Sieben Jahre

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Substitut

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Es war bereits dunkel als sie in die zugewucherte Einfahrt bog. Früher einmal war Deephill Manor ein herrschaftlicher Landsitz gewesen. Nun war er umgeben von unbeschnittenen Tannen und hochgewachsenem Gras. Die Natur holt sich früher oder später alles zurück, schoss es ihr durch den Kopf als sie die vertrauten Umrisse des alten Familienbesitzes durch den grauen Nebelschleier betrachtete. Ein letztes Mal wollte sie Deephill Manor betrachten, sich nur noch ein Mal von seiner früheren Schönheit blenden lassen.

Aus dem angrenzenden Waldstück schrie eine Eule. Es war ein einsamer Laut zwischen den zirpenden Zikaden und dem Rascheln der Pflanzen im Wind. Vor nicht einmal fünfzehn Jahren wurden in diesem Garten noch Picknicks und Feste veranstaltet. Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit ihrer Großmutter im Schatten einer großen Tanne gesessen hatte. Stundenlang hatten sie kein Wort gesprochen, nur den Geräuschen der Umgebung gelauscht. Wahrscheinlich hätten sie bis spät in die Nacht dort gesessen, wenn ihr Großvater sie nicht zum Essen gerufen hätte. Deephill Manor war schon immer schön gewesen und selbst der seit dem Tod ihrer Großeltern eingetretene Verfall hatte dem keinen Abbruch getan.

Nachdenklich lies sie sich ins Gras fallen und sah hinauf in den Himmel. Sie spürte die eiskalte Hand, die sich um ihr Herz gelegt hatte. Zum letzten Mal würde sie den Sternenhimmel über Deephill Manor betrachten. Nichts hatte sie auf diesen Moment des Abschieds vorbereiten können. Hier war sie daheim gewesen. Zwar hatte sie immer nur die Ferien auf dem Landsitz verbracht, aber nirgends fühlte sie sich so zu Hause. Erinnerungen an vergangene Tage brachen über sie herein und sie lies sie gewähren. Ein Frühstück auf der Terrasse an einem sonnigen Tag im Mai, die Vielfalt der Farben im Oktober, ein blutüberströmtes Kind auf der Straße vor dem Haus im Februar. Tränen liefen ihr über die Wangen als sie an den schicksalhaften Tag dachte.

Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hatte einem kleinen Mädchen das Leben gekostet. Immer wieder hörte sie das Geräusch des Aufpralls auf der Motorhaube, hatte den unverkennbaren Geruch von Blut in der Nase. Kein Psychiater konnte ihr die Schuld nehmen, die sie auf ihren Schultern trug. Sie hatte das Leben eines Kindes auf dem Gewissen, daran würden auch die, wie sie vom Gericht betitelt wurden, mildernden Umstände nichts ändern. Sieben Jahre war das nun her, auf den Tag genau sieben Jahre. Aus ihrer Hosentasche holte sie den Zeitungsartikel, der sie Tag für Tag begleitete, um ihr ins Gewissen zu rufen, was für eine schreckliche Tat sie begangen hatte. Sieben Jahre Schmerz hatte sie sich aufgebürdet, sieben Jahre lang hatte sie Buße getan. Nun war ihre Zeit um. Einer ihrer Psychiater hatte ihr dazu geraten, sie solle solange den Schmerz zulassen, bis dieser Zeitraum der Lebenszeit des kleinen Mädchens entsprach. Danach solle sie loslassen. So hatte er es gesagt.

Sieben Jahre waren vergangen und kein Tag war darunter, an dem sie den erstickenden Druck der Schuld nicht spürte. Jetzt war es an der Zeit loszulassen. Mit einem letzten Blick auf Deephil Manor nahm sie den Revolver aus ihrer Handtasche, setzte ihn an ihre Schläfe und drückte ab. Nur der einsame Ruf einer Eule hallte als Echo des Schusses aus dem Wald zurück.
 
U

USch

Gast
Hallo Substitut,
klar und präzise geschriebener Text, der mir gut gefallen hat.
Das Loslassen dauert manchmal noch viel länger, manche schaffens nie. Der Psychiater mit seiner Vorgabe [blue]sieben Jahre[/blue] tickte wohl nicht ganz richtig. Das muss ein Anthroposoph gewesen sein. die denken in Siebenjahresrhythmen, in den jeweils eine Wandlung stattfindet.

Zwei kleine Fehler fielen mir auf:

Nachdenklich [red][strike]lies [/strike][/red][blue]ließ [/blue]sie sich ins Gras fallen und sah hinauf in den Himmel.
Erinnerungen an vergangene Tage brachen über sie herein und sie [red][strike]lies [/strike][/red][blue]ließ [/blue]sie gewähren.
LG USch
 
U

USch

Gast
Hallo Elke,
Sieben Jahre waren vergangen und kein Tag war darunter, an dem sie den erstickenden Druck der Schuld nicht spürte. Jetzt war es an der Zeit loszulassen.
Das Fatale ist doch, dass sie gerade nach sieben Jahren ihren Suizid begeht - die radikalste Wandlung, die denkbar ist, der Übergang vom Leben in den Tod.
Aber das mit dem Anthroposophen ist ja nicht der Kern der Geschichte. Fiel mir nur so ein wegen der Sieben-Jahrerhythmen in deren Glaubensphilosophie. Wenn ich dir mit der Bemerkung zu nahe getreten bin, dann sorry.
LG USch
 

ENachtigall

Mitglied
Die Geschichte zeigt sehr schön, dass es keine universell gültigen Rezepte gegen Schuldgefühle und Lebenskrisen gibt. Hier wird krass verdeutlicht, dass die "Behandlung" destruktiv ausgerichtet war, was genau genommen nicht verwunderlich ist. Wer würde nicht daran zugrunde gehen, sich sieben Jahre der Schwere des Schuldgefühls auszusetzen?

(Usch: ich wollte nur aufzeigen, dass die 7 nichts mit der Anschauung des Psychiaters oder Therapeuten zu tun hat, sondern im Text steht, warum dieser genau den Zeitraum gewählt hat.)
 



 
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