich nie an den Neuen gewöhnt. Sie aß wenig. Wenn sie auf dem Heimweg von der Schule warf, warf sie immer mal wieder ihre alten schimmeligen Brotreste, die sie in der Schultasche tagelang rumgeschleppt hatte, in hohem Bogen in die Kriegsruinen. Eines Tages wurden die Steinbrocken weggeräumt und man baute an diesem Platz die neue Synagoge. Jedes Mal, wenn sie wieder einmal vorbeikam, dachte sie an die Vielzahl der Brote, die sie dort verenden ließ. Später trug sie hochhackige Schuhe und lackierte die Fingernägel knallrot. Passend zum Lippenstift. Dann zog sie los und kam auch nicht wieder.

Nur die Mutter ist geblieben, wo sie immer war. Sie kochte nie so besonders gerne. Der Neue brachte oft viel Kohl mit. Den gab es billig. Oder Rüben. Die karamellisierten so angenehm im Topf mit Zucker. Dazu Stampfkartoffeln und heiße Fleischwurst.

Am Samstag hörte er am Radio die Fußballübertragung. Da durfte ihn niemand stören. Es war eigentlich niemand da, der ihn stören konnte. Außer der Mutter. Die Mutter war jedoch leise, ging schweigsam in den Keller und überprüfte die Gummiringe an den Einweckgläsern, ob sie noch dicht hielten. Und sie schaute nach, ob noch genügend Kohlen zum Heizen da waren. Und wenn sie wieder hoch kam, brachte sie ihm ein Bier mit und setzte sich in die Küche und stopfte die Löcher in den Socken, den Unterhemden und Unterhosen oder zog neue Gummibänder ein. Sie hatte keine Zeit und kein Interesse für Fußball.

Er lehnte sich danach gegen Abend aus dem Fenster und rauchte seine Pfeife. Vielleicht beobachtete er, wer vorbei ging. Man konnte es nicht wissen. Vielleicht kannte er die Leute, aber er grüßte nie. Was hatte er auch davon?
 
Überzeugendes Zeitbild von damals via Essen und Fußball. (Und hat sich denn insoweit seitdem so viel geändert?) Das Ganze liest sich ein bisschen wie die gastronomische Paraphrase eines Fassbinder-Filmes, der in den 50er Jahren angesiedelt ist.

Ja, und diese Mutter ... So waren sie wirklich damals. Inzwischen so gut wie ausgestorben. Nur gemampft wird noch immer.

Allerdings würde ich den Rückblick auf die Kindheit des Vaters im Plusquamperfekt abhandeln.

Freundlichen Abendgruß
Arno Abendschön
 

Mistralgitter

Mitglied
Guten Morgen Arno Abendschön,
Danke für die ausführliche Rückmeldung.
Es ist sicher einmal lohnend, näher zu bestimmen, was sich geändert hat seit damals. Ich selber kann das nur aus der Froschperspektive innerhalb der näheren Umgebung. Jedenfalls fühlt es sich anders an, wenn ich mich an diese Zeit erinnere. Einen Fassbinderfilm habe ich dabei nicht vor Augen gehabt.
Den Hinweis auf das Plusquamperfekt finde ich sehr hilfreich und werde ihn verarbeiten.
Viele Grüße
Mistralgitter
 

Mistralgitter

Mitglied
Er aß so sehr gerne Bratkartoffeln mit Spiegelei oder Strammer Max, wenn er unterwegs war. Deftig und herzhaft musste es sein. Salzig und fett. Das war noch vor der Zeit von Pizza und Currywurst.
Und wenn er nach Hause kam, brutzelte seine Frau für ihn im Backofen Toast Hawaii. Bis man vermutete, dass die Käsekruste krebserregend sei. Dann wich sie aus auf Pute mit Currysoße und einer kandierten Kirsche, deren Geschmack mit Bittermandelöl verstärkt war. Das Essen sollte einen Hauch von Genießertum und ausländischem Flair bekommen. Man zeigte gerne, dass man sich etwas leisten konnte nach den schlechten Jahren.

Seine Tochter wurde schwach bei Weißbrot mit viel Butter und Schokoladenstreusel. Das kannte sie von ihren Ferien in Holland. Bis man ihr sagte, das sei zu viel an Zucker und Fett. Davon würde man dick.

Der Vater jedoch war in seinen Kinderjahren mit weißem, heißem Mondaminbrei und einem Löffel Orangensaft darüber versorgt worden oder mit heißer Schokoladensuppe. Die hatte er im Schlafanzug und Bademantel gelöffelt, schon im Bett sitzend nach dem samstäglichen Baden. Sehr warm war ihm dabei geworden. Er war nie dick als Kind. Erst später. Trotz Sport. Jede Woche ging er in die Sauna. Einmal kam er nicht wieder. Die Bratkartoffeln und die Pute und den Toast aß dann ein Anderer.

Der Andere aß eben auch gerne Bratkartoffeln und Pute und Toast. Er mochte auch sauren Hering und manchmal Klöpse mit Kapernsoße. Die Mutter war froh, dass sie etwas zu essen hatten.

Die Tochter hatte sich nie an den Neuen gewöhnt. Sie aß wenig. Wenn sie auf dem Heimweg von der Schule warf, warf sie immer mal wieder ihre alten schimmeligen Brotreste, die sie in der Schultasche tagelang rumgeschleppt hatte, in hohem Bogen in die Kriegsruinen. Eines Tages wurden die Steinbrocken weggeräumt und man baute an diesem Platz die neue Synagoge. Jedes Mal, wenn sie wieder einmal vorbeikam, dachte sie an die Vielzahl der Brote, die sie dort verenden ließ. Später trug sie hochhackige Schuhe und lackierte die Fingernägel knallrot. Passend zum Lippenstift. Dann zog sie los und kam auch nicht wieder.

Nur die Mutter ist geblieben, wo sie immer war. Sie kochte nie so besonders gerne. Der Neue brachte oft viel Kohl mit. Den gab es billig. Oder Rüben. Die karamellisierten so angenehm im Topf mit Zucker. Dazu Stampfkartoffeln und heiße Fleischwurst.

Am Samstag hörte er am Radio die Fußballübertragung. Da durfte ihn niemand stören. Es war eigentlich niemand da, der ihn stören konnte. Außer der Mutter. Die Mutter war jedoch leise, ging schweigsam in den Keller und überprüfte die Gummiringe an den Einweckgläsern, ob sie noch dicht hielten. Und sie schaute nach, ob noch genügend Kohlen zum Heizen da waren. Und wenn sie wieder hoch kam, brachte sie ihm ein Bier mit und setzte sich in die Küche und stopfte die Löcher in den Socken, den Unterhemden und Unterhosen oder zog neue Gummibänder ein. Sie hatte keine Zeit und kein Interesse für Fußball.

Er lehnte sich danach gegen Abend aus dem Fenster und rauchte seine Pfeife. Vielleicht beobachtete er, wer vorbei ging. Man konnte es nicht wissen. Vielleicht kannte er die Leute, aber er grüßte nie. Was hatte er auch davon?
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

ein netter kleiner Text der, hier schließe ich mich meinem Vorredner an, das Leben im Nachkriegsdeutschland vor allem kulinarisch reflektiert.
Sprachlich finde ich den Text ebenfalls gelungen und an keiner Stelle langweilig.
Da hier ja nicht nur gelobt, sondern auch ein wenig konstruktive Kritik geübt werden soll habe ich auch noch ein paar kleine Anmerkungen, die allerdings eher subjektiver Natur sind.

Ich finde den Übergang zum "Er" in Bezug auf den Neuen, den du in den letzten beiden Abschnitten vornimmst nicht ganz passend. Da dein Protagonist(Vater) keinen Namen hat, sondern ebenfalls mit Er eingeführt wird, ist diese Wendung meines Erachtens bereits belegt. Ich würde daher auch in den letzten beiden Abschnitten "Der Andere" beibehalten, da dies im restlichen Text das Unterscheidungsmerkmal der beiden männlichen Protagonisten ist.


Und wenn sie wieder hoch kam, brachte sie ihm ein Bier mit und setzte sich in die Küche und stopfte die Löcher in den Socken ...
Hier würde ich auch das erste und verzichten so vermeidest du die Dopplung, sollte sie nicht intendiert gewesen sein.

Sie hatte keine Zeit und kein Interesse für Fußball.
Hier müsste es für mich eher an statt für halten, der Satz funktioniert trotzdem und wirkt für mich runder.

Insgesamt ist es aber trotz gut gemeinter Kritik ein gelungener Text


Beste Grüße

Blumenberg
 

Mistralgitter

Mitglied
Danke, Blumenberg, für die Vorschläge, aber auch für das Lob. Ich freu mich darüber, wenn ein Text Anklang findet.

Sicher hast du Recht - an der Stelle mit der Mutter häufen sich die "Unds". Ich könnte, wenn ich wollte, daran schleifen, sie alle ersetzen und aus den bisherigen Sätzen "schöne" Sätze machen. Bis jetzt aber möchte ich bei diesem etwas ungeschliffenen Tonfall bleiben, weil ich meine, er passt besser zum Inhalt des Textes als ein ausgefeilter Schreibstil - mein Empfinden kann sich aber im Laufe der Zeit ändern. Vielleicht ändere ich es. Ich lass die Entscheidung noch mal offen.

Deinen zweiten Einwand müsstest du noch einmal überlesen - irgendwie versteh ich nicht, was du meinst. Vielleicht haben sich da "Fehlschaltungen" bei der Worteingabe ergeben.

LG Mistralgitter
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo nochmal,

da hat sich in der Tat der Fehlerteufel eingeschlichen. Was ich meinte wäre folgende Variante:
Sie hatte keine Zeit und kein Interesse an Fußball oder Sie hatte keine Zeit und interessierte sich nicht für Fußball.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Mistralgitter

Mitglied
Danke für die Nachricht.
Ja, da liegt also auch noch so ein Schwachpunkt - das "für" ist im Zusammenhang mit "Interesse" nicht so ganz glücklich.
"Zeit für..."
"Interesse an ..."
--- ich weiß. Mal sehen...
 

Mistralgitter

Mitglied
Er aß so sehr gerne Bratkartoffeln mit Spiegelei oder Strammer Max, wenn er unterwegs war. Deftig und herzhaft musste es sein. Salzig und fett. Das war noch vor der Zeit von Pizza und Currywurst.
Und wenn er nach Hause kam, brutzelte seine Frau für ihn im Backofen Toast Hawaii. Bis man vermutete, dass die Käsekruste krebserregend sei. Dann wich sie aus auf Pute mit Currysoße und einer kandierten Kirsche, deren Geschmack mit Bittermandelöl verstärkt war. Das Essen sollte einen Hauch von Genießertum und ausländischem Flair bekommen. Man zeigte gerne, dass man sich etwas leisten konnte nach den schlechten Jahren.

Seine Tochter wurde schwach bei Weißbrot mit viel Butter und Schokoladenstreusel. Das kannte sie von ihren Ferien in Holland. Bis man ihr sagte, das sei zu viel an Zucker und Fett. Davon würde man dick.

Der Vater jedoch war in seinen Kinderjahren mit weißem, heißem Mondaminbrei und einem Löffel Orangensaft darüber versorgt worden oder mit heißer Schokoladensuppe. Die hatte er im Schlafanzug und Bademantel gelöffelt, schon im Bett sitzend nach dem samstäglichen Baden. Sehr warm war ihm dabei geworden. Er war nie dick als Kind. Erst später. Trotz Sport. Jede Woche ging er in die Sauna. Einmal kam er nicht wieder. Die Bratkartoffeln und die Pute und den Toast aß dann ein Anderer.

Der Andere aß eben auch gerne Bratkartoffeln und Pute und Toast. Er mochte auch sauren Hering und manchmal Klöpse mit Kapernsoße. Die Mutter war froh, dass sie etwas zu essen hatten.

Die Tochter hatte sich nie an den Neuen gewöhnt. Sie aß wenig. Wenn sie auf dem Heimweg von der Schule war, warf sie gelegentlich ihre alten schimmeligen Brotreste, die sie in der Schultasche tagelang rumgeschleppt hatte, in hohem Bogen in die Kriegsruinen. Eines Tages wurden die Steinbrocken weggeräumt und man baute an diesem Platz die neue Synagoge. Jedes Mal, wenn sie wieder vorbeikam, dachte sie an die Vielzahl der Brote, die sie dort verenden ließ. Später trug sie hochhackige Schuhe und lackierte die Fingernägel knallrot. Passend zum Lippenstift. Dann zog sie los und kam auch nicht wieder.

Nur die Mutter ist geblieben, wo sie immer war. Sie kochte nie so besonders gerne. Der Neue brachte oft viel Kohl mit. Den gab es billig. Oder Rüben. Die karamellisierten so angenehm im Topf mit Zucker. Dazu Stampfkartoffeln und heiße Fleischwurst.

Am Samstag hörte er am Radio die Fußballübertragung. Da durfte ihn niemand stören. Es war eigentlich niemand da, der ihn stören konnte. Außer der Mutter. Die Mutter war jedoch leise, ging schweigsam in den Keller und überprüfte die Gummiringe an den Einweckgläsern, ob sie noch dicht hielten. Und sie schaute nach, ob noch genügend Kohlen zum Heizen da waren. Und wenn sie wieder hoch kam, brachte sie ihm ein Bier mit und setzte sich in die Küche und stopfte die Löcher in den Socken, den Unterhemden und Unterhosen oder zog neue Gummibänder ein. Sie hatte keine Zeit und kein Interesse für Fußball.

Er lehnte sich danach gegen Abend aus dem Fenster und rauchte seine Pfeife. Vielleicht beobachtete er, wer vorbei ging. Man konnte es nicht wissen. Vielleicht kannte er die Leute, aber er grüßte nie. Was hatte er auch davon?
 



 
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