Siebtes Märchen: Von den Geschichten, die einen Erzähler brauchen

VikSo

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Siebtes Märchen: Von den Geschichten, die einen Erzähler brauchen

Kai lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, schief auf den Kissen zusammengesunken, ein Fuß auf dem Boden hängend. Eine Wolldecke war halb über ihn gebreitet. Seine Gelenke knackten steif bei jeder Bewegung. Sein Kopf fühlte sich an wie ein mit Wasser gefüllter Ballon und seine Augen waren verklebt. Viola beobachtete ihn von einem Hocker gegenüber mit fachlichem Interesse.
„Brdlgrm?“, grunzte Kai.
„Ich wollte dich nicht wecken. Du schienst sehr spannd zu träumen.“
„Mmh.“
„Hier, trink einen Schluck Wasser? Worum ging es denn?“
„?“
„In deinem Traum. Was ist passiert?“
Was genau geht dich Verrückte das eigentlich an?, überlegte Kai. Dann erzählte er ihr mit kratziger Stimme alles, woran er sich erinnern konnte.
Viola runzelte die schmale Stirn. Nachdenklich ließ sie den Blick über sein Gesicht, seinen Oberkörper, seine Hände, das Sofa und den Tisch gleiten. An der Teetasse blieben ihre Augen hängen. „Was genau hast du getrunken? Wein aus einer Tasse?“
Das Kopfschütteln machte Kai schwindelig. „Tee.“
„Ah!“ Verstehend hellte sich das Gesicht der jungen Frau auf. „Du hast Maria besucht.“
Das hat sie geraten. „Ach richtig. Ich soll dir Grüße ausrichten. Ihr seid befreundet?“
„Nicht direkt.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Aufgelöst... Die Tiere haben sich aufgelöst? Und auch der Baum?“
„Ja.“ Kai kratze sich am Hinterkopf. „Wahrscheinlich ein Signal meines Unterbewusstseins, dass ich im Begriff war, aufzuwachen.“ Er stöhnte. „Ich hätte dieses Gebräu nicht trinken sollen. Der Laden kam mir gleich so seltsam vor. Wer weiß, welche halluzinogenen Stoffe diese Hexe da zusammen gemischt hat.“
„Maria weiß schon, was sie tut.“, murmelte Viola abwesend. Ihr Blick hing verträumt an einem Eckchen der Wolldecke. „Übrigens – hat sie dich nicht gewarnt? Es ist nicht ungewöhnlich, dass Hexensude prophetische Träume hervorrufen. Allerdings können sie einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen, wenn sie zum falschen Zeitpunkt eingenommen werden.“
Allerdings. „Du fängst aber jetzt bitte nicht schon wieder mit deinen Märchen an. Hexen, prophetische Träume – Ich glaube eher, die Dame handelt mit illegalen Substanzen. Und das du davon weißt und als Ärztin nichts unternimmst, macht die Sache nicht besser.“
„Übertreib bitte nicht. Für eine Hexe ist Maria recht gutartig. Sie ist allein hierher gezogen, was ungewöhnlich ist. Soweit ich weiß, gab es da ein Zerwürfnis mit ihrer Familie. Wie dem auch sei: Seit sie hier lebt, hat sie noch niemandem geschadet. Zumindest niemandem, der es nicht verdient hätte. Deswegen lassen wir sie hier bleiben.“
Der es nicht verdient hat? Das ist ja sehr beruhigend. „Wer ist wir?“
„Nun, die Magischen des Ortes natürlich.“
Und schon wieder sind wir beim Thema. „Hör mal, es ist wirklich ein Vergnügen, sich mit dir zu unterhalten. Aber mein Kopf fühlt sich an wie ein weich gekochter Kürbis und dieses Sofa ist definitiv nicht zum Schlafen geeignet. Ich gehe jetzt ins Bett.“
„Du glaubst mir noch immer nicht. Das ist hinderlich. Je eher du die Wahrheit einsiehst, desto besser für uns alle.“
Kai sank auf die Couch zurück. „Hör mal, du musst doch einsehen, dass das alles Unsinn ist. Hexen, Feen, Erzähler und so weiter – das alles sind die Märchen eines alten Mannes. Zugegeben, es sind schöne Märchen. Sie gehören zu meiner Kindheit und ich denke gern daran zurück. Aber jetzt bin ich – und du übrigens auch – erwachsen.“ Er seufzte müde. „Alles, was ich möchte, ist diese Sache hier schnell abzuwickeln, einen guten Job zu finden und ein vernünftiges Leben zu führen.“
„Tut mir leid, aber Vernunft wird in deinem zukünftigen Leben eine sehr geringe Rolle spielen, zumindest nach der menschlichen Definition des Wortes.“
Für so eine zierliche Person ist sie erschreckend energisch.
„Du hast das Erbe deines Großvaters angenommen. Damit hast du auch eine gewisse Verantwortung akzeptiert.“ Sie senkte ihre Stimme und beugte sich angespannt vor. „Hast du eine Vorstellung, was passiert, wenn wir einen weiteren aus den Reihen der Erzähler verlieren?“
„Ich riskiere den Weltfrieden?“ Kai erinnerte sich an sein Lieblingsmärchen.
„Unter anderem. In deinem Traum hast du aber noch mehr vorausgesehen. Verstehst du nicht? Füchse, Raben, Schnecken, die Trauerweide – das sind Symbole für die vier magischen Völker. Sie lösen sich auf – wir lösen uns auf. Wir verschwinden von dieser Erde. Einfach so.“
„Im Moment wirkst du auf mich ziemlich massiv. Und außerdem: Wie viele Erzähler gibt es auf der Welt? Ein paar Millionen? Was macht es schon, wenn ich den Dienst quittiere?“
„10.“ Ihre Antwort kam ruhig und präzise. „Es gibt noch genau 10 Erzähler auf dieser Welt. Echte Erzähler meine ich, nicht irgendwelche Schriftsteller, die keinen Kontakt mehr zu uns haben. Früher waren es hunderte, tausende. Ein guter Schnitt, gemessen an der damaligen Weltbevölkerung.“
Kai schluckte. „Was ist mit ihnen geschehen?“
Sie zuckte die Schultern. „Nichts besonderes. Die Alten sterben, die Jungen haben kein Interesse. Oder noch schlimmer, ihnen fehlt der Glaube. Seit etwa 300 Jahren geht die Zahl der Erzähler stetig zurück. Und soll ich dir was sagen?“ Ihre Augen bohrten sich in seine. „Auch wir Magischen sterben aus.“ Sie erhob sich von dem Hocker und begann, die kleinen Hände in den Hosentaschen, im Zimmer auf und ab zu laufen. „Vor 300 Jahren – auch noch nach Beginn der Aufklärung – hatten wir noch einen Anteil von etwa 20 Prozent an der Weltbevölkerung. Zwerge, Feen, Elfen und Kobolde; Mischlinge mit Menschen nicht mitgerechnet. Auf jedem Kontinent der Erde waren wir vertreten. Es gab sogar ein paar von uns in den entlegensten Gegenden der Welt, bis hin zu den Inuit. Seitdem ist unsere Zahl stetig zurück gegangen, allein in den letzten 100 Jahren um mehrere Millionen. Daran haben natürlich auch die großen Kriege Schuld. Aber im Gegensatz zu den Menschen hat sich unsere Population davon nicht wieder erholt. Wir bekamen nicht genug Kinder um den Verlust auszugleichen. Genau genommen zeugen wir nicht einmal mehr genug Nachkommen, um unsere Zahl stabil zu halten. Inzwischen existieren in Amerika und in Asien keine mehr von uns. Die stärksten Gemeinschaften gibt es noch in Afrika und Mittelaustralien. In ganz Europa sind in den letzten zwölf Monaten gerade einmal zehn von uns geboren worden. Gestorben sind 25. Rechne selbst nach, was das auf lange Sicht bedeutet.“
Führt die Frau irgendwo eine Strichliste?
„Die königliche Universität der Elfen beobachtet dieses Phänomen sei Jahren. Ich selbst stehe in ständigem Kontakt mit Professor Elder, dem Leiter der Untersuchungskommission.“
„Du selbst bist demnach eine Elfe?“
„Gewiss.“ Sie zuckte ungeduldig die Schultern. „Darum geht es jetzt aber nicht. Das Thema ist, dass du deiner Aufgabe nachkommen musst, sonst gibt es meinesgleichen bald nicht mehr.“
„Du meinst also, ich soll mich hauptberuflich mit dem Erzählen von Kindergeschichten beschäftigen?“
„Das wird nicht reichen.“ Ihre roten Locken flogen hin und her, als sie den Kopf schüttelte. „Nein, um dieses Problem zu lösen brauchten wir schon etwas stärkeres als diese Geschichten nur zu reproduzieren. Es fehlen ein paar völlig neue Geschichten.“
Da lachte Kai herzhaft. „Entschuldige, aber wenn du mich ein bisschen kennen würdest, wüsstest du, wie abwegig das ist. Ich bin Physiker, Wissenschaftler, Logiker. Im Umkreis von 100 Kilometern bin ich mit Abstand der unkreativste Mensch. Wirklich, nicht einmal meine wissenschaftlichen Arbeiten sind angenehm zu lesen, und da weiß ich, wovon ich rede.“
„Wer hat denn gesagt, dass du sie erfindest?“ Ihre Stirn runzelte sich angestrengt. „Keine dieser Geschichten ist erfunden. Alles was du tun musst, ist, die neuen Märchen ausfindig zu machen.“ Plötzlich ließ sie sich vor ihm auf die Knie nieder. Ihre Finger krallten sich um seinen Oberarm. „Sprich mit Leuten von unseren Völkern. Hör die ihre Lebensgeschichten an, ihr Geschwätz, von mir aus ihre Klatschgeschichten. Irgendwo müssen Märchen stecken, die bisher noch nicht an die Öffentlichkeit gekommen sind. Durchwühle sämtliche Bibliotheken der magischen und der nicht magischen Welt. Vielleicht findet sich in irgendeiner Chronik die Andeutung auf eine Begebenheit, die ans Licht kommen will. Egal was du tust – bring der Welt ihre Geschichten zurück.“
Immer noch hielten ihre Hände seine Oberarme fest umschlossen. Ihr Gesicht war dem seinen bis auf wenige Zentimeter nahe. Er überlegte einen Moment. Dann machte er sich vorsichtig los und nahm behutsam ihre Hände in seine. Seine Stimme war leise und warm, als er erklärte: „Viola, es tut mir sehr leid. Aber was du da redest, ist Unsinn. Ich kenne die Märchen meines Großvaters. Es gab eine Zeit, da hätte ich sie auswendig rezitieren können. Als Kind liebte ich diese Geschichten. Doch ich bin kein Kind mehr und ich kann sie nur noch als das betrachten, was sie sind: Märchen, von vorne bis hinten erfunden – zugegebenermaßen von sehr begabten Dichtern. Vielleicht hast du ja einen etwas abwegigen Sinn für Humor. Möglicherweise glaubst du auch alles, was du da sagst. Aber auf keinen Fall werde ich mein Leben aufgeben und losziehen, die Schwatzereien alter Weiber aufzuschreiben.“ Er erhob sich. „Ich verbinde zahllose Erinnerungen mit diesem Haus. Deswegen werde ich hier ein Jahr wohnen bleiben, so wie es das Testament verlangt. In der Zwischenzeit kann ich meine Doktorarbeit zu Ende schreiben und ein paar wissenschaftliche Aufsätze verfassen. Du kannst hier wohnen, so lange du willst. Ich mag dich und ich unterhalte mich gerne mit dir. Nur tu mir einen Gefallen: Verschone mich in Zukunft mit deinen seltsamen Theorien und mit deinen Forderungen.“
Damit machte er kehrt und ging zügig zur Treppe. Den ganzen Weg bis in sein Zimmer spürte er ihren durchdringenden Blick im Rücken.
Das war eine völlig vernünftige Antwort, die ich ihr da gegeben habe. Nichts, das ich mir vorzuwerfen hätte. Nein, ich muss kein schlechtes Gewissen haben. Sie wird sich schon wieder beruhigen. Ich gehe jetzt ins Bett und morgen telefoniere ich zuallererst mit meinem Vermieter und kündige die Wohnung. Genau so mache ich es. Genau so.
Das dachte Kai, während er sich aus seinen muffigen Sachen schälte und in den Pyjama schlüpfte. Gähnend und mit drückendem Kopf kroch er unter die Bettdecke. Er räkelte sich, drehte sich einmal auf die linke und einmal auf die rechte Seite. Dann war er eingeschlafen. Er schlief durch bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr.
Dann erwachte er. Seine Glieder waren Steif und fühlten sich unangenehm kalt an. Erst während er sich blinzelnd die Augen rieb, wurde ihm klar, dass er in seinem Vorgarten lag.
 



 
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