Siebzehntes Märchen: Vom Rat der Vier

VikSo

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Siebzehntes Märchen: Vom Rat der Vier

Als Kai geendet hatte, fühlte er Marias beobachtenden Blick auf sich ruhen. Unsicher fragte er: „Was ist? Habe ich einen Fehler gemacht? Stimmte die Erzählung nicht?“
„Doch.“, meinte die Hexe und biss in einen Butterkeks, von dem Kai nicht gewusst hatte, dass er sich im Haus, geschweigedenn auf ihrem Teller befand. „Sie stimmte. Sie stimmte sogar auffallend. Wortwörtlich, von vorne bis hinten. Genauso steht sie im Buch der Erzähler.“
„Mag sein.“ Kai räusperte sich. „Erstaunlich, was man aus seiner Kindheit alles im Gedächtnis behält.“ Er überlegte. „Du willst mir also sagen, Viola hätte eine Botschaft von einem magischen König erhalten, der sie empfangen will.“
„Das trifft es nicht vollkommen, aber das Wesentliche hast du begriffen.“
„Also schön, von mir aus. Dann erscheint sie heute Nacht also auf ihrer Audienz, während ich mich endlich einmal ausschlafen kann.“
Maria schüttelte den Kopf. „Sie erscheint ist in diesem Fall der falsche Ausdruck. Wir werden dorthin gehen.“
„Ihr beide? Will sie dich mitnehmen?“
„Nein.“, erklärte sein Gegenüber ruhig. „Wir – Viola, du, ich und Georgi. Wobei Georgi und ich diese Gastfreundschaft wohl hauptsächlich dem Kelpie in meinem Badezimmer zu verdanken haben.“
„Moment mal!“ Gegen seinen Willen sprang Kai auf. „Da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich beachsichtige, um Mitternacht nirgendwo anders hinzugehen als in mein Bett und meinen Kopf tief in meinem Kissen zu vergraben, wo ich nichts hören muss von Kelpies und Kobolden. Tut mir leid, aber dieses Spiel geht mir zu weit!“
„Du hast den Brief doch gelesen.“ Marias Stimme klang nachsichtig, als spräche sie mit einem bockigen Kind. „Seine Majestät lädt ausdrücklich alle ein. Ich fürchte, dir bleibt da wenig Entscheidungsspielraum. In den Rat der Vier vorgelassen zu werden, gilt als hohe Ehre.“
„In den was?“, prustete Kai heraus.
In diesem Moment klingelte es an der Tür.
„Oh, würdest du bitte öffnen?“, sagte Maria leichthin. „Das ist der Pizzabote mit unserem Mittagessen.“
Zu dumpf um zu fragen, wann genau während der vergangenen Stunde Maria Zeit gehabt hatte, eine Pizza zu bestellen, gehorchte Kai. Vor der Tür wartete eine Frau in grüner Cordhose und roter Allwetterjacke mit der Aufschrift „Italiano Ingrid“. Mit der Zunge ein Bonbon von einer Backe in die andere schiebend, reichte sie Kai wortlos den Pizzakarton. Er bezahlte und kehrte in die Küche zurück. In der Zwischenzeit hatte Maria den Tisch mit zwei Tellern gedeckt und saß schon wieder an ihrem Platz, als hätte sie sich nie wegbewegt.
Wenn ich nicht so ein logischer Mensch wäre, dachte er, würde mich das wirklich beunruhigen.
Vorsichtshalber dachte er aber nicht weiter darüber nach, sondern öffnete den Karton und bot seiner Tischnachbarin das erste Stück an. Dann bediente er sich selbst und kam auf seine Frage zurück: „Du erwähntest einen Rat der...“
„Der Rat der Vier.“, erklärte Maria geduldig, während sie das Pizzastück in ihrer Hand eingehend studierte. „Das oberste Gremium der magischen Welt, wenn du so willst. Eine Versammlung, die nur aus den vier magischen Königen besteht und denen, die sie belieben einzuladen. In der Regel treffen sie sich immer am Altjahrsabend zu einer Art Jahreshauptversammlung und begehen anschließend gemeinsam mit einer Auswahl geladener Gäste die Silvesterfeier. Danach geht jeder wieder für zwölf Monate seiner Wege und kümmert sich um seine Angelegenheiten. Es sei denn natürlich, ein Notfall tritt ein.“
„Wie beispielsweise ein Kelpie?“
„Ich bezweifle, dass es allein um den Kelpie geht. Diese Treffen außerhalb der Ordnung sind ziemlich selten.“
„Wie oft gab es sie denn schon?“
„Gerechnet vom Gründungsjahr des Rates? Nun, dass waren ca. 1200 Jahre, lass mich nachzählen... Fünf.“
„Oh.“
„Der letzte außerplanmäßige Rat fand soweit ich weiß 1941 statt. Damals beschloss man, dass die USA in den 2. Weltkrieg eintreten sollten, um den Nazis ein wenig – nun, Feuer unterm Hintern zu machen.“
„Moment mal, soweit ich weiß, hatte das doch eher mit Pearl Harbour zu tun.“
Marias Augenbraue wanderte ein bis zwei Zentimeter nach oben. „Natürlich. Das war sicher eine rationale Erklärung für die breite Öffentlichkeit. Sie macht sich gut in den Geschichtsbüchern.“
Kai schüttelte den Kopf. „Ich will ja nicht querschießen, aber verglichen mit Hitler ist dieses Wasser-Ungeheuer doch ein paar Nummern kleiner. Dafür eine Katastrophen-Konferenz einzuberufen wäre dann doch ein wenig überzogen.“
„Wie schon erwähnt, das dürfte nur ein Grund für dieses Treffen sein. Die Sache ist die, dass sich derartige Dinge in letzter Zeit...häufen. Die Magischen sind in puncto Zauberei nicht gerade überempfindlich. Was sie gar nicht mögen ist unkontrollierte Magie. Zumal solche von der dunklen Sorte.“
„Aber es gab doch schon immer solche Dinge wie Ungeheuer oder ...“
„Hexen.“
Kai zuckte zusammen. Ich sollte unbedingt aufpassen, was ich denke.
„Keine Angst, so leicht kannst du mich nicht beleidigen. Es ist nicht zu leugnen, dass wir Hexen zum eher unerwünschten Teil der magischen Welt gehören. Aber wie dem auch sei: Ein Teil von ihr sind wir trotzdem. Beides gehört dazu: Gut und Böse, Dunkel und Hell. Und seien wir mal ehrlich: Hänsel und Gretel ohne Hexe wäre ziemlich langweilig. Die Hauptsache ist, dass beides sich die Waage halten, sich gegenseitig ausgleichen muss. Hexe verwandelt Prinzessin, Prinz rettet Prinzessin und tötet Hexe. Prinzessin bekommt Kind, Drache fordert Kind als Geisel für Brandschutzmaßnahmen. Da gibt es kein Zuviel und kein Zuwenig, sondern nur eine harmonische Balance. Doch diese Balance ist gestört.“
„Was meinst du damit?“
„Hat Viola mit dir schon über die Entwicklung unserer Bevölkerungszahlen gesprochen?“
„Bevölkerungs... Ahja, sie hat da was erwähnt. Irgendwas von wegen weniger Geburten seit soundso viel Jahren.“
„Kai, hier geht es nicht einfach um ein paar geburtenschwache Jahrgänge. Wir sprechen von einer Entwicklung, die den demographischen Wandeln in Deutschland bei Weitem übertrifft. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, gibt es in wenigen Jahrzehnten weder Elfen und Zwerge noch Kobolde oder Feen mehr auf der Erde.“
„Nun, das ist sicherlich bedauerlich.“, meinte Kai beschwichtigend. Allerdings merkt man auch bisher kaum, dass sie da sind.
„Oh, aber ihr Fehlen würdest du bemerken.“ Marias Gesicht wurde todernst. „Es ist nämlich so, dass es diese Entwicklung auf der anderen Seite nicht gibt. Ganz im Gegenteil.“
„Soll heißen?“
„Nur als Beispiel: Ich bin die siebte von dreizehn Schwestern und habe momentan bereits 32 Nichten und Neffen. Und dabei sind drei meiner kleinen Schwestern noch nicht einmal geschlechtsreif.“
„Oh.“, erwiderte Kai abermals. „Ihr müsst eine sehr... fruchtbare Familie sein.“
„Wir sind nicht die einzigen.“ Marias Stimme wurde eindringlich. „Sieh dich um in ganz Deutschland, in Europa, geh nach Amerika oder Asien – Es ist überall das gleiche. Mancherorts bevölkern Hexensippen ganze Stadtteile. Und sie werden übermütig. Immer häufiger machen sie sich nicht mehr die geringste Mühe, ihre Fähigkeiten zu verbergen. Und die Hexen sind nicht die einzigen dunklen Wesen.“
„Und was ist der Grund für diese unterschiedliche Entwicklung?“
Die junge Frau lehnte sich zurück. „Ja, genau das ist die Frage nicht wahr? Und zwar eine, auf die wir schnell eine Antwort finden sollten. Sonst werden Kreaturen wie ich bald die Überhand gewinnen. Und dann wird nicht nur die magische Welt betroffen sein.“
„Kreaturen wie du.“ Kai schob stirnrunzelnd seinen Teller von sich. „Nimm's mir nicht übel Maria, aber besonders bedrohlich wirkst du nicht auf mich. Abgesehen vielleicht von der etwas unberechenbaren Wirkung deiner Tees.“
Für einen Moment erstarrte Marias Gesicht. Ihr Mundwinkel zuckte. „Ja. Ich bin gewissermaßen das schwarze Schaf der Familie. Oder das weiße, wie man's nimmt.“
„Dann stehst du also auf unserer Seite?“
„Ich stehe auf niemandes Seite, außer meiner eigenen. Das ist gesünder für alle Beteiligten.“
„Aber...“
„Kai.“ Maria lächelte, doch es lag etwas Trauriges in diesem Lächeln. Zum ersten Mal seit er sie kannte wirkte sie verletzlich. „Kai, du bist lieb, aber auf deine Weise ziemlich naiv. Du kannst nicht einfach einen Tropfen schwarze Farbe in die weiße hinein mischen und hoffen, dass es nicht auffällt. Das würde alles andere trüben und sei es nur ein wenig. Und das ist es, was wir am wenigsten brauchen können. Lass die Guten für sich kämpfen. Ich gebe mir Mühe, so unschädlich wie möglich zu sein.“
Der sachliche Ton, in dem sie das vorbrachte, raubte Kai den Atem. Er wollte etwas sagen, irgendetwas Tröstliches. In diesem Augenblick knirschte der Kies in der Einfahrt. Einen Augenblick später quietschte die Haustür und Viola rief ihre Namen. Ruhig, als wäre nichts gewesen, schwebte Maria zur Tür hinaus. Kai trottete benommen hinterher. Im Flur stand Viola, eine Einkaufstasche in der Hand und etwas atemlos.
„Ich hoffe, ihr habt euch ausgeruht? Gut. Wir haben noch zehn Stunden. Ich habe hier alles, um nachher Abendessen zu kochen. Ich hoffe, ihr mögt Hühnchen. Was haltet ihr bis dahin von einem Spaziergang.“ All dies sprudelte außerordentlich schnell aus ihr hervor. Sie leuchtete vor Energie bis in die letzte Haarspitze. Nur wer genau hinsah, konnte eine gewisse Nervosität an ihr wahrnehmen.
Während Kai diese Beobachtung durch den Kopf ging, hatte Maria sich schon Violas Poncho übergeworfen. „Lass uns gehen.“, sagte sie ruhig und bestimmt. Viola nickte ihr zu und die beiden tauschten einen Blick, der gegenseitiges Einvernehmen ausdrückte. Dann verließen sie Seite an Seite das Haus, ohne sich noch einmal nach Kai umzusehen.
Warum lasse ich mich auf so etwas nur ein?, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Ich muss vollkommen verrückt sein. Dann folgte er ihnen in den eiskalten Nachmittag hinaus.
 



 
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